Friedensgutachten 2023

„Noch lange kein Frieden“

von Christine Schweitzer
Hintergrund
Hintergrund

Das Friedensgutachten 2023 ist von vielen in der Friedensbewegung mit Spannung erwartet worden – würden die vier Friedensforschungsinstitute bzw. die mit Namen zeichnenden Wissenschaftler*innen aus den Instituten ihre eher regierungsnahe Linie zum Ukraine-Krieg im letzten Gutachten beibehalten oder sie revidieren? Darauf geben sie direkt in ihrer Stellungnahme zu Beginn des Gutachtens und im ersten Kapitel, „Zeitenwende für die Friedenspolitik?“ Antwort.

Um es kurz zusammenzufassen: Die Autor*innen erteilen den Forderungen aus der Friedensbewegung nach sofortigen Friedensverhandlungen und einem Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine eine Absage. Russland sei nicht bereit, von seinen Kriegszielen abzurücken. Und „ohne die militärische Unterstützung der NATO-Staaten würde die Ukraine militärisch unterliegen. Die Erfahrungen mit der russischen Besatzungspraxis in der Ukraine – von Folter, sexueller Gewalt, Verschleppung bis hin zu Tötungen – lassen Schlimmes erwarten. Es ist anzunehmen, dass Russland seine Säuberungspraxis auf die ganze Ukraine ausdehnen und die Ukraine in die russische Föderation zwangsintegrieren würde. Zudem steht zu befürchten, dass der Expansionsdrang Moskaus damit nicht beendet wäre. Die Sicherheitslage in ganz Europa würde sich verschlechtern.“ (S. 6) Verhandlungen seien nötig, denn ein Sieg einer der Parteien sei unwahrscheinlich, aber sollten langfristig vorbereitet werden. In der Zwischenzeit müsse man sich wohl auf einen jahrelangen „Abnutzungskrieg“ als wahrscheinliches Szenario einstellen. Deutschland solle eine „Doppelstrategie“ verfolgen: Die Ukraine „militärisch, politisch und ökonomisch unterstützen und zugleich an der Vorbereitung einer internationalen Vermittlungsinitiative mitwirken.“ (S. 6)

Zeitenwende light
Im ersten Kapitel geht es um den Begriff der „Zeitenwende“. Hier empfehlen die Autor*innen (lediglich), sie „nachhaltig“ zu gestalten, indem der Beschaffungsprozess von Rüstungsgütern auf europäischer Ebene effektiviert werden und „Deutschland sich innerhalb der NATO für ein nachhaltiges Verteidigungskonzept einsetzen“ (S. 22) solle. Sie empfehlen dabei das Konzept der „Confidence-Building Defence“ als möglichen Ansatz. Bei diesem Konzept aus den späten 1980er Jahren ging es darum, „doppeltes Vertrauen (confidence) zu schaffen: einerseits in die eigene Fähigkeit einer überzeugenden, konventionellen Verteidigung; andererseits bei Gegner:innen, dass die NATO-Streitkräfte ausschließlich der Verteidigung dienten und daher nur begrenzt in der Lage waren, gegnerisches Territorium anzugreifen.“ (S. 33). Außerdem sollten u.a. restriktivere Regelungen für Rüstungsexporte (Ausnahme: Ukraine) verfasst und eine „ökologische Zeitenwende“ eingeleitet werden.

Die weiteren fünf Kapitel befassen sich mit Milizen und Militärfirmen in bewaffneten Konflikten, Verwundbarkeit und Resilienz in multiplen Krisen, Rüstungsdynamiken (betitelt: „Rüstungskontrolle und Desinformation“), institutioneller Friedenssicherung mit dem Untertitel „Handel und Frieden – Wie viel Entflechtung verträgt der Frieden?“ und transnationalen Sicherheitsrisiken (politische Polarisierungen). Besonders das Kapitel über Milizen und Militärfirmen bekam kurz nach Erscheinen des Gutachtens besondere Relevanz angesichts des Aufstands der Wagner-Truppen. Ihre beinahe weltweiten Aktionsfelder auch jenseits der Ukraine können in dem Handbuch nachgelesen werden.

Im Schatten des Kriegs in der Ukraine
In dem Friedensgutachten stecken wie immer auch Beobachtungen, Forderungen und Vorschläge, die friedenspolitisch auch für diejenigen interessant sein sollten, die bei der Einschätzung der Verfasser*innen zum Krieg gegen die Ukraine nicht mitgehen wollen. Zum Beispiel, wenn darauf verwiesen wird, dass zivile Hilfe nicht durch militärische Logik bestimmt und sicherheitspolitisch vereinnahmt werden dürfe, dass Rüstungskontrolle fortgesetzt, die Kooperation mit China aufrechterhalten bleiben solle (alles direkt schon auf Seite 4), Kontakte in die russische Gesellschaft nicht unterschiedslos abgebrochen (S. 22), mehr Aufmerksamkeit auf nichtstaatliche Milizen gerichtet (S. 43 ff) und mehr Parteien bei Bemühungen um die Rüstungskontrolle einbezogen werden müssten (S. 86 ff). Im Kapitel zu Handel und Frieden wird eindrücklich davor gewarnt, „nur mit Freunden und Nachbarn“ Handel zu treiben. Frieden brauche internationale Handelsbeziehungen auch zu Staaten, zu denen ein gespanntes Verhältnis besteht. Sonst würde man jene Einflussmöglichkeiten aufgeben, die heute noch bestehen.

Interessant vielleicht auch die Schlussfolgerung der Autor*innen im Abschnitt Rüstungskontrolle:

„Die gegenwärtige Zuspitzung politischer Konflikte reduziert die Chancen rüstungskontrollpolitischer Kooperation. Der Verlust an Vertrauen lässt bestehende Regime erodieren und neue Initiativen schon im Ansatz scheitern. Aber es gibt auch Hoffnung, denn der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass basale Kooperation notwendig ist, um das Schlimmste zu verhindern: einen Großmachtkonflikt, den Einsatz von Nuklearwaffen oder die ungezügelte Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Angesichts des Ausfalls von Russland als verlässlicher Partner muss sich die Rüstungskontrollpolitik breiter aufstellen: Sie muss verstärkt andere Staaten wie China, Indien oder Brasilien einbinden, die bislang nicht im Zentrum der Rüstungskontrollpolitik standen, um zentrale Normen wie das nukleare Tabu oder das Chemiewaffenverbot zu stärken; sie muss in der gegenwärtigen Krise den Fokus von „harten“ Abrüstungsfragen hin zu „weichen“ Formen der Rüstungskontrolle verschieben, um Krisenstabilität, die Sicherheit von Kommando und Kontrollstrukturen sowie Krisenkommunikation zu gewährleisten; und sie muss frühzeitig in die sicherheits und verteidigungspolitische Planung einbezogen werden, um Ansatzpunkte für zukünftige Kooperation zu bieten.“ (S. 100)

Bewertung
Das Friedensgutachten ist geprägt durch seine Unterstützung der deutschen / westlichen Regierungspolitik im russischen Krieg gegen die Ukraine. Zwar gehen die Verfasser*innen davon aus, dass der Krieg letztlich durch Verhandlungen beendet werde dürfte und weichen damit von der im politischen Raum öfters zu hörenden Meinung ab, der Ukraine müsse zum Sieg gegen Russland verholfen werden. Aber noch sei nicht Zeit für solche Verhandlungen, da Russland nicht bereit sei, von seinen Zielen abzurücken. Verhandlungen müssten deshalb langfristig vorbereitet werden, wobei diese Feststellung eher vage bleibt und nicht konkret beschrieben wird, was eine solche Vorbereitung denn brauche, wer die Initiative ergreifen und wer einbezogen werden könnte. Die Bemühungen von Staaten des globalen Südens, die heute Möglichkeiten von Verhandlungen sondieren, werden nicht angesprochen.

Die Waffenlieferungen an die Ukraine werden pauschal befürwortet. Die Möglichkeit von Zwischenpositionen zwischen „alles weiter wie bisher“ und „sofortiger Stopp“ geht damit ungenutzt verloren, obwohl es gerade hier vielleicht Möglichkeiten für Vorschläge gegeben hätte, z.B. dem Verzicht auf Offensivwaffen, gegeben hätte, deren Nichtlieferung nicht zu einer Kapitulation der Ukraine, aber zur Stärkung ihrer Bereitschaft, sich ihrerseits auf Verhandlungen einzulassen, führen könnte. Damit hinterlässt es große Fragezeichen, insbesondere auch in Bezug auf mögliche Eskalationsgefahren. Die Gefahr einer Eskalation zu einem Atomkrieg wird von den Autor*innen des Friedensgutachtens nicht kleingeredet, aber resümiert: „Bislang ist es den USA und den übrigen NATO-Staaten allerdings gelungen, mit einer konsequenten Delegitimierung eines Nuklearwaffeneinsatzes im Ukrainekrieg das Eskalationsrisiko gering zu halten.“ (S. 89) Wenn man das Gutachten mit der neuesten Ausgabe des Bulletin of Atomic Scientists vom Januar 2023 und deren Begründung zur Vorstellung der „Doomsday Clock“ auf 90 Sekunden vor Mitternacht vergleicht (siehe https://thebulletin.org/doomsday-clock/), dann werden die Unterschiede deutlich. Dort wird die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes als wesentlich höher eingeschätzt.

BICC Bonn International Centre for Conflict Studies; HSFK Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung; IFSH Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und INEF Institut für Entwicklung und Frieden (2023): Friedensgutachten 2023: Noch lange kein Frieden, transcript-Verlag Bielefeld, A-4-Format, 145 S., ISBN: 978-3-8376-6801-8, 15,00 €. Aus dem Netz kann es beim Verlag frei heruntergeladen werden.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.