Buchbesprechung

Kein Frieden mit der Wehrpflicht

von Verena Schulze

Die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die hohe Staatsverschuldung zwingen die Bundesrepublik dazu, den Gürtel enger zu schnallen.  Eine Möglichkeit zur nachhaltigen Kosteneinsparung wäre die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und eine drastische Reduzierung der Bundeswehr. Die Idee ist nicht neu, durch die derzeitige wirtschaftliche Lage, die zum Umdenken drängt, jedoch relevanter denn je. Insofern lohnt sich um so mehr die Lektüre eines zwar schon 2003 erschienen Buches „Kein Frieden mit der Wehrpflicht – Entstehungsgeschichte, Auswirkungen und Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht“ von Christian Herz. In dem Standardwerk wird die Geschichte der Einführung der Wehrpflicht beleuchtet, von ihren Anfängen in Frankreich und Preußen einige Jahre vor und nach dem Jahr 1800 durch alle deutschen Staatssysteme hindurch bis hin zur Gegenwart. Christian Herz griff bei seiner Recherche vorwiegend auf Primärquellen zurück – besonders bei der Forschung zum vergangenen Jahrhundert. Darunter befanden sich unveröffentlichte und nicht ausgewertete Materialien, die Lücken in der etablierten Literatur schließen konnten.

Zu Beginn des Zeitalters der Aufklärung und der Industrialisierung wurde mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht dem Bürger mehr Pflichten als Rechte eingeräumt und gleichzeitig die Bürokratie ausgebaut. In Preußen beeinflusste die Einführung der Wehrpflicht die deutsche Identität und führte zur Nationsbildung. Mit der Schaffung von Massenheeren wurden das Kriegswesen sowie die damit einhergehenden Kettenreaktionen grundlegend verändert.

In der vom preußischen Militarismus geprägten Kaiserzeit war das Militär bereits in allen Teilen der Gesellschaft präsent und übte – nicht zuletzt durch die „Erfolge“ auf dem Feld – große Anziehungskraft aus. Widerstand hatte keine Chance. Hier erreichte die Wehrpflicht militärstrategisch ihren Höhepunkt, bevor der einzelne Soldat auf Grund der Perfektionierung von Waffen und speziell von Massenvernichtungswaffen an Wichtigkeit verlor.

Während der Weimarer Republik konnte das Verbot der Wehrpflicht keine Veränderung des Militarisierungsgrads in der Gesellschaft bewirken. Große Teile der Bevölkerung organisierten sich in Freikorps, Soldatenverbänden und der SA, was das Klima für das Erstarken der Nationalsozialisten begünstigte. Herz beschreibt diese Periode als Zwischenstation auf dem Weg zum totalen Militarismus, der wiederum zum totalen Krieg führte.

Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im ‚Dritten Reich’ war Voraussetzung für die Pläne des Expansionskriegs und der Großmacht. Der Autor argumentiert, dass ein Unterlassen des Eingreifens aus dem Ausland gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Aufrüstung in Deutschland mitverantwortlich gewesen sei für den bald darauf folgenden Krieg. Während der Nazi-Zeit umfasste die Kriegsdienstpflicht fast die gesamte Bevölkerung. 

Die beiden deutschen Staaten begründeten die Wiedereinführung der Wehrpflicht mit der Bedrohung durch das jeweils andere Bündnis. In der DDR war die Wehrpflicht mit der Stabilisierung des Systems verbunden –  Verweigerung wurde deshalb nicht geduldet.

Im wiedervereinigten Deutschland konnte die Wehrpflicht trotz Verschwindens der Blockkonfrontation weiter existieren. Andere Gründe wurden zur Rechtfertigung herangezogen. Die Bundeswehr wurde mit moderner Ausrüstung und angepasster Ausbildung für den weltweiten Einsatz umstrukturiert und als Interventionsarmee global eingesetzt, um deutsche oder bündnispolitische Interessen durchzusetzen. Da mittlerweile nur noch etwa jeder Fünfte zur Armee geht – mit sinkender Tendenz – und nur ein Bruchteil der Bundeswehr der „Heimatverteidigung“ dient, kann nach Auffassung des Autors die allgemeine Wehrpflicht nicht gerechtfertigt werden und ist sogar verfassungswidrig. Weiter argumentiert Herz, dass die Wehrpflicht niemals kriegshemmend oder friedensfördernd gewesen sei, sondern die Kriegsbereitschaft erhöhe und somit die Kriege der letzten 200 Jahre erst ermöglicht habe.

Zusätzlich werden Herrschaftsstrukturen verfestigt, die von Männern dominiert werden, wodurch die Emanzipation der Frau gehemmt und die klassische Rollenverteilung gestärkt wird. Außerdem argumentiert der Autor, dass der militärische Einfluss auf die Verwaltung hierarchische Strukturen bewirkt, die die BürgerInnen in die Rolle von Untertanen drängen. Obwohl sich die Bundeswehr zu einem vielseitigen und fein durchgegliederten Dienstleistungskomplex entwickelt hat, haben sich die Grundstrukturen der Wehrpflicht nicht geändert.

Aber nicht nur auf die gesellschaftlichen, sondern auch auf die individuellen Auswirkungen der Wehrpflicht geht Herz ein. Die Trimmung auf Gehorsam prägt den Charakter eines Wehrpflichtigen maßgeblich, Individualität und Identität werden unterdrückt, die Tötungshemmung soll abgebaut werden. Dies führt zur Persönlichkeitsveränderung und psychischen Beeinträchtigung des Wehrpflichtigen.

Mit diesen Argumenten kommt man zu dem Fazit, dass sich die Wehrpflicht in Deutschland insgesamt negativ auf die Gesellschaft auswirkt und schnellstmöglich abgeschafft werden sollte. Ihre Abschaffung könnte einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft leisten, schließt der Autor. 

Christian Herz: Kein Frieden mit der Wehrpflicht – Entstehungsgeschichte, Auswirkungen und Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, Agenda-Verlag, Münster 2003, 29,80 Euro, ISBN 3-89688-165-5.

Ihr Beitrag wurde redaktionell gekürzt.

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Hintergrund
Verena Schulze hat Soziologie, Germanistik sowie europäische Studien in Exeter, Wien und Krakau studiert und ist jetzt für die Peace-Company in Berlin und im Bereich der erneuerbaren Energien tätig.