Netzwerk Friedenskooperative



Oster-
marsch
2004


vom:
10.04.2004


 vorheriger

 nächster
 Artikel

Ostermärsche und -aktionen 2004:

  Reden/Kundgebungsbeiträge

Rede beim Ostermarsch 2004 in Wiesbaden, 10. April

Liebe Freundinnen und Freunde

Dirk Vogelskamp (Wiesbaden)

Die gewaltsamen neoliberalen Offensiven nach innen und außen. Die Zukunft des Weltsystems.Meine kleine Rede, mit der ich zu diesem Ostermarsch beitragen möchte, habe ich überschrieben mit: "Die gewaltsamen neoliberalen Offensiven nach innen und außen. Die Zukunft des Weltsystems."

Der Aufruf zu diesem Ostermarsch hat den mit Fragezeichen versehenen Titel: "Totaler Markt - totaler Krieg?" Die Frageform ist insofern berechtigt, da wir nicht wissen, wohin uns das gegenwärtige gewaltsame Umbruchsgeschehen, wie ich es bezeichnen möchte, treiben wird. Es wird nicht unerheblich von unseren Protesten, demokratischen Kämpfen und unseren Vorstellungen von einer egalitären, solidarischen und freien Gesellschaft abhängen, schließlich - von den sozialen Kräfteverhältnissen weltweit.

Drei kurze Ausführungen dazu:

I.

Vergangenen Samstag haben eine halbe Millionen Menschen gegen den neoliberalen Systemwechsel in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik protestiert, mit dem die herrschenden Klassen gegenwärtig ihre Unterwerfungsstrategien eskalieren.

Die Menschen auf den Straßen haben dagegen protestiert, dass Deutschland in ein Arbeitshaus verwandelt wird, in dem Arbeit zu jedem Preis und zu jeglichen Bedingungen angenommen werden muss; dagegen, dass Armut wieder zu einer aussichtsreichen Perspektive vieler Menschen wird; dagegen, dass Gesundheit zu einer profitablen Ware wird. Sie haben dagegen protestiert, dass öffentliche Güter wie Bildung, Mobilität, Kultur, Wasser, Energie, Gesundheit in Waren verwandelt und damit den Kapitalinteressen und Rentabilitätserwartungen unterworfen werden. Zulasten immer größerer Bevölkerungsteile.

Gewiss, der Protest wird gegenwärtig noch von den auf nationale Machtbeteiligung schielenden Gewerkschaften dominiert. Damit aus diesen machtkonformen Protesten eine autonome, außerparlamentarische soziale Bewegung werden kann, müssen wir uns mit all unserer kritischen Phantasie einmischen, den Protest basisdemokratisch verstetigen in Sozialforen und in Projekten, in denen wir uns unsere Erfahrungen, unsere sozialen Utopien von einem anderen Leben wieder aneignen und soziale Lernprozesse einsetzen können.

 zum Anfang


Oster-
marsch
2004
Diese neoliberale Offensive nach innen wird von progessistischen Ökonomen (wie den zukünftigen Bundespräsidenten) als "schöpferische Zerstörung" beschrieben, um eine neue Akkumulationsdynamik in Gang zu setzen, basierend auf extremer Ausbeutung, Armut, Ausgrenzung, Unsicherheit, Marginalisierung, Entrechtung und Repression. Der nationale Standort soll mit der "Agenda 2010" fit gemacht, modernisiert werden für den Weltmarkt. Es ist die nach innengekehrte Strategie "imperialistischer Globalisierung", die jetzt mit aller Deregulierungs- und Privatisierungsgewalt vorangetrieben wird.

Wir müssen diesen "introvertierten Imperialismus" (Wolf-Dieter Narr) im Zusammenhang mit den gegenwärtigen kriegerischen Interventionen - vor allem, aktuell, im Irak - begreifen.

II.

Der Protest gegen den Krieg im Irak, gegen die Militarisierung der EU in all ihren institutionellen Facetten ist wichtig. Damit die schleichende Gewöhnung an militärische Interventionen zumindest ein wenig durchbrochen wird. Auch wenn wir heute nur wenige sind.

Ich möchte anhand des Krieges im Irak den Zusammenhang neoliberaler Globalisierung und Krieg thematisieren. In der bundesdeutschen Debatte ist dieser Kriegshintergrund viel zu kurz gekommen. Ich kann die Aspekte nur grob und skizzenhaft darstellen.

1. Schon vor dem 11. September 2001 lagen in den führenden amerikanischen think tanks, den strategischen Denkfabriken und Forschungszentren, Pläne und Vorstellungen bereit, in die Region des Greater Middle East, wie es im Amerikanischen heißt, militärisch zu intervenieren und einen "Regime Change" im Irak herbeizuführen.

2. Hintergrund für die strategischen Überlegungen sowohl aus deutschen als auch us-amerikanischen Forschungszentren sind die für die kapitalistische Wertschöpfung blockierte Entwicklung des arabischen Raumes. Aus diesem politischen Krisenprozess blockierter Entwicklung würden soziale "Gefahrenpotentiale" wie etwa Terrorismus erwachsen. Es geht im Kern darum, dass in der Region des Nahen und Mittleren Ostens der Zugriff auf wertschöpfende Arbeit und Absatzmärkte blockiert ist. Eine zentrale Rolle spielt in diesen strategischen Diskussionen u.a. die regionale bevölkerungspolitische Entwicklung, die aufgrund der Alterstruktur, eine überaus junge Bevölkerung, eine immense soziale und politische Sprengkraft besitzte, da die überkommenen Regime die Erwartungen und Ansprüche der jugendlichen Bevölkerungsmehrheiten nicht zu erfüllen vermögen. In der Wahrnehmung dieser metropolitanen Strategen, dass die kapitalistische Entwicklung in dieser Region des greater Middle East blockiert und sozial sowie politisch extrem instabil ist, verbinden sich Sicherheits- und Geopolitik in der Erschließung neuer ökonomischer Möglichkeiten. Die strategische Motivation für die us-amerikanische Invasion in den Irak war der Versuch, diesen Krisenprozesses, diesen geographischen Krisenbogen gewaltsam aufzulösen.

3. Ich möchte daran erinnern, dass die us-amerikanischen Vertreter eines großen strategischen Entwurfs für den Nahen und Mittleren Osten (Asmus u.a.) beabsichtigen, eine Region, die sich von Nordafrika und Ägypten über Israel bis hinunter zum persischen Golf, Afghanistan und Pakistan erstreckt, gewaltsam umzuwälzen und neu zu ordnen. Diesen Strategien kapitalistischer Verwertung und Neuordnung sollen auch die gesamten islamischen Bevölkerungen dieser Region gewaltsam unterworfen werden.

Ich kann das hier nur erwähnen: In diesem Kontext stehen sowohl die Nationale Sicherheitsstrategie der USA und ihr Gegenüber die europäische Sicherheitsstrategie "A secure Europe in a better world" vom Dezember 2003. In beiden Sicherheitsdoktrinen - trotz politisch-strategischer Differenzen - werden militärische Interventionen zu einem Mittel kapitalistischer Globalisierung.

4. Noch einmal kurz zur NSS: Eine treffliche Interpretation der nationalen us-amerikanischen Sicherheitsdoktrin liefert Thomas P. M. Barnett, Professor am U.S. Naval War College und seit September 2001 im Beraterstab von Verteidigungsminister Rumsfeld. In einem Artikel "Die neue Weltkarte des Pentagon" unterstreicht er, dass der Irakkrieg einen historischen Wendepunkt markiere - den Moment, in dem Washington von der strategischen Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung tatsächlich Besitz ergreife. Barnett unterscheidet und bestimmt die Regionen der Welt danach, ob die Globalisierung tatsächlich Wurzeln geschlagen habe oder nicht. Die ersteren bestimmt er als funktionierende Kerne und die letzteren als nichtintegrierte Lücken. Nicht eingebunden zu sein in die Globalisierung bedeute Gefahr. Daher: "Je weniger ein Land an der Globalisierung teilhat, desto eher wird es eine militärische Intervention der Vereinigten Staaten heraufbeschwören." Barnett ortet die Globalisierungslücken auf den karibischen Inseln, in fast ganz Afrika, auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien, im nahen Osten und in großen Teilen Südwestasiens. Lassen Sie mich anmerken. Sicherheit meint immer auch Sicherheit der Kapitalverwertung.

Die nationale Sicherheitsstrategie der USA, die im Irakkrieg erstmals ihre Anwendung fand, markiert tatsächlich einen weltpolitischen Umbruch hin zu einem permanenten Krieg auf der gewaltsamen und offensiven Suche nach Wegen aus der verschärften Krise kapitalistischer Verwertung und Investition. Es geht darum, die Krisenzonen der Globalisierung sicherheits- und geopolitisch einzuhegen und zugleich für die kapitalistische Durchdringung zu öffnen.

5. Bundesaußenminister Fischer hat auf der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar diesen Jahres eine transatlantische Initiative für den Nahen und Mittleren Osten vorgeschlagen. "Diese Überlegungen zu einer neuen transatlantischen Initiative beruhen auf der Überzeugung, dass die Modernisierung des weiteren Nahen Ostens entscheidend sein wird für unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert. Die Teilhabe der Menschen im Nahen und Mittleren Osten an den Erungenschaften der Globalisierung entspricht deshalb unserem ureigensten Interesse." Trotz Konkurrenz verbindet USA und EU das gemeinsame Objekt ihrer strategischen Überlegungen: Die "zurückgebliebenen" Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens für die Segnungen der "freien Welt" zuzurichten. Vieles spricht dafür, dass wir es zukünftig mit einem sich strategisch vernetzenden Imperialismus der EU und der USA unter militärischer Dominanz der USA zu tun bekommen werden.

Kurz: Der Irakkrieg und die damit verbundenen neoliberalen Globalisierungsoffensiven markieren nur die Kehrseite der sozialpolitischen Demontage in den Metropolenländern. Wir haben es mit einem chaotischen und blutigen Umbruch des Weltsystems zu tun, um in einer weltweiten Offensive neue Verwertungsräume und Verwertungsbedingungen für die "endlose Kapitalakkumulation" zu erschließen. Frieden, wie von vielen ersehnt, wird es in dieser Perspektive nicht geben.

III.

Einige mir persönlich wichtige Anmerkungen zum Schluss:

1. Erweisen wir den linken Bellizisten eine Absage, die den Irakkrieg als "bewaffneten Fortschritt" für die "zurückgebliebenen Völker" des Nahen und Mittleren Ostens preisen, mit dem der geographische Raum für Demokratie und Freihandel geöffnet werden soll. Der Fortschritt des Kapitals und seiner linken Apologeten ist das Fortschreiten der Barabarei. Ist das Fortschreiten globaler Gewalt. Ist die Anhäufung der Gewaltmittel und Leichenberge. In diesem Umbruchsgeschehen, das alle gewohnten Verhältnisse durcheinanderwirbelt, orientieren und sortieren sich auch die "linken Gruppen" neu. Teile von ihnen mutieren zu "bewaffneten Missionaren" und Avantgarden kapitalistischer Globalisierung.

2. Lasst uns nicht den sozialimperialistischen Manövern auf den Leim gehen, die sich in der antiislamistisch rassistischen Propaganda und den Sicherheitsdiskursen von Überwachung und Kontrolle einkleiden, die die Menschen zu einer leidensfähigen "nationalen Standort- und Sicherheitsgemeinschaft" verschweißen wollen. Angesichts der sozialen Unsicherheit breiter Bevölkerungsschichten und die sozialen Desintegrationswirkungen der sozialpolitischen Demontage müssen wir damit rechnen, dass ein nach innen und außen hochgerüsteter "Sicherheitsstaat" die immer noch privelligierten Bevölkerungen der wohlhabenden Metropolen in seine Strategien imperialistischer Globalisierung einzubinden vermag, indem er medial das Schreckgespenst der Horden gewaltbereiter junger Muslime aus dem Nahen und Mittleren Osten projiziert. Gegen diese neue Feindbildung "der gefährlichen arabischen Massen" müssen wir Stellung beziehen.

3. Aus menschenrechtlicher Sicht haben wir heute auf der Seite der Millionen Menschen zu stehen, die die Gewalt kapitalistischer Globalisierung zu Vertriebenen und Entwurzelten gemacht hat. Das sind hier in Deutschland die Migrantinnen und Migranten, die auf der Suche nach Überlebensperspektiven für sich und ihre Familien den Schütterzonen der Globalisierung, den wirtschaftlichen Depressionsregionen und politischen Krisengebieten entronnen sind. Die Verteidigung ihrer Menschenrechte wird zur vorrangigen Aufgabe. Zudem haben wir auf der Seite der Weltarmut und ihrer Kämpfe um Befreiung zu stehen. Der permanente globale Krieg für freien Handel und kapitalistischen Fortschritt ist grenzenlos. Emanzipation lässt sich deshalb nur noch in internationalistischer Perspektive vorstellen. Und die materiellen Bedingungen dazu sind vorhanden. Eine Welt ohne Herrschaft und Armut ist möglich. Die Zukunft des Weltsystems heißt darum immer noch: Sozialismus oder Barbarei! Anders ausgedrückt: Es geht immer noch um die uneingelösten Versprechen der bürgerlichen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Weltweit.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

E-Mail:   roessler.vogelskamp@gmx.de
 zum Anfang

 vorheriger

 nächster
  
Artikel

       
Einige weitere Texte (per Zufallsauswahl) zum Thema
Ostermärsche
Ostermärsche
OM 2003 - Rede J.Huffschmid, Oldenburg, 19.04.03
OM 2003, Rede T.Gocht, Mainz, Frankfurt,19./21.04.03
OM 2004: Aufruf Ruhr
OM 2004 - Aufruf München
OM 2004 - Aufruf Ulm -

Bereich

 Netzwerk