FF6/08 Friedensarbeit in der ehem. UdSSR



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 Krisen und Kriege

Südossetien: Friedensarbeit in der früheren UdSSR

"Beide Seiten hatten sich wochenlang auf Krieg vorbereitet"

Bernhard Clasen

Zehn Tage hielt sich eine kleine Gruppe Aktivisten der russischen Menschenrechtsgruppen "Memorial" und "Demos" Mitte Oktober in Georgien auf. Bereits einen Monat zuvor war eine Delegation von "Memorial" und "Human Rights Watch" von Moskau nach Südossetien gereist. Mit ihren Reisen wollten sich die Menschenrechtler ein unabhängiges Bild von der tatsächlichen Lage vor Ort machen. Dabei wurden die BewohnerInnen mehrerer Dörfer ebenso befragt, wie Militärs, Beamte, Ärzte und Flüchtlinge. Das Bild, das sich den Menschenrechtlern vor Ort zeigte, widersprach in einigen Punkten den propagandistisch gefärbten Berichten vieler Medien.

Als sich bewaffnete Osseten dem Haus des Georgiers Durmeschchan Sekturaschwili in der Absicht nähern, dieses in Brand zu stecken, stellen sich ossetische Frauen aus dem Nachbardorf schützend vor das Haus ihres langjährigen georgischen Nachbarn - und so lebt der Georgier Sekturaschwili immer noch in seinem Haus in dem georgischen Dorf Awnewi in Südossetien, das seine Familie Generationen bewohnte. Seine Frau Zalina, die kurz vor dem Überfall auf das Dorf geflohen war, ist wieder bei ihm. Von diesem Vorfall berichtet Swetlana Gannuschkina, Vorstands-Mitglied von "Memorial", nach ihrem Besuch in Südossetien im Oktober 2008. Und Gannuschkina berichtet von einem weiteren Dorf unweit der Waffenstillstandslinie zwischen Südossetien und Georgien, in dem Osseten und Georgier seit Generationen weitgehend abgeschirmt von der Außenwelt friedlich zusammenleben. Wurde das Dorf von Osseten bedroht, hatten sich die ossetischen Einwohner schützend vor ihre georgischen Nachbarn gestellt. Wenn das Dorf von Georgiern bedroht worden war, hatten sich die georgischen Dorfbewohner schützend vor ihre ossetischen Nachbarn gestellt.

Beide Seiten, so kommen die Menschenrechtler nach ihren Aufenthalten in Georgien und Südossetien zu dem Schluss, hatten sich Wochen vor Kriegsbeginn auf diesen vorbereitet. Auch sei bereits vor dem 8. August geschossen worden. Mehrere Einwohner Südossetiens hatten den Menschenrechtsaktivisten berichtet, dass bereits am 6. August, also zwei Tage vor dem bekannten Kriegsbeginn, zahlreiche Verletzte mit Schussverletzungen in das örtliche Krankenhaus eingeliefert worden seien.

Nach dem Ende der Kampfhandlungen seien mehrere georgische Dörfer in Südossetien, aber auch in der sog. "Schutzzone", geplündert und in Brand gesteckt worden, berichtet Oleg Orlow von "Memorial". Allerdings sei diese Zerstörung noch nicht mit der Zerstörung, die man in Zchinwali, der Hauptstadt von Süd-Ossetien, gesehen habe, vergleichbar, wird Orlow von dem Internet-Portal "Kavkaskij Uzel" zitiert.

Den Menschenrechtlern sind mehrere Fälle von Geiselnahmen bekannt. Beide Seiten hätten Geiseln genommen und für deren Freilassung ein Lösegeld gefordert.

"Memorial" fällt es schwer, eine Zahl der in diesem Krieg Getöteten zu nennen. Die immer wieder in der russischen Presse genannten vierstelligen Zahlen hält man jedoch nicht für realistisch. Auf jeden Fall aber seien für das kleine Volk Südossetiens die Verluste sehr hoch, so Alexander Tscherkassow von "Memorial". Die Menschenrechtler begrüßten, dass eine "Gesellschaftliche Untersuchungskommission" jüngst eine Liste von 311 Toten dieses Krieges im Kaukasus im Internet veröffentlicht habe. Dies sei eine wichtige Initiative, die mit dazu beitrage, Klarheit über die tatsächliche Zahl der Toten zu bekommen. Die meisten Zivilisten seien ums Leben gekommen, als sie ihre Keller verlassen hatten, um Wasser zu holen oder bei dem Versuch, die Stadt zu verlassen.

Die russische und georgische Seite fordert "Memorial" auf, Angaben zu machen, welche Waffen eingesetzt worden seien. Dies würde die Suche nach zu entschärfender Munition einfacher machen. Von der ossetischen Seite fordern die Menschenrechtler, die georgischen Dörfer zu schützen und die Sicherheit der dort lebenden Menschen zu garantieren.

Beide Seiten, so die Menschenrechtler, hätten in diesem Konflikt die Normen des humanitären Rechtes verletzt. Offensichtlich seien mehrere Kriegsverbrechen begangen worden.

Die 1988 von Andrej Sacharow in Russland gegründete Menschenrechtsorganisation widmete sich zunächst der Aufarbeitung der politischen Gewaltherrschaft der Sowjetzeit. Doch schon bald wurde den Mitgliedern von "Memorial" deutlich, dass man bei der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit nicht stehen bleiben könne. In der Folge konzentrierte sich "Memorial" nicht nur auf Menschenrechtsverletzungen im Russland von heute, man begann nun, die Konflikte der postsowjetischen Staaten zu beobachten, in diesen zu vermitteln, den Opfern zu helfen und die Öffentlichkeit mit Informationen aus erster Hand zu versorgen.

Seit dem Zusammenbruch der UdSSR gab es auf deren Territorium acht Kriege: in Tadschikistan, Moldawien, Georgien (Abchasien, Ossetien 1992 und 2008), Nagornij Karabach und Tschetschenien (1994 und 1999), die meisten dieser Kriege waren im Kaukasus.

"Memorial" entsandte an all diese Konfliktgebiete BeobachterInnen auf beide Seiten der Front, bezog mit seiner Beobachtung, Dokumentation und Präsenz vor Ort Position: für die Opfer dieser neuen Kriege. 1992 besuchten "Memorial"-VertreterInnen, unter ihnen auch Swetlana Gannuschkina, das Gebiet des Krieges um Nagornij Karabach. Man vermittelte zwischen den Konfliktparteien, setzte sich für Kriegsgefangene und Geiseln ein und organisierte Treffen von armenischer und aserbaidschanischer Zivilgesellschaft.

1999, kurz nach Beginn des Tschetschenien-Krieges reisten Sergej Kowaljow, Oleg Orlow und weitere Mitglieder der Organisation nach Tschetschenien. Dort versuchten sie zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, dokumentierten Menschenrechtsverletzungen beider Seiten und brachten mit ihren Veröffentlichungen ein unabhängiges Bild der Lage in dem Konfliktgebiet an die Weltöffentlichkeit.

Gleichzeitig gehörte "Memorial" zu den Organisationen, die die Anti-Kriegs-Bewegung in den russischen Metropolen mittrugen.

Seit mehreren Jahren organisiert "Memorial" das Netzwerk "Migration und Recht". Dieses Netzwerk von 54 russlandweit tätigen Beratungsstellen berät und hilft Migranten, Flüchtlingen, Kriegsopfern, Opfern rechter Gewalt und Vertriebenen. Das von Swetlana Gannuschkina geleitete Netzwerk arbeitet eng mit dem UNHCR, Amnesty International und weiteren Menschenrechtsorganisationen zusammen.



PartnerInnenschaft für Frieden und Menschenrechte

Der Krieg um Südossetien hat gezeigt, wie wenig wir uns in der westeuropäischen Friedensbewegung bisher mit den Konflikten in der früheren Sowjetunion beschäftigt haben. Häufig fehlt uns das Know How, um in derartigen Situationen effektiv reagieren zu können. Was liegt da näher, als den Kontakt zu den Kräften in der früheren Sowjetunion zu suchen, die hier einen Schritt weiter sind.

Es gibt einige Beispiele, die zeigen, wie effektiv eine Zusammenarbeit von Aktivisten in Ost- und Westeuropa sein kann. So haben die Anti-AKW-Initiativen aus dem Münsterland in Zusammenarbeit mit der russischen Anti-AKW-Bewegung ein Bewusstsein für die Atomtransporte von Deutschland nach Russland schaffen können. Weil AKW-Gegner aus Russland und Deutschland gemeinsam kämpften, wird ab 2009 kein giftiges Uranhexafluorid nach Sibirien gebracht.

Immer wieder setzte sich "Migration und Recht" bei den deutschen Behörden gegen die Abschiebung von Flüchtlingen nach Russland ein. Dabei kam es zu einer Zusammenarbeit mit deutschen Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten. Manche Abschiebung konnte so durch diese effektive Zusammenarbeit verhindert werden.

Bernhard Clasen ist Autor, Übersetzer und Dolmetscher für Russisch. Er hält sich jedes Jahr mehrmals in der früheren Sowjetunion auf. Veröffentlichungen u.a. in "taz", "Publik-Forum", "Neues Deutschland" und "FriedensForum".







Zu den Photos:

Bitte gebt bei diesen Photos als Quelle an:

c Julia Chardina / Memorial

Sie wurden alle von Julia Chardina im September und Oktober 2008 in Süd-Ossetien aufgenommen.



E-Mail: bernhard (at) clasen (Punkt) net

Website: www.clasen.net/ff
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