Bonhoeffers Frage

Ohne Waffen gegen den Faschismus

von Theodor Ebert
Dreißig Jahre hing über meinem Schreibtisch am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin ein Foto Albert Luthulis. Ein Satz des Friedensnobelpreisträgers von 1961 war zum Motto meiner Arbeit als Friedensforscher geworden: "Die Waffen unserer Gegner sollen verrosten, weil wir ihnen keine Möglichkeit geben, sie zu gebrauchen. Lasst uns beweisen, dass Gewaltfreiheit die höchste Form der Tapferkeit ist!" Andererseits musste ich Mao zustimmen: "Macht kommt aus Gewehrläufen." Die Frage war, ob sie allein aus Gewehrläufen kommt oder ob es andere, gewaltfreie Machtmittel gibt, die sich auf kurz oder lang als die stärkeren erweisen.

Diese Frage ist durch Gandhi in die Welt gekommen. Sie lag in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bereits in der Luft, auch wenn sich die Rüstungswirtschaften auf eine erneute militärische Konfrontation einstellten. Die deutsche Friedensbewegung hat in den 80er Jahren daran erinnert, dass Dietrich Bonhoeffer während einer Ökumenischen Versammlung auf der Insel Fanö am 28. August 1934 ein Friedenskonzil der Kirchen der Welt vorgeschlagen und gefragt hat: "Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk - statt mit der Waffe in der Hand - betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffe den Angreifer empfinge?"(1)

60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten wir erneut mit Bonhoeffer fragen: Was hätte es bedeutet, wenn der faschistischen Expansion konsequent und ausschließlich mit gewaltfreiem Widerstand begegnet worden wäre? In den 30er Jahren fehlten zwar das entsprechende Bewusstsein und die Kenntnisse auf dem Gebiet des gewaltfreien Widerstands, aber es ist dennoch sinnvoll, solche Wenn-Fragen an die Geschichte zu stellen. Wir müssen damit rechnen, dass in vergleichbaren Situationen auch in Zukunft wieder zu den Waffen gegriffen wird, obwohl inzwischen die Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem Gebiet des gewaltfreien Widerstands ähnlich stark gewachsen sind wie die Vernichtungskraft der Waffen zugenommen hat.

Wir werden dieser Tage nicht nur an die militärische Befreiung durch die Alliierten, sondern z.B. im Blick auf Dresden auch an die enormen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und an Millionen von Toten erinnert. Der Sieg über den Faschismus war teuer erkauft und da darf, da muss man sogar in Erinnerung an Gandhis Artikel vom Juni 1940 "Wie der Hitlerismus zu bekämpfen ist" fragen, ob gewaltfreier Widerstand nicht innerhalb von Jahrzehnten zu einem nachhaltigen Erfolg und zu einer dauerhaften Überwindung des Militarismus geführt hätte und wir heute ohne die Bedrohung durch einen Atomkrieg leben könnten.

Die Propagandalüge vom "Zurückschießen"
Die Mehrheit der Deutschen war im Jahre 1939 nicht von dem brennenden Wunsche erfüllt, Europa zu besetzen und Russland zu kolonisieren. Hitler hielt es für erforderlich, zur Legitimation seines Angriffs auf Polen den angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz und zwei weitere Zwischenfälle von deutschen SS-Leuten in polnischen Uniformen inszenieren zu lassen, um dann behaupten zu können, seit dem Morgen des 1. September 1939 würde nun "zurückgeschossen". Das haben viele Deutsche geglaubt, weil sie über keine anderen Informationsmöglichkeiten als über die von Goebbels gesteuerten Medien verfügten.

Was wäre gewesen, wenn die angeblich "zurückschießenden" deutschen Soldaten nicht auf einen - wie man so sagt - heldenhaften, aber doch ganz unzulänglichen militärischen Widerstand der Polen, sondern auf ein betendes, gewaltlosen Widerstand leistendes Volk gestoßen wären? Wir dürfen nicht annehmen, dass die Gebete und die Argumente der Polen die deutschen Aggressoren sofort in wunderbarer Weise überzeugt hätten. Ich gehe bei meinen Überlegungen von den damals real existierenden nationalsozialistischen Verhaltensweisen aus und nehme nur bei den Polen fiktiv die von Bonhoeffer ins Auge gefasste christliche Verhaltensweise an. Unter dieser Voraussetzung hätte man durchaus mit nationalsozialistischen Unterdrückungsaktionen brutaler Art rechnen müssen. Meine Schlussfolgerung aus dem Studium Hitlerscher Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg(2) ist, dass sie vor keiner Unterdrückungsmethode zurückschreckte, ihr jedoch der gewaltlose Widerstand die größten Probleme bereitete und sie am effektivsten hinderte, ihre Politik durchzusetzen.

Zu gröhlen "Und heute (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt" ist einfach. Doch wären die Deutschen nach einem gewonnenen Krieg oder kampflosem Einrücken nicht innerhalb von Jahrzehnten als Besatzer gescheitert? Mit ein paar Millionen Deutschen, welche die Nationalsozialisten eventuell aus dem Reich hätten abziehen können, wäre nicht einmal in Europa, geschweige denn in Übersee ein einigermaßen funktionierendes faschistisches Herrschaftssystem aufzubauen gewesen. Ob die Fremdherrschaft relativ milde ist oder brutal: Widerstand provoziert sie immer. Das zeigt der Vergleich der dänischen und der polnischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.

Von den Grenzen totalitärer Herrschaft
Wenn man die Grenzen der Machbarkeit totalitärer Herrschaft kennen lernen möchte, dann hat das Experiment nationalsozialistischer Herrschaft in Polen den Vorzug, dass die Nazis hier im Blick auf die Fähigkeit zu skrupelloser Unterdrückung kaum Überbietbares aufzuweisen haben. Dort sind sie ganz besonders rücksichtslos verfahren und dort hatten sie auch fünf Jahre Zeit, ihre Herrschaft zu festigen. Man kann darum wohl die These formulieren: Wenn es zwischen 1939 und 1944 in Polen nicht gelungen ist, Fremdherrschaft trotz Widerstand zu befestigen, dann ist es wahrscheinlich - zumindest mittels Brutalität - überhaupt nicht möglich.

Der historische Befund ist ausreichend geklärt. Nach der militärischen Niederlage hat der polnische Widerstand, der sich neben gewaltloser auch bewaffneter Formen bediente, zwar große Opfer gefordert, aber er hat die nationalsozialistische Wahnvorstellung widerlegt, dass die germanischen Herrenmenschen sich mit ihrem Willen zur Macht gegenüber diesen slawischen Untermenschen durchsetzen könnten. Ich verweise auf die Forschungen von Wolfgang Jacobmeyer, der sich bei seinem Urteil nicht nur auf die Selbsteinschätzung des polnischen Widerstands, sondern gerade auf die Stimmen der Unterdrücker beruft, die ihr Scheitern sicher ungern eingestanden haben. In einem Aufsatz über "Widerstand und nationale Selbstbehauptung gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in Polen" schreibt er: "Das vielleicht schlüssigste Urteil über die deutsche Besatzungspolitik in Polen als die eigentliche Urheberin des Widerstands liegt im Bereich des SS-Sturmbannführers Dr. Strickner aus dem Reichssicherheitshauptamt im Oktober 1944 vor. Dort heißt es, es hätten Aussiedlungen, wirtschaftlicher Raubbau, Zwangsarbeiter- und Ernährungspolitik zu einem solchen Anwachsen der Tätigkeit und Macht der Widerstandsbewegung geführt, "dass praktisch von einem Staat im Staate gesprochen werden kann. Die infolge des Menschenmangels unzureichenden deutschen Bekämpfungsmaßnahmen unterstützten die Widerstandsfähigkeit besonders stark!"(3)

Nun könnte man behaupten: Wenn die Nationalsozialisten den Krieg bzw. die anderen Länder Europas hätten kampflos besetzen können, dann hätten sie ihr Personal auf die Unterdrückung des Widerstands konzentrieren können. Aber wie hätten sie die riesigen Territorien überhaupt besetzen sollen? Einige besonders brutale Unterdrückungs- und Vernichtungsmethoden sind - aufgrund der vorliegenden Erfahrungen - nur unter Kriegsbedingungen vorstellbar. Es hat in Deutschland auch vor Kriegsausbruch bereits Konzentrationslager und politische Morde in alarmierender Zahl gegeben; doch die eigentlichen Vernichtungslager wurden erst während des Krieges errichtet. Sie fanden in Deutschland wenig Beachtung, weil sich die Aufmerksamkeit auf das Geschehen an den militärischen Fronten konzentrierte. Wenn hingegen in einem diktatorisch regierten Land keine militärischen Kämpfe stattfinden, richtet sich die Aufmerksamkeit im In- und Ausland unweigerlich auf die Existenz von Vernichtungslagern.

Frühere Eroberer großer Territorien wie Alexander und Napoleon haben in die gesellschaftlichen Strukturen der eroberten Länder kaum eingegriffen und haben sich damit begnügt, in autoritär ausgerichteten Gesellschaften die Spitzenpositionen mit ihrem Personal zu besetzen. Ein solch zurückhaltendes Vorgehen entsprach nicht der faschistischen Ideologie und es hätte in Ländern mit demokratischen Strukturen oder revolutionären Erfahrungen wie Russland auch nicht funktioniert. Deutsche Herrschaft nach dem polnischen Modell zu errichten, wäre zu aufwendig gewesen, und sich auf die Beeinflussung von einheimischen Faschisten in den besetzten Gebieten zu beschränken, wäre wahrscheinlich am sich verstärkendem Widerstand gleichfalls gescheitert.

Wenn man Bonhoeffers Idee der unbewaffneten Reaktion auf einen Eroberer zu Ende denkt, darf man annehmen, dass die nationalsozialistische Herrschaft nach wenigen Jahrzehnten zerbrochen wäre und die Deutschen und andere europäische Völker sich von der faschistischen Herrschaft aus eigener Kraft und ohne Waffen befreit hätten. Es kann sein, dass dieser Befreiungskampf vielen tausend Widerstandskämpfern das Leben gekostet hätte, aber mit Sicherheit wären nicht ganze Städte und Millionen von Männern, Frauen und Kindern vernichtet worden.

Die Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzungsherrschaft hätte sich bei waffenlosem Widerstand vielleicht über Jahrzehnte hingezogen, vielleicht wäre die deutsche Herrschaft aber auch viel schneller in eine Krise geraten. Die natürliche Sterblichkeit der "Führer" und sich daraus ergebende Nachfolgekrisen sind ein Problem jeder Diktatur. Doch wenn der Wi-derstand schließlich Erfolg gehabt hätte, dann hätte es auch keinen Grund gegeben, diese Staaten, die sich gewaltlos selbst befreit hätten, militärisch aufzurüsten, und man würde es ihnen heute glauben, dass sie auch in Zukunft allen Versuchen, diktatorische Herrschaft auszuüben, sofort Widerstand leisten würden. Welch eine Errungenschaft wäre es, wenn es heute Staaten gäbe, die aus innerer Stärke keine Waffen wollten, insbesondere aber Atomwaffen als etwas politisch völlig Nutzloses erachten würden! Das war das Indien, von dem Gandhi träumte und für das er auch noch Jahrzehnte mit gewaltfreien Mitteln weitergekämpft hätte.

Die Zahl der indischen Satyagrahis war zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Indiens und der Teilung des englischen Kolonialreichs in Indien und Pakistan gering. Sie reichte jedenfalls nicht aus, um sofort Regierungsverantwortung zu übernehmen und Politik mit gewaltfreien Mitteln zu betreiben. Von Nehru und anderen Politikern der Kongress-Partei hat man dies erwartet, aber diese haben nichts unternommen, um gemäß einer Empfehlung Gandhis den Aufbau einer Shanti Sena, einer nonviolent task force, aus Satyagrahis zu fördern. Es gibt in Deutschland einen Zivilen Friedensdienst, gewissermaßen das Pendant zu Gandhis Shanti Sena. Quizfrage: Wieviele Mitglieder hat er und wie viele Milliarden Euro werden in seinen Aufbau investiert?

Anmerkungen

 
    1 Kirche und Völkerwelt. In: Dietrich Bonhoeffer: Predigten - Auslegungen - Meditationen. I. 1925-1935, München 1984, S. 461-464
 
 
    2 Einen vorzüglichen Überblick bietet Werner Rings: Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939-1945, München: Kindler, 1979. Zum Widerstand in den besetzten Gebieten siehe Jacques Semelin: Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Aus dem Französischen von Ralf Vandamme, Frankfurt a. M.: dipa Verlag, 1995
 
 
    3 W. Jacobmeyer: Widerstand und nationale Selbstbehauptung gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in Polen. In: Gewaltfreie Aktion, 71/72, 1987, S. 60

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Theodor Ebert, geb. 1937 in Stuttgart, war bis 2002 Friedensforscher an der Freien Universität Berlin. Er ist Autor von „Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg“ (1968) und „Ziviler Friedensdienst. Alternative zum Militär“ (Münster 1997).