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Erstellt:
13.05.1998


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zu: Aktion Jericho - Inhalt

Kriminalitätsursachen lassen sich nicht abschieben

Klaus Jünschke

Wenn sich in unserer Gesellschaft die Einsicht durchsetzen würde, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist, und es zu entsprechenden Änderungen des Staatsbürgerrechts und des Ausländergesetzes käme, wäre einiges gewonnen. Die "Ausländerkriminalität" würde dra-stisch sinken, weil alle gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger wären. Damit wäre auch die mit der Abschiebung von straffällig gewordenen MigrantInnen gegebene Doppelbestrafung vom Tisch. Nicht nur für die Betroffenen und ihre Angehörigen und Freunde, sondern auch für unsere Gesellschaft insgesamt wäre das ein wirklicher Fortschritt.

Wolfgang Wirth hat 1997 alle "ausländischen Gefangenen im Jugendstrafvollzug NRW" befragt und dabei u.a. festgestellt: 70% der Gefangenen waren entweder in der Bundesrepublik geboren oder lebten seit mindestens 10 Jahren hier - nur 10% waren weniger als drei Jahre vor ihrer Verhaftung in die Bundesrepublik eingereist. Mit anderen Worten - die "Ausländerkriminalität" ist made in Germany. 6,8% der Inhaftierten hatten keinen festen Wohnsitz. 4,3% waren Vollwaisen, 30% lebten in unvollständigen Familien (Vater oder Mutter waren gestorben oder hatten sich von der Familie getrennt). 73,9% hatten keinen Schulabschluß. 96% hatten keine Berufsausbildung. 74% waren bei der Tatbegehung arbeitslos. 15,9% waren schon als Kinder aktenkundig geworden.

Die Sozialarbeiter im Kölner Gefängnis gehen überdies davon aus, daß 50% aller jungen Gefangenen drogenabhängig sind. Auch hier gibt es zwischen deutschen und nichtdeutschen Gefangenen keine beachtlichen Unterschiede. Selbst die nichtdeutschen Jugendlichen, die nur wenige Jahre in der Bundesrepublik leben, treffen in den Gefängnissen auf ihre deutsche Vergleichsgruppe - die jugendlichen Aussiedler. Sie haben viel mehr gemeinsam als nur ihre Sprachprobleme.

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Aktion Jericho - Inhalt
In allen Einwanderungsländern sind die "ethnischen Minderheiten" in den Gefängissen extrem überrepräsentiert. Jeder zweite der 1,6 Millionen Gefangenen in den USA ist schwarz.

In den Jugendstrafanstalten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen sind 40% aller Jugendlichen und Heranwachsenden ohne deutschen Paß. Tendenz steigend. Die allermeisten von ihnen erhalten im Laufe ihrer Haft die Abschiebeandrohung. Wieviele dann letztlich abgeschoben werden, kann nicht gesagt werden - darüber gibt es in der Bundesrepublik keine Statistiken.

Nicht nur der Vergleich mit den klassischen Einwanderungsländern zeigt, daß es unsinnig ist, sich mit der Frage zu befassen, ob "Ausländer krimineller sind als Deutsche". All diese Berechnungen kritischer Kriminologen, die in ihren Auseinandersetzungen mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) immer wieder zu dem Schluß kommen, daß die "ausländische Wohnbevölkerung" nicht straffälliger oder sogar weniger straffällig wird als die deutsche, erreichen diejenigen nicht, die glauben, daß es einen Zusammenhang zwischen Paß und Kriminalität gibt. Als Gerhard Schröder im vergangenen Sommer die "noch schnellere Abschiebung der kriminellen Ausländer" forderte, hat Emnid die WählerInnen der verschiedenen im Bundestag vertretenen Parteien gefragt, was sie davon halten: 68% der WählerInnen von Bündnis90/Die Grünen stimmten zu und die WählerInnen der PDS, der SPD und der CDU/CSU zu über 80%.

Die Ideologie der "Inneren Sicherheit", d.h. die Transformation von sozialen Konflikten in Probleme der Überwachung und Kontrolle, hat sich durchgesetzt. Dabei geht es nicht mehr um die Veränderung von sozialen Situationen, durch die es zu Straftaten kommt, sondern um die Bekämpfung von Menschen, die Straftaten begehen. Und dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Menschen: hinter diesem "Krieg gegen das Verbrechen und die Drogen" steht nichts anderes als ein Krieg gegen die Armen. Repressive Kriminalpolitik ist zwangsläufige Begleiterscheinung der Zerstörung des Sozialstaats. Verunsicherungen und Ängste werden von den dafür Verantwortlichen nach Mafia-Manier verarbeitet - sie bieten ihren Schutz an. Daß die Rechnung derjenigen aufgeht, die Kriminalitätsfurcht verbreiten, reflektiert nicht nur die zahlenmäßige Schwäche der Linken.

Migranten kommen seit 1953, als die ersten Italiener in die Bundesrepublik kamen, in den Medien fast nur als Straftäter vor. Diese Art der Stigmatisierung und öffentlichen Herabwürdigung über Jahrzehnte hat dazu geführt, daß heute eine Mehrheit in der Bundesrepublik glaubt, daß "Ausländer krimineller als Deutsche" sind. Für sie ist Kriminalität quasi zur "Ausländereigenschaft" geworden. Eine wahnsinnige Leistung in einem Land, von dem in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege ausgelöst wurden und das das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zu verantworten hat. Mit Rassismus allein ist das nicht zu erklären.

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Aktion Jericho - Inhalt
Der stillschweigende Konsens, daß mit "Ausländern" im Zusammenhang mit Kriminalität nicht unsere österreichischen, schweizerischen, französischen, belgischen usw. Nachbarn gemeint sind, sondern die "Schwarzköpfe" aus den Mittelmeerländern und neuerdings auch die Osteuropäer, hat eine Entsprechnung in dem, was gemeint ist, wenn hierzulande von Kriminalität gesprochen wird. Es geht dabei regelmäßig nicht um die Verbrechen der Reichen und Mächtigen, sondern um delinquentes Verhalten von Armen und Ohnmächtigen: Kinderkriminalität, Jugendkriminalität und "Ausländerkriminalität" beherrschen die Schlagzeilen. Ein anderes Mißverhältnis zeigt sich in fast allen Beiträgen zur Bekämpfung der "Gewaltkriminalität". Dabei steht nicht das größte Gewaltproblem unserer Gesellschaft, die millionenfache Gewalt gegen Frauen und Kinder, im Zentrum der Auseinandersetzung, sondern die Gewalt auf den Straßen - so als seien nicht die eigenen vier Wände, sondern die Straßen für die meisten Menschen der unsicherste Ort in unserer Gesellschaft, so als seien die meisten Gewalttäter nicht Angehörige, Verwandte und gute Bekannte, sondern Fremde.

Die Tatsache, daß die Armen und Ohnmächtigen im Gefängnis nahezu unter sich sind, ist keine Auskunft über Kriminalität in unserer Gesellschaft, sondern über den Umgang mit Armen und Ohnmächtigen. Dabei kann selbst in Schriften des Bundeskriminalamtes nachgelesen werden, daß es die Reichen und Wohlhabenden sind, die in unserer Gesellschaft den größten finanziellen Schaden anrichten. Aber sie sind in den Gefängnissen extrem unterrepräsentiert. Nicht zufällig steht in unserer Gesellschaft Geld für Freiheit.

Der Hamburger Kriminologe Fritz Sack hat darauf aufmerksam gemacht, daß das strukturelle Ungleichgewicht in sozialen Beziehungen den privilegierten Partner zum Ausspielen seiner Macht geradezu verführt: "Dieser strukturelle Mechanismus asymetrischer Sozialbeziehungen ist vermutlich der wirksamste "Generator" von Gewalt in sozialen Auseinandersetzungen und politischen Konflikten."

Der traditionell unpolitische Umgang mit Kriminalität in unserer Gesellschaft blendet Machtstrukturen aus. Ende der 60er, als das ganze Leben politisiert wurde, war das kurze Zeit anders. Mit der Wahrnehmung des sozialen Kontextes von Kriminalität entstanden Initiativen wie die zur Befreiung von Heimzöglingen und es gab in fast jeder Stadt mehrere Initiativen für menschenwürdige Haftbedingungen. Die Abschaffung der Gefängnisse war ein Thema, weil klar war, daß das Gefängnis kein Ort zum Erlernen "sozialer Verantwortung" ist. Die Versprechen der Revolte, mehr Demokratie, mehr Freiheit und größere Gleichheit, konnten nicht eingelöst werden. Das "strukturelle Ungleichgewicht" hat sich in den folgenden Jahren vergrößert. Die Ideologie der "Inneren Sicherheit" beherrscht die Köpfe. Jede noch so bornierte "law-and-order"-Forderung erhält die Aufmerksamkeit der Massenmedien. Das "soziale Netz" wurde zur "sozialen Hängematte" umdefiniert und dann begann seine Auflösung - die Lücken werden mit Gittern geschlossen. Immer mehr Menschen werden eingesperrt, die Gefängnisse sind überfüllt, die Zahl der Todesstrafenbefürworter wächst und der Widerstand gegen Abschiebungen ist marginal. Der Staat selbst schafft sich mit der repressiven Kriminalpolitik einen "harten Kern" von sogenannten "Unverbesserlichen", die ihrerseits wieder zum Anlaß für den Ruf nach noch mehr Härte werden.

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Aktion Jericho - Inhalt
Mit der Relativierung oder Verharmlosung von Taten, die andere schädigen, verletzen oder gar töten, ist nicht aus dieser Defensive herauszukommen. Genausowenig eignen sich traditionelle politische Kampagnen zur Auflösung der eskalierenden law-and-order-Tendenz. Woran können wir anknüpfen? Es gibt eine breite Palette von Initiativen und Projekten, die für alternative Konfliktregelungen stehen, wie der Täter-Opfer-Ausgleich, der Wiedergutmachung statt Strafe will, oder Haftvermeidungsprojekte, die für Alternativen zur Einsperrung stehen. In der Regel sind die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände ihre Träger. Angesichts des voranschreitenden Sozialabbaus wächst auch hier die Einsicht in die Notwendigkeit der Re-Politisierung der Sozialarbeit. Aber sie werden es allein auf sich gestellt und allein aus sich heraus nicht schaffen. Umgekehrt sollte im politischen Raum die Einsicht in die Notwendigkeit von sozialen Projekten mit und für Kinder und Jugendliche wachsen - um Verelendungstendenzen zu begegnen und aufzulösen. Das ist ein politisches Projekt zur Sicherung der Voraussetzung von Emanzipation. Ein Blick auf die sozialen Merkmale und Nöte der inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden mit und ohne deutschen Paß sagt uns, was zu tun ist.

Klaus Jünschke ist Mitarbeiter beim Kölner Appell gegen Rassismus

E-Mail:   koelner.appell@t-online.de
Internet: http://www.contrast.org/borders





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