Sarajevo heute - Einige Eindrücke

Helfen wir Sarajevo jetzt!

von Klaus Vack
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Fadila Bozic 1939-94. Rasim Dobojilic 1912-94. Ruzica Kraguli 1951-94. Nada Uzelag 1931-94. Drago Hozo 1985-94. NN 1994. Sechs schlichte Bretter mit diesen Aufschriften in Grabhügel gesteckt, geben Auskunft über die durch Heckenschützen getöteten Zivilisten, die am Mittwoch, 8. Juni 1994 auf dem sogenannten Leo-Friedhof in Sarajevo bestattet wur­den. 30 weitere Gräber sind ausgehoben. Gerade wurde erneut in Genf eine vierwöchige Kampfpause vereinbart, was zur Folge hatte, daß die in letzter Zeit rückläufigen Schießereien aus den Bergen in die umzin­gelte Stadt in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wieder zunah­men.

Der Leo-Friedhof und ähnliche dienen ausschließlich der Bestattung von Zivi­listen, die durch Granat-Schrapnelle oder Heckenschützen ermordet wurden. Er war vor dem jetzigen Krieg Partisa­nen-Gedenkstätte, die ein überdimen­sionaler Löwe, ein Monument aus dem vergangenen Jahrhundert, überragte. Dem steinernen Löwen ist das gesamte Hinterteil weggeschossen worden. Wahrscheinlich zu Anfang des Krieges, denn aus den Trümmern und Steinritzen wachsen bereits Gras und kleine Bäume.

Ich gehe mit meinem Begleiter Adan S., einem jungen Arzt, durch die Reihen und zähle 24 mit je 190 Erdhügeln und den schlichten Grabbrettern: 4.560 Tote. Die zivilen Opfer des Krieges können auch heute von offiziellen Stellen nur ungenau geschätzt werden: man spricht von etwa 20.000 Menschen, darunter 2.000 Kinder. Hierzu kommen 65.000 Verletzte.

Der Leo-Friedhof liegt leicht am Hang. Unterhalb verlief noch vor zwei Jahren ein großer Park ins Zentrum, in dem auch das Fußballstadion Sarajevos lag. Jetzt ist alles ein riesiges Gräberfeld, das in der Innenstadt mit den Todesdaten 1992 beginnt und am Leo-Friedhof mit 1994 endet.

Im September 1991, anläßlich der Euro­päischen Friedenskarawane, haben wir in dem mit einer exzellenten Auswahl von Bäumen gestalteten Park noch ge­meinsam mit 100.000 Menschen aus Sa­rajevo eine Kundgebung veranstaltet, die wir mit dem Friedenslied "We shall overcome..." beendeten. Die meisten Bäume des Parks wurden bereits im kalten Winter 1992/1993 gefällt, weil es keinen anderen Brennstoff mehr gab.

Obwohl noch immer gelegentlich Schüsse fallen, wirken die Menschen auf mich nicht hektisch und verängstigt, sondern eher gelöst. Sie stehen in Grup­pen, immer an Hauswänden und so auf Schutz bedacht, beisammen, berichten, wie sie den Krieg überlebt haben und sprechen über den Alltag in Not und Entbehrung. Die meisten von ihnen konnten sich monatelang nicht mehr be­gegnen, weil die Stadt unter ständigem Beschuss lag. Man vegetiert zurückge­zogen in noch intakten Räumen der zu­sammengeschossenen Häuser. Heute scheint die Sonne, die Straßenbahn ver­kehrt kostenlos, die Kinder spielen Fuß­ball oder Fangen. Und fast allerorts sind viele emsig dabei, jedes kleine Stück freier Parkfläche und jeden Grünstreifen in ein Gärtchen umzuwandeln, um bald etwas Grünzeug ernten zu können, denn ein Kilogram Kartoffeln kostet noch immer 10 DM; im Winter war der Preis dreimal so hoch.

Die Stadt Sarajevo, der "Staat" Bosnien-Herzegowina und Sarajevos einstmals starke Industrie haben auf absehbare Zeit kaum Arbeitsplätze anzubieten. Sowohl die Gebäude als auch die Infra­struktur sind zerstört. Der Arzt Adnan S., der wie alle seine Kolleginnen und Kollegen bis zur Erschöpfung arbeitet, hat als letztes offizielles Monatsgehalt von seinem Arbeitgeber, dem Kranken­haus, zwei Kilogramm Mehl erhalten.

Da mehrere Wasserpumpen zerstört sind, läuft nur zwei- bis dreimal in der Woche für einige Stunden Wasser in den noch intakten Wohnungen. Elektri­zität gibt es seit einigen Wochen wieder täglich von 20 bis 24 Uhr. Ab 20.30 Uhr, mit Einbruch der Dunkelheit, ist Sperrstunde.

Die Kernstadt ist zu 70 % zerstört. Alle ehemals markanten Gebäude ragen als Gerippe in den Himmel oder liegen in Schutt und Asche: die weltberühmte Bi­bliothek von Sarajevo, das Staatstheater, das Orientalische Museum, das Kon­greßzentrum, die Schulen, die Univer­sität, alle Farbiken, Banken, Postämter, die Hälfte aller Moscheen und sämtliche Anlagen der Winter-Olympiade von 1984.

Man sagt, es gäbe keine einzige Glas­scheibe in ganz Sarajevo, die heil geblieben sei. Die Fensterlöcher sind durch Plexiglas notdürftig ausgebessert.

Wie die Parks sind auch die einst prachtvollen Alleen ihrer Bäume im Winter 1992/93 beraubt worden, um den 300.000 eingeschlossenen Menschen ein bißchen Wärme zu spenden. Die Ein­schußlöcher auf den Straßen sind nur mühsam oder überhaupt nicht repariert. Zwei Mio. Einschüsse in 21 Monaten ist die Schätzung.

Ich habe Gespräche mit den rührigen Mitgliedern des Friedenszentrums Sa­rajevo geführt, das u.a. die Antikriegs­zeitung WHY herausgibt und sich der Versorgung der Ärmsten der Armen an­nimmt. Außerdem organisierte das Frie­denszentrum in den vergangenen drei Wintern ein Festival mit über 300 ein­trittsfreien Kulturveranstaltungen und Ausstellungen. Mein Dolmetscher und Mitglied des Friedenszentrums Jadranko F.: "Wenn mit der Zerstörung, mit Hun­ger und Todesgefahr auch die Kultur Sarajevos erlischt, hat diese traditions­reiche Stadt keine Perspektiven mehr."

Ich spreche mit Frauen und Männern ei­ner großen Bürgerinitiative, die das Schulwesen wieder in Gang bringen will und dringend Unterstützung braucht. Ich besuche das "Kammertheater 55", das mit seinen 350 Plätzen die einzige nicht beschädigte Kulturstätte Sarajevos ist. Seit Beginn hat dieses stets voll besetzte kleine Schauspielhaus täglich - ebenfalls kostenlos - eine Vorstellung gegeben: Kabarett, Kinder- und Erwachsenen­theater, Konzerte. Es hat Ausstellungen präsentiert und Mut gemacht, durch­zuhalten.

Was ich von meinen Gesprächspartnern höre und was die Menschen auf der Straße sagen, klingt ganz anders, als das, was die Staatsführung und die Mi­litärs verkünden. Man wirft ihnen vor, dieser Krieg hätte verhindert werden können, wenn es nicht um die Macht­gelüste und Machtkalküle gegangen wäre, verbunden mit brutaler "ethni­scher" Hetzpropaganda, die dann auch Wirkung zeigte.

Und dennoch leben in der nun seit über zwei Jahren eingeschlossenen Stadt die etwa 300.000 Einwohner, davon ca. 50% Bosniaken, 30% Serben, 12% Kroaten und 8% Angehörige anderer Volksgruppen wie Juden, Ungarn, Österreicher, Türken, Roma etc., weit­gehend friedlich beisammen. Tod und Hass kommen nicht aus der Stadt, son­dern aus den Bergen, die Sarajevo ein­schließen.

Seit einigen Tagen in Sarajevo und nach mehreren Urlaubsbesuchen vor dem Krieg in der Stadt, fühlt man sich als Fremder zugleich entsetzt über die zahllosen Gräber und die Zerstörung, aber auch geborgen in einer Gemeinschaft, in der alle gleichermaßen arm und bedürftig sind, sich aber ihre Würde bewahrt ha­ben.

Ohne in Überschwang zu geraten und keineswegs frei von Angst, von einer Kugel oder einem Schrapnell getroffen zu werden, könnte ich mir vorstellen, hier zu leben. Vor allem aber bin ich be­stärkt, weiterhin das meine zur friedens­politischen und humanitären Hilfe bei­zutragen.

Dieses Mal sind es insgesamt 50.000 DM Spenden des Komitees für Grund­rechte und Demokratie an das Frie­denszentrum, die Schul-Bürgerinitiative, das "Kammertheater 55", zur Produk­tion der Friedenszeitung WHY und für das nächste Winterfestival, ein Druck­kostenzuschuß für die Publikationen "500 Jahre Sarajevo" und "Die Ge­schichte der Juden in Sarajevo" - ge­messen an den Bedürfnissen zwar we­nig, aber hilfreich gemäß unserem Motto "Helfen statt schießen!"

Die Zytostatika im Wert von etwa 200.000 DM, die ich im Kosevo-Kran­kenhaus abgegeben habe, versetzen die Ärzte in die Lage, die krebskranken Pa­tienten Sarajevos etwa ein Jahr mit Me­dikamenten zu versorgen. Diese Medi­kamente werden Leben retten in einer Stadt, in der das Morden noch nicht beendet ist, aber sich vielleicht seinem Ende zuneigt.

Das auf dem Landweg abgeschnittene Sarajevo bedarf mehr noch als bisher der Hilfe aus der Luft. Es fehlt den Be­wohnern an allem, nur nicht an Waffen.

Sarajevo braucht jetzt, da der Krieg ru­higer geworden ist, einen guten Som­mer, den wir nutzen sollten, die Stadt auf den nächsten Winter vorzubereiten. Er wird auch ohne Krieg hart werden. Zuviel ist zerstört. Jadranko F. sagt es zögerlich: "Wenn Sarajevo überlebt und wenn seine Bürger sich nicht in die Dia­spora zerstreuen, dann wird es leichter sein, die schrecklichen Wunden dieses Krieges doch noch zu heilen." Ich denke, er hat recht. Fazit: Humanisten müssen helfen, wenn Krieg und Zerstö­rung die Menschen in Not und Ver­zweiflung stürzen. Ihr Engagement muß noch größer sein, wenn sie die Chance haben, zum Wiederaufbau einer zivilen Gesellschaft beizutragen. Helfen wir, wo die "Jungs da oben" versagen, wie es die kleine Zlata Filipovic in ihrem Ta­gebuch "Ich bin ein Mädchen aus Sara­jevo" beklagt. Helfen wir Sarajevo jetzt!

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Krisen und Kriege