Komitee für Grundrechte
und Demokratie



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INFORMATIONEN - Rundbriefe 2002

 Informationen 5/2002 - 23. Sept.

Forderung der Komitee-Jahrestagung zur Humangenetik:

Theo Christiansen

Unterbrechung von Forschung und Anwendung, um einen demokratischen gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen!

Am Wochenende vom 13.-15. September 2002 fand in der Ev. Akademie Arnoldshain die diesjährige Jahrestagung des Komitees statt. Ihr Thema:
"Humangenetik - Faszination und Furcht einer neuen Technologie - Menschen-rechtlich-demokratische Erfordernisse".

Diese etwas sperrige Formulierung bringt die Komplexität zumindest des Anliegens dieser Tagung zum Ausdruck, dennes ging um drei in- und miteinander eng verbundene Aspekte. Zum ersten um die Information über den gegenwärtigen Stand humangenetischer Entwicklungen und Anwendungen, zum anderen um die dieser Entwicklung innewohnende Ambivalenz und schließlich um die menschenrechtliche Bedeutung, die beidem zukommt. Ziel dieser Tagung war es, für das Komitee einen gleichermaßen fundierten wie geeigneten Weg ausfindig zu machen, auf dem ein menschenrechtlich-demokratisches Engagement in diesem wichtigen Bereich basieren könnte.

Durch Beiträge der eingeladenen ReferentInnen, aber auch mit dem z.T. großen Fachwissen und den politischen Erfahrungen der TeilnehmerInnen gelang es, das anspruchsvolle Vorhaben auf den Weg zu bringen.

Sigrid Graumann (Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft) gab einen ausführlichen Überblick über den gegenwärtigen Stand humangenetischer Entwicklungen. In ihrem Überblick über das weite Feld der Forschungen und Anwendungen, in dem neben unbezweifelbarem und ethisch unproblematischem Nutzen weitgehend unerfüllte Versprechungen (z.B. das Humangenomprojekt betreffend) stehen, markierte sie insbesondere die Punkte, an denen, oft unmerklich, der Sprung von diagnostischem odertherapeutischem Einsatz humangenetischer Erkenntnisse und Methoden zu einem Übergriff auf elementare Freiheitsrechte stattfindet. An diesen Punkten konstituieren sich Paradigmenwechsel, die als solche öffentlich selten benannt und noch weniger debattiert werden. Besonders deutlich wird das an der Präimplantationsdiagnostik (PID) oder sogar an der Pränataldiagnostik (PND). Standen einst die vorgeburtlichen Untersuchungen unzweideutig unter dem Vorzeichen des Wohls der Mutter,so werde heute in der Vorsorge über die PND zumindest auch auf die Verhinderung behinderten Lebens fokussiert. Ungefragt werden Frauen in Entscheidungskonflikte gestürzt, deren Rahmenbedingungen sich beständig durch die Möglichkeit der Selektion behinderten Lebens und dessen gesellschaftlicher Akzeptanz verschieben. Dieses wird besonders durch die PID gefördert, in der es letztlich nur noch um pure Selektion geht.

Margaretha Kurmann
(Arbeitsstelle Pränataldiagnostik / Reproduktionsmedizin) unterstrich diese Einschätzungen durch ihre Erfahrungen in der Beratungsarbeit. Es gäbe mittlerweile eine individuelle Alltagseugenik, die wie selbstverständlich darauf basiere, dass Kinder bspw. mit dem Krankheitsbild Trisomie 21 (Downsyndrom) nicht leben sollen. Leid verhindern heiße konkret immer häufiger, Leidende zu verhindern. Frauen würden dabei in Entscheidungssituationen gedrängt, die sie objektiv völlig überfordern, weil sie auf gesellschaftlich unbeantwortete Fragen konkrete individuelle Antworten geben müssten.

Einen anderen Zugang zum Thema skizzierte
Gottfried Orth (Seminar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Braunschweig). Ausgehend von einer Interpretation des biblischen Bilderverbots, das die Verdinglichung des Göttlichen und des Menschlichen thematisiert, kennzeichnete Orth die Punkte, an denen der Humangenetik fundamentale Gefahren für eine an den Menschenrechten orientierte Gesellschaft innewohnen. So ist z.B. die Fokussierung auf die Frage, an welchem Punkt denn nun wirklich Leben beginne (also von der Zeugung bis zu einem Zeitpunkt noch nach der Geburt) grundsätzlich irreführend, weil die Definition dieses Zeitpunkts ethische Grundentscheidungen voraussetze, von deren Diskussion man sich mit der Definition des Zeitpunkts zu dispensieren glaube. Vermieden werde dadurch die Diskussion um die Biologisierung des Begriffs vom Leben, des Verständnisses dessen, was Unversehrtheit, was Gesundheit etc. auch und gerade angesichts der Erkenntnisse der Humangenetik bedeute. Orth begründete seine Einschätzung, derzufolge Menschen, von denen man sich schon vor ihrer Geburt ein Bild gemacht habe, die Herausbildung ihrer je eigenen Identität und ihrer Kontingenz verweigert werde. Wenn der Mensch "Zweck in sich sei", werde er durch jede Beeinflussung der unbedingten Annahme beschädigt. Orth verwies darauf, dass diese Fragen erhebliche Bedeutung auch für die gesellschaftliche Entwicklung haben und begründete damit eine "Heuristik der Furcht". In Anerkennung der Ambivalenz und in Abgrenzung von dogmatischen Positionen, wie sie bspw. von den großen Kirchen eingenommen werden, plädierte Orth für eine Unterbrechung der Dynamik als Akt bewusster Selbstbegrenzung von Forschung und Anwendung. Die ökonomisch gesteuerte Beschleunigung verhindere ein Nachdenken über zentrale Fragen, deren banalste allein die ist, ob die neuen Probleme, die bereits entstanden sind, nicht schon jetzt größer sind als die, die mit der Humangenetik zu beheben versprochen wurden.

In weiteren Beiträgen machten
Christa Sonnenfeld und Martin Singe deutlich, wie weit praktische Anwendungen mittlerweile gediehen sind. Im Bereich der betrieblichen Praxis wandelt sich die Definition des gesundheitlichen Risikos: Gesundheitsgefährdung als Risiko wird verlagert auf eine Beurteilung der Anfälligkeit bspw. für bestimmte Chemikalien und damit auf eine Risiko-person". Screenings bspw. im Rahmen der Einstellungsuntersuchungen sind mittlerweile Praxis, und die Möglichkeiten, sich ihnen zu entziehen, sind angesichts der Abhängigkeitsverhältnisse eher theoretischer Natur. Im Bereich der Strafverfolgung ist die DNA-Analyse kaum zu bremsen. Nicht rechtliche Regelungen, sondern die Dynamik der neuen Technologie setzt dabei die Maßstäbe. Das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz setzt dem massenhaften, undifferenzierten Gebrauch der DNA-Feststellung zwar enge Grenzen, was jüngst auch durch eine Entscheidung der BVerfG bestätigt worden ist, der Praxis hat das aber keinen Abbruch tun können. So werden DNA-Analysen im Sinne allgemeiner Gefahrenabwehr angestellt. Laut BKA sollen z.B. 880.000 verurteilte Straftäter einer Speichelprobe unterzogen und deren Ergebnis in einer Datenbank gespeichert werden. Grundlage dieser Praxis ist die Einschätzung, dass schon die einmaligeVerurteilung für sich allein die Negativprognose" rechtfertige. Auch wenn nun dieser Test nicht mehr gegen den Willen der Betroffenen vollzogen werden darf, so darf man sich hinsichtlich der "Freiwilligkeit" unter Gefängnisbedingungen keinen Illusionen hingeben, was auch durch aktuelle Berichte Betroffener bestätigt wird.

Rudolf Walther (Komitee für Grundrechte und Demokratie) schließlich stellte die beschriebene Entwicklung in einen historischen Kontext, indem er wichtige Stationen der deutschen Humangenetik über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten illustrierte.

Die Diskussionen der Tagung rankten sich immer wieder um die Frage, wie all die Erkenntnisse in eine Form gebracht werden können, die eine politische Intervention ermöglicht. Um hier zu operationalisierbaren" Zielen zu kommen, wurden sechs Thesen zusammengestellt, die die menschenrechtlich wichtigsten Punkte fixieren sollten, an denen politische Praxis ansetzen kann:



1.Selbstbestimmung (Autonomie) ist ein zentrales Kriterium zur Beurteilung des menschrechtlichen Status quo. Sie erschöpft sich aber oder verkehrt sich sogar in ihr Gegenteil, wenn sie mit der Diktatur der DNA" konfrontiert wird oder aber wenn der Preisfür individuell berechtigte Entscheidungen Einzelner von anderen Gruppen oder allen gezahlt werden muss.



2.Humangenetische Möglichkeiten privatisieren und individualisieren soziale Risiken. Jede/r managt sich selbst, muß individuelle Verantwortung auch für das Innere seines/ihres Körpers übernehmen. Das passt zur Ökonomisierung des Sozialen und zum Abbau sozialstaatlicher Strukturen und wird in einer "Ökonomie des Selbst" enden. Konkret heißt das: sich den jeweiligen (genetischen) Verhältnissen entsprechend über Wasser zu halten.



3.Humangenetische Möglichkeiten und Versprechungen verändern den Begriff von der "körperlichen Unversehrtheit". Sie reduziert sich auf einen eng verstandenen Begriff von "Gesundheit" und führt zu einer Eugenik von unten.



4.In der gängigen Debatte wird der Grundwert von der Unantastbarkeit der Menschenwürde dem der Forschungsfreiheit gegenübergestellt. Dieses ist irreführend: Zum einen ist das Gebot von der Unantastbarkeit der Menschenwürde den anderen Grundrechten vorangestellt, was sich je und je auch an der Frage der Grenzen der Forschungsfreiheit bewahrheiten muss; zum anderen muss gerade unter dem starken ökonomischen Druck, dem die Humangenetik ausgesetzt ist, Forschungsfreiheit erst wieder hergestellt werden, und zum dritten muss im Konfliktfall über das öffentliche Interesse an einem konkreten Forschungs- (und Anwendungs-) Auftrag Rechenschaft abgelegt werden.



5.Wenn die Antwort auf die Frage, wo menschenrechtlich zu schützendes Leben beginnt, so oder so eine Setzung ist, sollte nicht über ein Datum, sondern über das Interesse an der je konkreten Datierung Rechenschaft abgelegt werden.



6.Normalisierungspraktiken setzen sich offenkundig dort am schnellsten durch, wo es definierte Interessen gibt: Katasterisierung für das Konzept allgemeiner Gefahrenabwehr u.a. oder Umsetzung eines Paradigmawechsels in der Definition des gesundheitlichen Risikos (vom Risikofaktor zur Risikoperson).


Im Komitee gibt es das große Interesse, anhand dieser Zugänge weiter daran zu arbeiten, eine menschenrechtlich fundierte Politik zu diesem Thema zu entwickeln. Eine kleine Arbeitsgruppe gibt es bereits, sie hat mit dieser Tagung Zuwachs erhalten und wird sich nun Gedanken über realisierbare erste Schritte machen.

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