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Antikriegstag 2005

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Ansprachetext für den 1. September 2005 in Potsdam

Liebe Freunde!

Hermann Otto-Lauterbach (in Potsdam)

- Sperrfrist: Redebeginn, 1.9., 17 Uhr -

- Es gilt das gesprochen Wort -



Für einer 78/79 Jährigen fällt der Tag, die Zeit des offiziellen Kriegsbeginns vor 66 Jahren in den Bereich seines Langzeitgedächtnisses, das für einen pubertiernden Dreizehnjährigen, der ich damals war, eher einem bunten, wildgezackten Kaleidoskop, denn einer ruhigen Schau in sich und zueinander passender Erinnerungsbilder gliedert.

Zwei Jahre zuvor war unsere Familie aus dem mittelstädtischen, vorwiegend auch mittelständischen, überschaubaren Gotha in das wirre Treiben und Geschehen einer mir durchaus fremden Welt, jener Doppel-Großstadt zu beiden Ufern des Rheins, verschlagen worden, die mit dem zweitgrößten Binnenhafen Deutschlands und der berühmtberüchtigten Badischen Anilin- und Sodafabrik, der BASF, sich auch heute noch unter dem Namen Mannheim/Ludwigshafen (spracheigentümlich "Mannem-Lumpehaafe") als Doppelstadt in zwei Bundesländern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, zu präsentieren weiß. Nur, daß es sich damals eben um die Länder Baden und die bayrische Pfalz, später "Saarpfalz", ab 1941 "Westmark" genannt, handelte. Laut Volkszählung vom 17. Mai 1939 wohnten in Ludwigshafen, nachdem die Ortschaften Oggersheim, Rheingönheim und Maudach eingemeindet waren, 143.934 Personen,.

Wie auch immer, im August 1939 verbrachte die Familie den väterlichen Urlaub und die Zeit der Schulferien erstmals im Schwarzwald. Am Schluchsee, am Titisee, und anderen Sehenswürdigkeiten. Kurz vor Urlaubsende hieß es: sofort zurück nach Ludwigshafen! In überfüllten Zügen, mit schwerem Gepäck und allgemeinem Durcheinander. Vater hatte sich schnellstens auf seiner Dienststelle im Zollamt zu melden.

Keine Angst, ich begebe mich nicht auf meine "Suche nach der verlorenen Zeit", wenn ich mich an bestimmte Geschehnisse erinnere, die in dieser Stadt am Rhein anders verliefen, als es die Bewohner anderer Städte und Territorien möglicherweise vermuten.

Selbst in Ludwigshafen erinnert man sich heute kaum noch daran, daß die 1935 "ins Reich" zurückgestimmten Saarländer bereits im September 1939 in großem Maßstab evakuiert wurden. So stand ich als junger Feldscher und Oberschüler im damaligen Hauptbahnhof um Frauen, Kinder, gesunde und kranke, zu betreuen, zu verpflegen, auch zu verbinden, auf ihrer Fahrt ins Reichsinnere, heraus aus dem Bereich der "Maginotlinie` und des Westwalls, dessen Bau ja schon abgeschlossen war.

Ein Jahr später war Frankreich geschlagen, und die Saarländer kehrten zurück, diesmal mit riesigen Transparenten an ihren Sonderzügen: "Nix wie hemm!"

Nein, Oskar Lafontaine war damals noch nicht auf der Welt. Die erblickten er und sein Zwillingsbruder erst am 16.September 1943 im heimatlichen Saarlouis-Roden. Ihren Vater haben sie niemals gesehen, der blieb im Krieg.

Meine Schwester und ich gingen tagsüber zur Schule, nächtens hatte ich mich drei oder viermal in der Woche auf einer HJ-Dienststelle zu melden, um im Alarmfall als "Bote" oder dergleichen. tätig zu werden, denn in Ludwigshafen hatte man, aus Kriegserfahrungen von 1918, von Anfang an Angst und Sorgen wegen möglicher Fliegerangriffe von Frankreich her.

Der erste tatsächliche Angriff erfolgte im April 1943, und dies nicht von Frankreich her. Der schwerste Angriff kam ein halbes Jahr später, in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1943. Um 23,32 Uhr werden Ludwigshafen und Mannheim von etwa 500 Bombern angegriffen. Im Zeitraum von drei Stunden fallen 357 Spreng- und 77.250 Brandbomben. Es gibt 128 Tote, 580 Verletzte und 50.000 Obdachlose. 5.135 Gebäude werden beschädigt oder zerstört. Der Stadtkern von Ludwigshafen völlig vernichtet. Die Ludwigstraße, Hauptstraße von der Rheinbrücke zum damaligen Hauptbahnhof, ein einziges Trümmerfeld. Wir Luftwaffenhelfer von der "Oberschule an der Jägerstraße" aber standen mit unseren 3,7 cm Flakgeschützen hilflos auf der Friesenheimer Insel, der BASF gegenüber, und erlebten ein gigantisches Feuerwerk und unablässig vom Himmel fallende Stanniolstreifen. Nichts ging mehr!

Warum erzähle ich das, heute und hier?! Weil ich inzwischen einer Generation angehöre, die dies alles noch erlebt hat, und sich immer wieder wundert, wieso sie es überlebt hat, während Millionen, Abermillionen ihrer Generation, ihrer Schulfreunde, Bekannte, nahe wie ferne Verwandte es nicht überlebten? Manche davon erscheinen ihnen heute noch im Traum, denn niemals ist der Mensch aufnahmefähiger, sensibler, aufmerksamer als in der Jugendzeit, wenn sich ihm die Welt entdeckt.

Die aber, die nicht mehr sind, müssen schweigen. Es bleibt ihnen keine Wahl. Selbst wenn ihre Gräber mißbraucht werden zu neuerlicher Haß- und Kriegspropaganda! Zu wirren, verwirrenden Glaubenskriegen, Kopftuchstreitereien, Hostienstorys, welcher Art auch immer.

Nicht zuletzt deshalb, erinnere ich zugleich ein Geschehen, das sich für mich ebenfalls auf schreckliche Weise mit Mannheim und Ludwigshafen, mit "Baden" und der "Saarpfalz" verbindet. Nachdem Frankreich geschlagen war, fühlten deren Gauleiter sich zur sogenannten "Wagner - Bürckel - Aktion" gedrängt.

In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1940 wurden die jüdischen Bürger beider Länder durch Einsatzkommandos der Kriminalpolizei, der SS, der Gestapo, der Gendarmerie und des Militärs in ihren Wohnungen festgesetzt. In Ludwigshafen wurden die Festgenommenen "von einem Kriminalbeamten als Transportführer überwacht, per Bus in der Maxschule zusammen-getrieben, von dort aus zum Bahnhof gebracht und in einen Güterzug Richtung Frankreich verfrachtet.

In einem Bericht vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD an das Auswärtige Amt in Berlin vom 29. Oktober 1940 heißt es dazu: "Der Führer ordnete die Abschiebung der Juden aus Baden über das Elsaß und der Juden aus der Pfalz über Lothringen an. Nach Durchführung dieser Aktion kann ich Ihnen mitteilen, daß aus Baden am 22. und 23.10.1940 mit sieben Tranportzügen und aus der Pfalz am 22.10.1940 mit zwei Tranportzügen 6.504 Juden im Einvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht, ohne vorherige Kenntnisgabe an die französischen Behörden, in den unbesetzten Teil Frankreichs über Chalon-sur-Sa“ne gefahren wurden. Die Abschiebung der Juden ist in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden. Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen."

Zwei Gauleiter aber verkünden, 27 Monate vor der Wannseekonferenz, stolzgeschwellt, ihre Gaue, Baden und Saarpfalz, seien als erste in deutschen Landen nunmehr "judenfrei".

Die nahezu lautlos Deportierten hatten nach einer Fahrt von 72 Stunden Oloron, im Departement Basses Pyrenée, erreicht. Von hier kamen sie nach Gurs, diesem berüchtigsten aller Lager in einer öden trostlosen Landschaft. Wer von ihnen nach der Wannseekonferenz noch unter den Lebenden war, wurde ab Juli/August 1942, nach Eichmanns Fahrplänen, Richtung Auschwitz verbracht. Einige dieser Züge wurden allerdings längere Zeit an der Demarkationslinie zwischen den unbesetzten und den besetzten Gebieten aufgehalten. Eine hohe SS-Charge hatte festgelegt, daß keine ausschließlichen Kindertransporte erlaubt seien.. So mußte jedem ErwachsenenWaggon eine bestimmte Zahl jüdischer Kindern zugeteilt werden. Eine dieser Vorgaben besagte für drei Transporte im August 1942 u.a. "Die aus den unbesetzten Gebieten eintreffenden Juden werden in Drancy mit Judenkindern...vermischt werden in der Weise, daß auf 700, mindestens jedoch 500 erwachsene Juden 300 bis 500 Judenkinder zugeteilt werden."

Heute erhebt sich auf dem ehemaligen Lagerfriedhof des "Camp de Gurs" ein Obelisk zur Erinnerung und Mahnung.Auf der Spitze trägt der Gedenkstein den Davidstern. Der Sockel trägt die französische Inschrift: "Dem Andenken der 20.000 Juden, die ins Vernichtungslager deportiert und der 1.250 Toten, die hier als Opfer der Nazi-Barberei ruhen."

Bedarf es dazu weiterer Worte?

Ich danke für die Aufmerksamkeit.



E-Mail: lauterba@ipn.de
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