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03.09.2011


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Antikriegstag 2011

 Reden/Kundgebungsbeiträge

Redebeitrag für die Antikriegstagsveranstaltung in Bremen am 1. September 2011

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

Günter Knebel (in Bremen)



- Es gilt das gesprochen Wort -

Pazifismus - konstruktive Weltanschauung und aktiver Beitrag zur Friedensbildung Unterrichtsfach >gewaltfreies Handeln< als Beitrag zur Gewaltminderung nötig



meine Ansprache beginnt mit einem Resümee. Kurt Tucholsky hat es 1931 an das Ende einer Kurzgeschichte mit dem Titel >Die brennende Lampe< gesetzt: "Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. Man weiß also gar nicht, wie eine Generation aussähe, die in der Luft eines gesunden und kampfesfreudigen, aber Krieg ablehnenden Pazifismus aufgewachsen ist. Das weiß man nicht!" (http://xoup.de/audio/tucholsky/tucholsky_brennendelampe.mp3)

Heute, 80 Jahre später, verbinde ich mit diesem Zitat folgende Gedanken:

1. Pazifismus gilt auch heute noch weithin als eine exotische Weltanschauung.

Pazifist/innen, die prinzipiell für Gewaltlosigkeit eintreten, gelten immer noch als weltfremde Utopisten. Das Freiheitsrecht, den Militärdienst verweigern zu können, ist in den meisten Staaten der Welt, die Militär unterhalten, rechtlich gar nicht geregelt oder dort, wo es besteht, mit großen Einschränkungen versehen1. Deutschland ist eine - im wahrsten Wortsinn - leidig erkämpfte Ausnahme; auch hier vergingen Jahrzehnte, bis eine halbwegs freiheitliche Regelung dieses Grund- und Menschenrechts errungen war.2 Die Welt der sogenannten Realpolitik strotzt zwar vor Gewalt und könnte eine gehörige Portion Pazifismus gut vertragen, aber Pazifismus scheint politisch ziemlich unerwünscht zu sein. Anders als aktuell in Ägypten und der Türkei3 werden Pazifist/innen zwar hierzulande nicht mehr - wie von 1933-1945 - politisch oder gar strafrechtlich verfolgt. Pazifist/innen sind aber dennoch oft in der Situation, von Mehrheiten belächelt und von staatlicher Macht ignoriert oder kritisch beobachtet zu werden. Das erscheint mir bemerkenswert; sind doch von Pazifistinnen und Pazifisten historisch bedeutende Impulse ausgegangen, die Welt in Richtung auf ein ziviles Miteinander ein gutes Stück voranzubringen: Ohne Bertha von Suttners Aufruf "Die Waffen nieder!" wäre Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Haager Verträgen das Humanitäre Völkerrecht wohl kaum entstanden. Vor einhundert Jahren, 1911, wurde dem Mitgründer der Deutschen Friedensgesellschaft, Alfred Hermann Fried, der Friedensnobelpreis verliehen. Fried hatte sich unermüdlich dafür eingesetzt, dass Konflikte zwischen Nationalstaaten auf zivile Weise geregelt werden, d.h. durch rechtliche Vereinbarungen und Diplomatie. Einrichtungen wie z.B. der Völkerbund, der erst nach dem 1. Weltkrieg entstand, wären ohne Vordenker und friedensbewegt engagierte Menschen wie Alfred Hermann Fried nicht entstanden. Ideen und Konzepte, Gewalt einzuhegen und zu überwinden, liegen Militärs naturgemäß eher fern. Das pazifistische Ziel, durch Gewaltverzichtsabkommen und Institutionen wie den Völkerbund an die Stelle des Krieges die friedliche Streitbeilegung setzen, wurde durch den Austritt Nazi-Deutschlands aus dem Völkerbund lange vor dem Beginn des beispiellosen Angriffs- und Vernichtungskrieges, den Deutschland ab 1. September 1939 gegen seine Nachbarn führte, zunichte gemacht.

Wiederum erst nach einem Krieg konnte mit der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 an der früheren Friedensarbeit angeknüpft werden. Die Charta der Vereinten Nationen sieht es als wichtigste Aufgabe an, künftige Generationen vor der "Menschheitsgeisel Krieg" zu bewahren. Das Gewaltverbot der UNO-Charta hat zwar einen hohen Stellenwert und Kriege zwischen Staaten sind inzwischen eher selten geworden, aber das wird kaum als Verdienst angesehen, zu dem Pazifist/innen, nicht zuletzt die Glaubensgemeinschaft der Quäker, viel beigetragen haben. In den Vereinten Nationen haben jedoch nicht die zivilen "Völker" die Mitgliedschaft, sondern bewaffnete "Staaten", die ihre Staatsmacht nicht selten über ihr Militärpotential definieren.

Die Staaten haben oft andere Interessen als deren Völker, das Geschäft mit großen und kleinen Waffen gehört dazu. Die Tatsache, dass im UNO-Sicherheitsrat die größten Waffenhändler-Staaten vertreten sind, hat den langjährigen UNICEF-Botschafter Peter Ustinov zu einem trefflichen Vergleich veranlasst: Als würde der Vorstand eines Vereins von Vegetariern von Vertretern der Metzgerinnung gestellt. Dem von Tucholsky erhofften "ernsthaften Bekämpfen" des Krieges sind damit erhebliche Grenzen gesetzt. Die Bemühungen der Vereinten Nationen für gerechtere Lebensbedingungen, sozialen Fortschritt und besseren Lebensstandard zu sorgen, tragen jedoch dazu bei und dürfen nicht unterschätzt werden. Solange aber für die Unterhaltung der Millionenheere von Soldaten weit über 1.500 Milliarden Dollar4 pro Jahr und allein für den weltweiten Waffenhandel rd. 385 Milliarden Dollar5 von den Staaten ausgegeben werden, ist das Geld für die Bekämpfung von Hunger und Krankheit knapp. Das im Jahr 2000 von den Mitgliedsstaaten der UNO beschlossene "Milleniumsprogramm"6, mit dem bis zum Jahr 2015 - als eins von acht Zielen - die Zahl der Hungernden um die Hälfte reduziert werden soll, beklagte im Jahr 2010 immer noch fast eine Milliarde unterernährte Menschen und mangelnde finanzielle Unterstützung durch die Staaten. Nach Auskunft von Fachleuten bietet die Erde Nahrung für 12 Milliarden Menschen.7 Von heute rd. 7 Milliarden Menschen hungert aber 1/7 der Erdbevölkerung, weil reiche Staaten wie Deutschland nicht einmal ihre Selbstverpflichtungen erfüllen: Statt der vor Jahrzehnten angestrebten 0,7 % des Bruttoinlandprodukts werden bisher lediglich 0,38 % für Entwicklungshilfe ausgegeben. Hinzu kommt, dass Geldgierige in reichen Ländern mit Nahrungsmitteln Spekulationsgeschäfte machen, die die immensen Verluste der armen Länder durch unfaire Handelsbedingungen noch erheblich verstärken.

Kurz: Die Vereinten Nationen, deren Ziel die Überwindung des Krieges ist, werden diesbezüglich ungenügend genutzt. Es ist sogar noch schlimmer:

Die unersättliche Krake Militär verschlingt nicht nur die zur Armutsbekämpfung benötigten Finanzmittel, sondern sie verdeckt die Zielvorstellung Kriegsüberwindung und birgt die Gefahr, sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Der 2005 mit durchaus guten Gründen gefasste UNO-Beschluss zur "Schutzverantwortung"8 der Vereinten Nationen warf von Anfang an die Frage auf, ob er nicht als eine Art "Einfallstor für Kriege" missbraucht werden kann. Dass seit geraumer Zeit die NATO der UNO ihre weltweiten militärischen Aktionen als "humanitäre Interventionen" und als Maßnahmen zu "robuster" Erhaltung, Absicherung oder Wiederherstellung des Friedens andient, erweist sich bei genauer und kritischer Betrachtung oft als Tarnen und Täuschen. Das läuft auf eine militärische Vereinnahmung hinaus, die von den ursprünglichen, zivilen Zielen und Aufgaben der Vereinten Nationen ablenkt. Wenn humanitäre Interventionen der Vereinten Nationen politisch gewollt sind, warum werden dann nicht die vorhandenen UNO-Friedenstruppen erweitert und qualifizierend modernisiert? Der Ausbau der Blauhelmsoldaten zu einer Art "Weltpolizei" sollte und könnte die weltweit immer noch fast 20 Millionen Soldaten in über 170 nationalen Armeen tendenziell überflüssig machen. Soldaten sind mehr Teil der Probleme auf der Welt, als dass sie zu deren Lösung beitragen. Wäre Abrüstung nicht eine längst überfällige und sinnvolle Konsequenz der Globalisierung? Aber Nationalismus, der auf Feindbildern basiert und mit dem Militarismus verschwistert ist, steht dieser vernunftgeleiteten Forderung bis heute entgegen. Die Ziele der UNO sind eindeutig ziviler und sozialer Natur; sie stehen unter dem Gewaltverbot des Artikels 2, 4 der UN-Charta, der die "Androhung oder Anwendung von Gewalt" mit den Zielen der UNO für "unvereinbar" erklärt!

Für das Verhältnis Europas zur NATO gilt leider fast das Gleiche: Die vielfach eingegangen Verpflichtungen und Verträge der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch des Europarates, zu friedlicher Streitbeilegung, zur Kriegsverhütung und sogar zur Abrüstung sind kaum noch öffentlich bekannt bzw. scheinen in Vergessenheit zu geraten. Ein mit nationaler Abrüstung gekoppelter Aufbau einer Europaarmee ist nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil scheint es in Europa vor allem um dauerhafte Absicherung der Vielzahl von nationalen Armeen zu gehen - mit all ihren so aufwändigen wie teuren Teilstreitkräften Heer, Luftwaffe und Marine. Art. 42 Abs. 3 des EU-Vertrages bezeichnet das von den Bürgern wahrgenommene weitgehende Festhalten an überkommenen Strukturen als "schrittweises verbessern der militärischen Fähigkeiten". Dazu wurde eine aufwendige, eigene Agentur in Brüssel eingerichtet, der es vor allem um die Effektivierung europäischer Rüstungsgeschäfte geht. Statt des längst überfälligen Aufbaus einer "Zivilmacht Europa" beschäftigt sich die sogenannte Realpolitik mit den Fragen, wer mit wie vielen Soldat/innen auf welchem Kontinent vermeintlich "vitale Lebensinteressen" bzw. Handels- und Verkehrswege für die europäische Wirtschaft "sichert". In den "Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011" der Bundesrepublik Deutschland heißt es9: "Freie Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung sind für die Zukunft Deutschlands und Europas von vitaler Bedeutung. Die Erschließung, Sicherung von und der Zugang zu Bodenschätzen, Vertriebswegen und Märkten werden weltweit neu geordnet. Verknappungen von Energieträgern und anderer für Hochtechnologie benötigter Rohstoffe bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die Staatenwelt. Zugangsbeschränkungen können konfliktauslösend wirken. Störungen der Transportwege und der Rohstoff- und Warenströme, z.B. durch Piraterie und Sabotage des Luftverkehrs, stellen eine Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand dar. Deshalb werden Transport- und Energiesicherheit und damit verbundene Fragen künftig auch für unsere Sicherheit eine wachsende Rolle spielen."

Weniger der Wortlaut dieser Aussagen als deren militärische Verortung sind das Problem, das an Kolonialzeiten erinnert. Diese Erinnerung wird bestärkt, wenn hinzukommt, dass die bisher vorwiegend zivile staatliche Entwicklungspolitik Deutschlands unter dem Stichwort "Sicherheitsvernetzung" zunehmend mit der Bundeswehr kooperieren soll.10

Mit welchem Recht werden die Ungerechtigkeiten der bestehenden Weltwirtschafts(un)ordnung von den NATO-Staaten militärisch "gesichert"? Ist es nicht eine Art imperiales Kolonialverhalten, das hinter diesen Formulierungen steckt? Was würden wir empfinden, wenn ein afghanischer Politiker darauf bestehen würde, dass afghanisches Militär die Freiheit Afghanistans in den Alpen verteidigt? Muss es nicht heute und in Zukunft darum gehen, den Ländern der Dritten Welt etwas von dem zurückzugeben, das ihnen von europäischen Kolonialherren einst genommen wurde? Sollte nicht endlich eine Wirtschaftsordnung aufgebaut werden, die auch den wirtschaftlich Schwachen einen fairen Handel ermöglicht? Erst dann kann die Bereitschaft, Konflikte zivil zu bearbeiten, wirklich entstehen. Die beklagten "Störungen der Transportwege" würden dann wahrscheinlich gar nicht mehr stattfinden. Pazifistische Perspektiven setzen Einfühlen in das Denken anderer, gleichberechtigter Beteiligter voraus. Ein vorurteilsfreies Denken, das Feindbilder kritisch hinterfragt, ist freilich ein Bildungsinhalt, der zwar oft genannt, aber zu selten praktiziert wird, um den Krieg "ernsthaft zu bekämpfen."

2. Damit sind wir beim zweiten Satz des Tucholsky-Zitats: "Man hat ja noch niemals alle Schulen und Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt."

Zu Anfang eine Klarstellung: Ich halte unsere Schulen und die öffentlich-rechtlich verfassten Kirchen nicht für Einrichtungen, die heute "Kriegspropaganda" betreiben. Die Klarstellung deutet an, dass es dennoch Kritisches anzumerken gibt. Schulen und Kirchen sind mächtige gesellschaftliche Institutionen, die friedenspolitisch doppelwertig sind: Sie sind eindeutig zweideutig.

Einerseits werben sie um Verständnis für die überkommene, militärisch dominierte Sicherheitspolitik, andererseits wollen sie oft zu einem überfälligen Vorrang des Zivilen beitragen. Ich möchte hier auf die unsäglichen Kooperationsabkommen zwischen Bildungsbehörden der Bundesländer und der Bundeswehr11 ebensowenig eingehen wie auf den Stellenwert, den die Militärseelsorge12 der beiden großen Kirchen in Deutschland hat.

Ich möchte vielmehr über eine Erfahrung berichten aus meiner aktiven Dienstzeit als Geschäftsführer der EAK: Die EAK in der EKD hat sich mit der Beratung und Begleitung von Kriegsdienstverweigerern stets dafür eingesetzt, dass auch deren Alternativdienst eine friedenspolitische Funktion haben möge. Hatte doch der Parlamentarische Rat 1949 die Kriegsdienstverweigerung als Bestandteil der Gewissensfreiheit verankert und damit die Hoffnung verbunden, dass von diesem Grundrecht eine "große pädagogische Wirkung" ausgehen möge.13 Ganz im Gegenteil dazu fand bald darauf eine durch Politik und Verwaltung bestens organisierte militärfreundliche Engführung statt. Von der Schwierigkeit, dieses Grund- und Menschenrecht überhaupt wahrnehmen zu können, wird anderenorts berichtet14.

Ein relativ wenig bekannter Aspekt soll hier betont werden, der bemerkenswert ist: Der 1961 eingerichtete Ersatzdienst und der spätere Zivildienst hatten vor allem die Funktion, von der Kriegsdienstverweigerung abzuschrecken. Welche Abschreckungswirkung die staatlichen Konzepte, den Zivildienst durch Ausgestaltung und Dauer zu "verbösern", gehabt haben, ist durch die von Jahr zu Jahr steigenden KDVer-Zahlen unklar geblieben. Aber es hat bis 1986 gedauert, bis - durch mühsame Einzelfallregelungen ab 1970 vorbereitet - über den Paragraphen 14 b des Zivildienstgesetzes für "andere Dienste im Ausland"15 gesetzlich geregelte Dienstausnahmen als Alternative anerkannt wurden, die eine friedenspolitische Substanz hatten, nämlich das friedliche Zusammenleben der Völker fördern zu wollen. Der Preis dafür war eine mindestens zwei Monate längere Dienstdauer. Für den Zivildienst selbst konnte eine friedenspolitische Bedeutung nie erreicht werden. 1988 hat die EAK zusammen mit ihrer katholischen Schwesterorganisation nicht nur gegen die ungerechtfertigte Verlängerung des Zivildienstes protestiert, der damals 20 Monate dauerte und ein Drittel länger war als der 15monatige Militärdienst, sondern auch folgende Kritik am Inhalt des Dienstes geübt: "Während im Dienst der Soldaten die Bereitschaft zum Waffengebrauch geweckt, gefördert und aufwendig eingeübt wird, wird im Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer die Bereitschaft zum persönlichen Gewaltverzicht nicht nur nicht positiv aufgenommen, sondern in der Regel nicht einmal Zeit und Raum gegeben, die Motive zur Kriegsdienstverweigerung zu thematisieren. Eine (Grund-) Ausbildung, in der Gewaltverzicht eingeübt, gewaltfreies Handeln in der Praxis erprobt werden kann, findet bisher nicht statt."16 Diese Beschwerde nebst substantiierten Forderungen wurde in der Folgezeit von der EAK immer wieder bei Novellierungen des Zivildienstgesetzes oder anderen Bestimmungen zur Durchführung des Zivildienstes vorgebracht - politisch ist sie bis zum Ende des Zivildienstes am 30. Juni 2011 aber nicht mehrheitsfähig geworden. Warum? Einziger Sinn und Zweck der Wehrpflicht17 war deren militärische Erfüllung; diese Wehrform war dazu da, Massenheere für Massenschlachten zu rekrutieren. Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht seit Juli 2011 hat die Erfassung und Musterung ganzer Jahrgänge junger Männer und deren Heranziehung, um das Verletzen und Töten von Menschen zu erlernen, nun endlich ein Ende gefunden. Das ist zwar ein Fortschritt, mehr aber auch nicht.

Die Frage, wie das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung unter neuen Bedingungen einer deutschen Freiwilligenarmee die vom Parlamentarischen Rat mehrheitlich erhoffte "große pädagogische Wirkung" entfalten kann, stellt sich damit heute neu.

Im Blick auf die massive Werbung für "Karriere bei der Bundeswehr" bleibt es eine sehr wichtige Aufgabe, sowohl über die Gefahren des Soldatseins aufzuklären als auch auf die vielen biografisch interessanten Möglichkeiten aufmerksam zu machen, die freiwillige Friedensdienste im In- und Ausland bieten. Gerade die Kirchen sind diesbezüglich in Pflicht, die freiwilligen Friedensdienste nachdrücklich zu fördern. Auch friedenstheologisch könnte - einer Erklärung des evangelischen Kirchenbunds der DDR von 1965 entsprechend - zukunftsweisend klargestellt und bekräftigt werden, dass heute im persönlichen Gewaltverzicht und in der Ableistung freiwilliger Friedensdienste das "deutlichere Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn"18 zu sehen ist.

Darüber hinaus sollte sich die föderale Bildungslandschaft Deutschlands einer Aufgabe stellen, die aus meiner Warte immer drängender wird. Im Blick auf die enormen Gewaltpotentiale, die auch hierzulande in Staat und Gesellschaft gelegentlich aufscheinen, sehe ich für Bildungsbehörden und Schulen, durchaus mit Unterstützung und Zuspruch der Kirchen, eine wichtige Aufgabe, zur Friedensbildung deutlich mehr als bisher beizutragen. Eine neue "friedensethische Profilierung" erscheint gerade durch die diversen Abkommen von Bildungsbehörden mit der Bundeswehr mehr als dringend geboten.

Warum soll von Deutschland, das im vergangenen 20. Jahrhundert gleich zweimal einen Weltkrieg begonnen hat, im 21. Jahrhundert nicht einmal ein kräftiger Friedensimpuls ausgehen? Was spricht dagegen, bei uns ein eigenständiges Unterrichtsfach19 "gewaltfreies Handeln" einzuführen, in dem von der Grundschule bis zur Universität jahrgangs- und schulformbezogen auf vielfältige Weise Methoden ziviler Konfliktbearbeitung gelehrt, gelernt und eingeübt werden? In freiwilligen "sozialen Friedensdiensten" könnte man Erlerntes praktisch erproben und reflektieren. Eine wohldosierte Qualifizierung in gewaltfreiem Handeln käme nicht nur jederfrau und jedermann persönlich, sondern auch der Allgemeinheit zugute; sie wäre zudem sogar nützlich für diejenigen, die sich später dafür entscheiden, Soldatin oder Soldat zu werden. Wer eine Waffe in die Hand nimmt sollte unbedingt zuvor eine friedensethische Qualifikation erworben haben und für den staatlichen Waffendienst in der Bundeswehr sollte sie eine notwendige Voraussetzung sein - im Interesse aller, auch der Soldaten selbst.

So ein Plädoyer erscheint heute leider immer noch utopisch. Aber die Frage stellt sich: Was muss noch alles an Gewalttätigkeit geschehen, um für so ein - zugegeben anspruchsvolles - Vorhaben, das zur Gewaltprävention und -minderung sicher hilfreich wäre, (politische) Mehrheiten zu mobilisieren?

Schulen und Kirchen täten gut daran, im Bereich ihrer Eigenverantwortlichkeit solche Qualifikationsmöglichkeiten zu entwickeln, anzubieten und deren Verankerung in den staatlichen Lehrplänen20 zu fordern. Die Forderung, Methoden friedlicher Streitbeilegung systematisch und flächendeckend zu lehren und zu lernen, ist friedensethisch überzeugend begründbar, sie wichtig für ein lebensfreundliches Miteinander und zukunftsweisend für die zivilgesellschaftliche Entwicklung.

Meine Redezeit ist begrenzt, deshalb zur "Kriegspropaganda" in Kinos und Zeitungen nur eine kurze Anmerkung: Wer ist nicht oft schockiert über die Gewaltpräsenz in Medien, über die oft genüssliche Darbietung von Mord, Totschlag oder Kriegsgewalt vor allem auf Bildschirmen?21

Eine Klarstellung, dass von Kinos, Zeitungen und anderen Medien heute keine "Kriegspropaganda" ausgehe, ist deshalb so gar nicht möglich. Als besonders fatal empfinde ich, dass nicht nur manche interessierte Medienvertreter, sondern manchmal auch Wissenschaftler die alltägliche mediale Gewaltüberflutung als >wirkungslos< oder gar als >entlastend< ansehen.

Die ganz lange Tradition der >Rolle der Gewalt in der Geschichte< äußert sich nicht nur in ihrer überwältigenden mentalen Präsenz, sondern sie wird durch Medien gestützt und verstärkt. Die Darstellung von Gewaltanwendung wird deshalb häufig als unvermeidlich und als spannend bewertet. Erst auf der Folie des historisch sehr jungen "organisierten Pazifismus" (L. Tolstoi, M. Gandhi, M.-L. King seien als bekannte Inspiratoren benannt) kommt es langsam in den Blick, dass auch der bewusste Verzicht auf Gewalt eine eigene Geschichte hat. Die >Rolle des Gewaltverzichts in der Geschichte< ist noch sehr versteckt und weit davon entfernt, eine gesellschaftlich wahrgenommene Tradition zu haben. Dass Kinder lieber "Frieden" statt "Krieg" spielen wollen, dafür fehlen immer noch viele phantasievolle Investitionen, geistige und materielle. Dennoch wird zunehmend deutlich, dass der Gewaltverzicht eine Alternative zur Gewaltanwendung sein kann und - gesellschaftlich wie staatlich - etabliert werden muss. Dass der Kampf für einen "gesunden und kampfesfreudigen, aber Krieg ablehnenden Pazifismus" eine spannende und zugleich eine lebensfreundliche Aktivität ist, nehmen immer mehr Menschen wahr. Warum weiß man das nicht? -

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!



Günter Knebel war Geschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerer (EAK), bis 2008 in Bremen, seit 2009 in Bonn. Seit 2011 in Ruhestand.

E-Mail: knebel-bremen (at) t-online (Punkt) de
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