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Rezension
Gratwanderung: Weltordnung im Überblick
vonFriedensgutachten 1991. Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST); Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (HSFK) und Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Hrsg. von Johannes Schwerdtfeger, Egon Bahr und Gert Krell. Lit-Verlag, Münster, Hamburg 1991, 363 Seiten.
1990 hatten die Forscher der drei führenden deutschen Friedensforschungsinstitute, die alljährlich ein Gutachten zum Stand der friedenspolitischen Entwicklung in der Welt vorlegen, noch in einem dramatischen Szenario Klimakatastrophe und Ozonloch an die erste Stelle der Gefahrenskala gerückt. Damit trugen sie einem seit längerem eingeleiteten Paradigmenwechsel hin zur ökologischen Dimension des Friedens Rechnung. Bei der Vorlage des fünften Friedensgutachtens in diesem Jahr zeigt der warnende Finger der Friedensforscher stärker auf die labile Ambivalenz einer Weltordnung im Übergang. Die schien noch vor Jahresfrist ungeahnt positive und friedliche Entfaltungsmöglichkeiten zu bergen. Nun sind sie von einer Phalanx von Problemen im Gefolge des Golfkrieges nahezu verstellt.
Zwar konstatieren die Forscher positiv die mit der Pariser KSZE-Konferenz und der auf ihr angenommenen Charta von Paris bewirkte Auflösung des Ost-West-Konfliktes. Doch die Perspektive eines die Weltkonflikte positiv und kooperativ beeinflussenden politischen Bilateralismus der amerikanisch-sowjetischen Superpartner (Gert Krell) scheint im Gefolge des Golfkrieges und des politischen Übergangs in Süd-, Mittel- und Osteuropa mit seinem gefährlichen Machtvakuum einigermaßen verhagelt. Das Augenmerk liegt zu Recht auf den neuen Konfliktpotentialen: zunehmende Verarmung, Renationalisierung und Remilitarisierung der weltweiten Konflikte lassen den Übergang zu einer neuen Weltpolitik in den Augen der Forscher zu einer gefährlichen Gratwanderung werden.
Neuer weltpolitischer Dualismus Nord-Süd?
Zur Tradition dieses Friedensberichtes gehören die überaus vorsichtig-zögerlichen und widersprüchlichen Schlußfolgerungen. So warnen die Friedensforscher in Bezug auf die Folgen des Golfkrieges zwar vor einer alarmistischen Überinterpretation: Der Krieg sei kein Nord-Süd-Krieg gewesen und könne auch nicht als Beginn einer weiteren Nord-Süd-Polarisierung der Weltpolitik verstanden werden. Es gebe keinen Trend zur Herausbildung eines neuen weltpolitischen Dualismus von der Art des Ost-West-Konfliktes (Lothar Brock, 99f), weil dem Nord-Süd-Konflikt die gesellschafts-, bündnispolitische und militärische Konsistenz des Ost-West-Konfliktes gefehlt habe. Der Bericht liegt damit im Konsens des liberalen Flügels der kritischen Friedensforschung. Schon im Juli 1990 hatte der Bremer Friedensforscher Dieter Senghaas auf der ersten gesamtdeutschen Friedensforscherkonferenz davor gewarnt, von den singulären Gefahrenlagen im Nord-Süd-Verhältnis auf einen künftigen militärischen Nord-Süd-Konflikt zu extrapolieren. Ein halbes Jahr später wurde der Golfkrieg ausgekämpft.
Nun - wer würde auch von einem abrupten Übergang von der einen dominierenden globalen Konfliktformation zur anderen gleichsam über Nacht ausgehen? Aber möglicherweise ist er eingeleitet worden? Denn im gleichen Atemzug sprechen die Forscher von Ansätzen eines Kulturkampfes zwischen Orient und Okzident(99) und machen damit den Wandel der gesellschaftlichen Faktoren und Bewußtseinslagen deutlich, die die angesprochene gesellschaftliche Konsistenz letztlich ausmachen: Den Wandel und die Neukonstituierung von Feindbildern beispielsweise im Gefolge der beängstigenden Migrationswellen (man denke an die Diskussionen um Betty Mahmoodys Bestseller Nicht ohne meine Tochter). Und scheint sich nicht die ganze bislang die Ost-West-Richtung in einem schizophrenen Angstfrieden haltende Militärmaschine langsam aber sicher nach Süden zu drehen? Denn die Forscher weisen auf die nach Süden gerichteten neuen Bedrohungsszenarien (Lothar Brock, 102) und neuen Machtprojektionen (Bernhard Moltmann, 80) samt den entsprechenden Änderungen der militärischen hardware hin.
Sein besonderes Augenmerk richtet der Bericht auf die ökonomische Situation im Süden und auf die Menschenrechtsproblematik. Probleme der ungerechten Weltwirtschaft stehen diesmal an erster Stelle des Gutachtens. Nicht nur sehen sie die Entwicklungsländer weiterhin durch die Verschlechterung der terms of trade sondern auch durch die sozialen und ökologischen Folgekosten des Golfkrieges dauerhaft benachteiligt. Sie beschleunigen die sowieso schon rasende Abwärtsspirale aus Verarmung, ökologischem Raubbau und zunehmender Konfliktträchtigkeit zusätzlich. Dazu kommt eine gestiegene Kriegsdynamik im Süden. Die Konflikte lösen sich aus dem Schatten des Ost-West-Konfliktes, autonomisieren sich. Die Tendenz einer westlichen Vorbildern nachgeahmten Politik der nationalen Sicherheit mit regionalen Rüstungswettläufen und der nachfolgenden Erosion des atomaren Nichtweiterverbreitungsregimes verstärkt sich.
Angesichts dieser Konfliktpotentiale warnen die Forscher vor den wiederum durch den Golfkrieg deutlich gewordenen Ambivalenzen der weltpolitischen Neuordnungsvorstellungen der USA, die nicht das alte Konzept der US-Sicherheitspatronage (92) oder eine neue Hegemonialrolle zuließen. Hier ein mischen sich bemerkenswerte Empfehlungen, die aufhorchen lassen, weil sie über die traditionellen Zielvorstellungen hinausgehen. Die geforderte Neuorientierung der Entwicklungspolitik mit einer Anti-Armut-Schwerpunktsetzung und des human-centered development die Neuordnung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen müsse sich partiell gegen den Weltmarkt (Hans Diefenbacher, 24) richten. Diese Einsicht steht freilich ein wenig unvermittelt gegen die im Zusammenhang mit der Forderung nach der wirtschaftlichen und politischen Neuordnung im Osten skizzierten Leitidee nach funktionierenden Marktwirtschaften (Hans-Joachim Spanger, 191) und den in dem entsprechenden Beitrag aufgezeigten verheerenden ökologischen Folgen dieses Systems auf dem gesamten Globus.
All diesen Entwicklungen entgegen steht das westliche Beharren auf dem System der Abschreckung. Deswegen hat sich das im 1990er Gutachten bis dahin am deutlichsten vernehmbare Signal nach dem Bruch mit dieser Politik verfestigt. Aus den für den Laien kaum noch nachvollziehbaren und im Band ziemlich Fachchinesisch verschlüsselt dargebotenen Analysen zur Abrüstung läßt sich nur eine Stagnation der vielversprechenden Ansätze im Bereich konventionelle Abrüstung und bei START ablesen. Auf der Tagesordnung stehen neue Begründungen der Rolle des Militärs bei der NATO in steter Umkehr des positiven Signals des NATO-Gipfels von London und die qualitativ effektivierte Umrüstung des Militärpotentials. Das lässt sich an der relativen Stagnation der Rüstungsbeschaffungsetats und dem immensen Wachstum der Etats für militärische Forschung und Entwicklung ablesen. Götz Neuneck warnt in einem hervorragenden und informativen Beitrag zu neuen Rüstungstechnologien vor der Gefahr einer verminderten Konfliktschwelle, die das High-Tech-Militär der Zukunft birgt.
Gerade deshalb ist die Formulierung, in einem zukünftigen System der Friedenssicherung den militärischen Sicherheitsüberlegungen nicht erneut den Stellenwert einzuräumen (Lothar Brock, 104), die Forderungen nach gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen und ausschließlich politischer Konfliktregelung außerhalb der Institutionen des Kalten Krieges, die den Wandel zur Entmilitarisierung stoppen wollen, von großer Bedeutung. Die ersten positiven Ergebnisse in der Abüstung, insbesondere bei der Verifikation sollten angesichts der erklärten Abrüstungsbereitschaft der neuen Staaten in Osteuropa genutzt werden. Etwas zu kurz kommt in dem Gutachten die Belichtung der aus dem innerwestlichen Verhältnis im Dreieck USA-EG-Japan möglicherweise konfliktträchtigen Verschiebungen im Gefolge der Erosion der US-Ökonomie.
Mit den aufgezeigten Zusammenhängen machen die Forscher darauf aufmerksam, daß Friedensstrategien der Zukunft nur dann Erfolg haben werden, wenn sie zusätzlich zur politisch-militärischen Ebene auch ökonomisch und sozial angelegt sind. Notwendig bei uns und in der Welt ist ein grundlegender ökologischer und sozialer Wandel, der einen überlebensfähigen Umbau unserer Zivilisation und eine wirkliche Existenzsicherung in der Zweidrittelwelt möglich macht und auf diese Weise Gewaltanwendung und Konflikte zurückdrängt. Diese Strategie scheint auch das beste Mittel als Ausgleich gegen die Radikalisierungsgefahren, die aus dem politischen und sozialen Vakuum erwachsen, wie es sich beispielsweise in der ehemaligen DDR breitmacht. Eine neue Friedensordnung, so hat es Gert Krell unüberhörbar festgestellt, trägt nicht ohne die Rekonstruktion der Weltwirtschaftä(Gert Krell, 66).
Die Rolle Europas als Schrittmacher
Wenn man sich über die Durchsetzungschancen solcher Veränderungen Gedanken macht, wird automatisch die Bedeutung einer positiven Rolle Europas für diese friedensfähige Zivilisationsentwicklung deutlich. Europa scheint in dem Ensemble der weltpolitisch relevanten Kräfte noch am ehesten in der Lage, wenigstens Weichen für eine neue Entwicklungsrichtung zu stellen. Als erste, konkrete Politikempfehlungen für eine solche Wende seien deshalb anstelle pauschaler Abrüstungsforderungen die wichtigsten einzelnen Empfehlungen herausgestellt:
- gemeinsame Entwicklung militärischer Strategieentwicklung zusammen mit der Sowjetunion bzw. den aus dem Umordnungsprozeß in der ehemaligen SU erwachsenden Staaten
- Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses insbesondere im Bereich der Konfliktlösungsinstitutionen
- Abkehr von der Abschreckung
- Aufstellung einer ausschließlich zivilen europäischen Einheit zur L”sung humanitärer Aufgaben in Krisengebieten
- Aufnahme qualitativer Parameter wie Rüstungstechnologieentwicklung und Einbezug der Kontrolle des Rüstungsforschungsetats in den Prozeß verhandelter Rüstungskontrolle
- Einrichtung von Fonds für die Entwicklungsländer für Energie und Sozialalternativen
Weisser Fleck: Gesellschaftliche Friedensarbeit
Eingefleischten Antimilitaristen wird das Friedensgutachten ein wenig zu bedächtig und staatsfixiert sein. Wie schon im letzten Jahr, so zeichnet sich nämlich auch das diesjährige Gutachten durch seine ausgeprägt statistische Sichtweise aus. Nahezu alle Appelle zum politischen Handeln richten sich an die Bundesregierung. Staat und staatliches Handeln stehen im Vordergrund der Analyse. Kaum als Adressat noch gar als systematisch durchleuchteter Untersuchungsgegenstand tauchen andere Träger gesellschaftlicher Friedensarbeit und -politik auf. Von der Regierung (sic!) wird im Zusammenhang mit der Entwicklung in Osteuropa kurz und knapp die Forderung nach einem Beitrag zur Stabilisierung und Entstehung 'ziviler Gesellschaften' (Hans-Joachim Spanger, 191) gefordert. Bis ins eigene Land reicht dieses Interesse nicht.
Die große Friedensdemonstration in der Bundesrepublik gegen den Golf-Krieg wird im Gegensatz zu dem Hang zu akribischer Empirie und Vollständigkeit des Gutachtens weder erwähnt noch in der Zeittafel aufgeführt, die ansonsten jede noch so unwichtig erscheinende Auslandsreise der Regierungspolitiker verzeichnet. Einzig Bruno Schoch von der Frankfurter HSFK geht in einem kurzen Schlenker kritisch auf die umstrittene Haltung der Friedensdemonstranten im Golf-Krieg ein. Ihr wirft er angesichts der klaren Agression Saddam Husseins einen doppelbödigen und hilflosen Fundamentalismus mit der Gefahr der Abkoppelung vom Westen vor. Diese notwendige, aber doch etwas von oben herab geführte Auseinandersetzung mit den Orientierungs- und Strategieproblemen der Friedensbewegung zeigt so vor allem die Distanz zu dem gesellschaftlichen Phänomen sozialer Bewegung, dem ein Teil des Denk- und Strukturwandels zu verdanken ist, auf dem die Empfehlungen der Friedensforschung heute aufbauen können.
Diese ganz unwissenschaftlich stur zu nennende Abstinenz mag markt- und profilierungsstrategische Gründe haben - beispielsweise dem seit zwei Jahren erscheinenden Jahrbuch Frieden des Beck-Verlages gegenüber, das die gesamte Palette der weichen Themen der kritischen Friedensforschung von der Kriegsdienstverweigerung bis zur Arbeit der internationalen Friedensbrigaden annotiert und analysiert. Möglicherweise wird mit diesem Verzicht vor allem auch gegenüber Regierung und Parlament ein seriöseres Erscheinungsbild angestrebt, das die Chancen erhöht, daß die Empfehlungen der langen Jahre erbittert bekämpften Friedensforschung auf politisch fruchtbaren Boden fallen. Freilich wird dadurch eine eingeschränkte Rezeption in Kauf genommen, die wiederum nicht zu dem expliziten Selbstanspruch der Friedensforschung nach Adressatenvielfalt passt.
Angesichts der immensen friedenspolitischen Bewußtwerdung allein des letzten Jahres im Protest gegen den Golf-Krieg, bei den selbstorganisierten Bürgerversammlungen für den Frieden (Citizens Assembly) und nicht zuletzt angesichts der Bedeutung der Volksmassen für den friedlichen, explizit gegen Militär und Rüstung gerichteten Umschwung in Osteuropa, zuletzt am Beispiel des Putsches in Moskau so eindrucksvoll demonstriert, muß das als ganz unverständliche Ignoranz erscheinen, die den ansonsten positiven Gesamteindruck entscheidend schmälert.
Trotz dieser Kritik muß dem Friedensgutachten in der vorliegenden Fassung eine überaus präzise, nüchterne Leistung bescheinigt werden.