Was für einen Sozialismus braucht das Volk?

von Fjodor Burlazki

Die Überwindung des Stalinismus als Schritt zur Schaffung eines modernen Sozialismus in der Sowjetunion ist das Thema des sowjetischen Publizisten Fjodor Burlatzki. Wir übernehmen den Beitrag gekürzt aus der "Literaturnaja Gaseta.

 

Die Form des "Staatssozialismus" überlebt sich gegenwärtig selbst, sie zeigt unter den Verhältnissen der technologischen Revolution ihre Ineffektivität. In extremen Situationen, ganz besonders während des Bürgerkrieges und des Vaterländischen Krieges, spielten Überzentralisierung und staatlicher Zwang ihre Rolle bei der Mobilisierung der Ressourcen und der Konzentration der Anstrengungen. Jetzt aber behindert diese Form das Vorankommen in allen Richtungen des ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens. Sie muß nun - allmählich, planmäßig, wohlüberlegt - zu einer neuen Form abgewandelt werden, die man bedingt einen "auf Selbstverwaltung beruhenden Volkssozialismus" nennen könnte.( ... )
Das bedeutet natürlich nicht, daß die zentralisierte staatliche Leitung verschwinden soll. Der vollständige "Abbau" des Staates ist eine absurde Idee, erst recht angesichts der immer komplizierter werdenden inneren und internationalen Wirtschafts-, Informations- und humanitären Verbindungen. Das bedeutet aber, daß der Staat einen bedeutenden Teil seiner Macht, seiner Funktionen, seiner Vollmachten und Prärogativen an die Zivilgesellschaft und ihre Institute abtreten muß. In erster- Linie an die Arbeitskollektive der Werke, Fabriken und Genossenschaften, an die Künstlerverbände sowie gesellschaftliche Organisationen und anderen neue soziale Institute, die im Zuge der Umgestaltung ganz sicher entstehen werden. Die Gesellschaft muß vieles von dem übernehmen, was früher der Staat getragen hat, der außer Atem geriet unter der Last der komplizierten Aufgaben und des Bürokratismus.( ... )
Michail Gorbatschow bemerkte einmal, der Sozialismus sei eine Gesellschaft aus Menschen mit Initiative.
Das härteste Urteil verdient der "Staatssozialismus" gerade dafür, daß er die Initiative der Werktätigen gefesselt hat. Zunächst wurde die persönliche Initiative der Initiative des Kollektivs unterworfen, dann die Initiative des Kollektivs der Initiative des Verwaltungsapparats, und schließlich wurde auch der Initiative der Beamten dieses Apparats selbst Fesseln angelegt. In Form einer Pyramide gestaltet, konzentrierte dieser Apparat die Initiative zunehmend auf den höchsten Ebenen der Macht und in der Endkonsequenz in den Händen eines allein herrschenden Führers. Die Situationen sah so aus: was für eine Frage ei¬ner auch immer aufwerfen, mit was für einer Initative er auch immer hervortreten mochte, er stieß unbedingt auf zahlreiche Hindernisse von Verordnungen, Instruktionen und Traditionen. Daher rührt auch der bittere Scherz: Jede Initiative ist strafbar. Wer weiß das nicht aus eigenem Erleben. Strukturelle Wandlungen setzen jetzt eine solche Form des Sozialismus voraus, bei der Initiative nicht bestraft, sondern gefördert wird. Man spreche einfach mit den Menschen: was wird man da zu hören bekommen? Erlöst uns von der Bevormundung, laßt uns selbstständig arbeiten! ( ... )
Denken muß man mit dem eigenen Kopf - diesen Leninschen Appell hätte man wenigstens an die Wände aller Forschungseinrichtungen und aller Parteizentralen schreiben sollen. Die technologische Revolution, der demographische Boom, die gespannte ökologische Situation, die nukleare Bedrohung stellen den heutigen Kommunisten völlig neue und überaus kopfzerbrechende Aufgaben. Wenn nun ein kühner, weiser, talentierter politischer Denker sie lösen will, können nur die schlimmsten Dogmatiker nach ihm Steine werfen, denen die Ausmaße der Wandlungen Furcht einflößen und die nicht imstande sind, diese Wandlungen in ihrem eigenen Bewußtsein unterzubringen.
Ich will nochmals unterstreichen: die wichtigste theoretische und politische Aufgabe besteht darin, zu Lenin, zu Marx, zum Ursprung des Sozialismus zurückzukehren. Das Erbe bewahren bedeutet aber, wie Lenin zu wiederholen pflegte, nicht, sich auf das Erbe zu beschränken.( ... )
Wie ist nun das qualitativ neue Modell eines effektiven, demokratischen, humanen Sozialismus beschaffen? Vorerst sind seine Umrisse nur in einigen Aspekten sichtbar. Es geht um eine warenproduzierende Planwirtschaft, beruhend auf der wirtschaftlichen Rechnungsführung und einer Vielfalt der gesellschaftlichen Eigentumsformen - die Hebung des Staatseigentums auf das Niveau des Volkseigentums, Entwicklung der Genossenschafts-, Familien- und individuellen Eigentumsformen. Das ist wirtschaftlicher Wettbewerb (sozialistische Konkurrenz). Das ist die Entwicklung der Zivilgesellschaft, in der der Staat der Gesellschaft untergeordnet ist. Das ist die Herausbildung dessen, was Engels als allgemeine Produzentenvereinigung bezeichnete. Das ist eine Einteilung der Gewalt, der Vollmachten und Funktionen zwischen den Partei-, Staats- und Gesellschaftsorganistionen. Es ist die Überwindung zumindest der schlimmsten Formen der Bürokratie und der Aufbau der staatlichen Verwaltung. nach dem Prinzip "lieber weniger, aber besser". Dazu gehören die Entwicklung der Selbstverwaltung, die Bildung der öffentlichen Meinung als Faktor des politischen Prozesses, die Wählbarkeit, die Rotation der Kader und die Professionalität. Weiter ist das der Wettbewerb der Kulturrichtungen, die Erziehung der sozialistischen Persönlichkeit, Überwindung des Erbes der autoritär-patriarchalischen Kultur und die Bildung einer sozialistischen Kultur. Alle diese Wandlungen sind auf die Stärkung des Sozialismus gerichtet, auf das Ansehen der Kommunistischen Partei und der Volksmacht.
Es ist augenscheinlich, daß die Entwicklung des modernen Sozialismus längere Zeit - mehrere Jahrzehnte - in Anspruch nehmen wird. Wenn sie jedoch nicht verhindert wird, dann werden es Jahrzehnte elanvoller Arbeit des ganzen Volkes zum Wohle unserer Heimat und jedes Sowjetbürgers sein.

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