Die multikulturellen Journalisten Sarajevos als letzte Hoffnung auf Versöhnung

Geistige Waffen gegen den Hass

von Roland Reich
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

"Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit". Diesen Satz, der als Überschrift für die Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 15. bis 17. Dezember 1995 gewählt wurde, las ich zum ersten Mal im Ab­stract des Artikels "Der Wahrheit eine Waffe" von Peter Glotz in der ZEIT von 10.09.1993 S. 57.

Bereits 6 Wochen vorher hatte Marlene Nadle in einem ähnlichen Artikel in der ZEIT vom 30.07.1993 unter der Über­schrift "Wenigstens mit Worten kämp­fen" deutlich gemacht, daß die Opferung der Wahrheit durch nationalistische Volksverhetzung in den staatlich kon­trollierten Medien der Schlüssel zur Macht für die serbischen und kroati­schen Führer und ein unentbehrliches Werkzeug für die Einleitung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien gewesen ist: " Eine fünfjährige Propa­gandakampagne war nötig, um die Men­schen ethnischen Hass zu lehren. Mit grässlichen Fernsehbildern ... manipu­lierte man ihre historischen Ängste. Mit Lügen und Verdrehungen führen die Staatsführer einen psychologischen Krieg gegen die eigenen Bürger." Die logische Konsequenz aus den Analysen von Nadle und Glotz konnte nur lauten, daß man an dieser Stelle in erster Linie den Hebel hätte ansetzen müssen, um auf wirksamste, billigste und schon­samste Weise die Tragödie im ehemali­gen Jugoslawien zu unterbinden: Der Westen hätte seine Medienmacht als nichtmilitärische Waffe einsetzen sol­len, um der demokratischen Opposition in den Ländern des ehemaligen Jugo­slawien Gelegenheit zu geben, die Hass säende Regierungspropaganda zu kom­pensieren. Frühzeitig genug angewandt, hätte man mit einer solchen "Waffe für die Wahrheit" den Krieg wahrscheinlich ohne militärische Eingriffe von außen im Keim ersticken können.

Weil in Sarajevo die Menschen ver­schiedener Volksgruppen seit ihrer Kindheit in den Schulen miteinander in Kontakt und in vielen Fällen sogar per­sönlich befreundet waren, sind sie der Hasspropaganda von außen nur teilweise zum Opfer gefallen, die ihnen suggerie­ren sollte, daß die jeweils anderen ei­gentlich keine richtigen Menschen wie sie selber, sondern gefährliche Schäd­linge wären. Nur bei vollständiger eth­nischer Trennung und informatorischer Abschirmung können die Verführer ihre jeweilige Volksgruppe durch Hass gegen die anderen zusammenschmieden und diktatorisch beherrschen. Solange die multikulturelle Gesellschaft noch be­steht, widerlegt sie durch ihre bloße Existenz die Propagandalügen der Ver­führer. Im Falle ihrer Erhaltung könnte die multikulturelle Gesellschaft daher zum Samenkorn einer wirklichen Ver­söhnung zwischen den verschiedenen bosnischen Volksgruppen werden und diese vom Alptraum ihrer gegenseitigen Feindbilder befreien. Gerade durch stellt die multikulturelle Gesellschaft aber eine Bedrohung der Verführer dar, de­ren diktatorische Macht auf eben diesen Feindbildern beruht. Um ihre Macht zu erhalten, haben die gegnerischen Kriegsherren daher das gemeinsame Ziel, die multikulturelle Gesellschaft zu zerstören.

Versöhnung und wirklicher Frieden würde eigentlich die Bereitschaft zur Wiedergutmachung erfordern, d.h. die Rückkehr aller Vertriebenen, soweit diese das wollen und soweit sie noch am Leben sind. Nach allem, was sie öffent­lich proklamiert haben, können die Füh­rer der bosnischen Serben darauf natür­lich nicht eingehen, ohne ihr Gesicht zu verlieren, zumal sie ja auch die Wut ih­rer eigenen Bevölkerung fürchten müß­ten, wenn diese allmählich begreift, mit welchen Lügen ihre Führer sie kriegsbe­reit gemacht haben. "Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, Bö­ses muß gebären." Dasselbe gilt für die kroatische nationale Führung. Lediglich die bosnische Regierung, die selbst multi-ethnisch zusammengesetzt ist, hat aus Selbsterhaltungstrieb so lange wie möglich die Erhaltung der multi-ethni­schen bosnischen Bevölkerung gefor­dert. Begünstigt durch die ignorante in­ternationale Außenwelt gewinnen aller­dings auch hier allmählich nationalisti­sche Elemente zunehmend an Einfluss, die rein moslemische Siedlungsgebiete für wünschenswert halten.

Mit dem Abkommen von Dayton hat der organisierte Völkermord (vor­über­gehend?) aufgehört. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo die nationalistische Indoktrination der voneinander abgeschirmten Volksgrup­pen durch ein (für die multikulturellen Journalisten der Zeitung Oslobodjenje in Sarajevo gestiftetes) Satellitenfernsehn durchbrochen und so die geistige Ver­söhnung mit allen Kräften versucht werden muß."

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Krisen und Kriege
Roland Reich ist Professor an der FU Berlin