Sharon ..... und das halbvolle Glas

von Gila Svirsky
Friedensbewegung international
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Sharon scheint unsere schlimmsten Alpträume wahr werden zu lassen und er ist noch lange nicht fertig damit. Seitdem die Antifada begann, wurden über 1.700 Palästinenser und 400 Israelis getötet, zusätzlich zu den 35.000 verwundeten Palästinensern und den 4.000 Israelis. Bis jetzt. Die terroristischen Angriffe der Palästinenser in Israel sind schrecklich, aber sie wurden von Sharon benutzt, um Taten, die weit über die "Zerstörung der terroristischen Infrastruktur" hinausgehen, zu rechtfertigen. Die israelische Armee hat absichtlich jede palästinensische Institution, die nicht schon völlig zerstört war, in Stücke geschlagen, darunter Schulen, Krankenhäuser, Gesundheitsorganisationen, Banken, Radio- und Fersehstationen, sogar ein Puppentheater, nicht zu sprechen von der Vernichtung aller existierenden Akten in den Regierungsministerien. In einigen Orten machten israelische Panzer nicht einmal vor Moscheen und Friedhöfen Halt. Wie viele neue Terroristen hat die Armee damit geschaffen, während sie deren "Infrastruktur zerstörte"?

Der Schaden, den die israelische Gesellschaft davonträgt, ist ein anderer Teil des Alptraums. Dazu gehört der offene Rassismus (Vertreibung der Palästinenser - der erklärte Plan von einigen Kabinettsmitgliedern), die stärkere Militarisierung unserer Kinder (von den Schulen dazu ermutigt, "Dankeschön"-Briefe zu schreiben und Päckchen an unsere Soldaten zu schicken), die Lügen, die absichtlich in den Medien verbreitet werden (humanitäre Hilfe, die angeblich Flüchtlingen gewährt werden sollte und dann nicht gewährt wurde), die Unterdrückung von kritischen Stimmen (ein Abend zu Ehren einer älteren berühmten Sängerin wurde abgesagt, da sie die "refuseniks" [dt = Verweigerer] unterstützte) und die ständige Darstellung von Protesten im Ausland gegen Israel als Ausdruck von Antisemitismus. Und dies sind nur einige wenige Beispiele.

Alle Kriege sind gewalttätig und brutal. In diesem Krieg aber - im Vergleich zu allen anderen, die ich in Israel erlebt habe (Sechs-Tage-Krieg, Yom-Kippur-Krieg, Libanon-Krieg) und der ersten Antifada - habe ich mehr brutale Angriffe auf Zivilisten, mehr Ignorierung von internationalen Gesetzen, mehr Plünderungen durch Soldaten, mehr Zerstörung von nicht-militärischem Besitz und Waren, mehr Demütigungen und mehr absichtliches Vertuschen von Fakten (indem Jounalisten, Menschenrechtsvertretern, Hilfsorganisationen und dem UN-Untersuchungsausschuss der Zugang zu Informationen verwehrt wurde), gesehen als in jedem anderen Krieg.
 

Dies bedrückt mich sehr. Sharon hat die Frage, ob der Gazastreifen als nächtes Ziel auf seiner Angriffsliste steht, bisher nicht ausgeschlossen.

Und nun ist das Glas voll
Der Friedensmarsch sollte um 19.00 Uhr beginnen, aber dem Aufruf folgten nur einige hundert Menschen. Mich erstaunte dies nicht: Morgens hatte eine große Friedensdemonstration in Nazareth stattgefunden und Nachmittags hielten "refuseniks" eine Mahnwache vor dem Militärgefängnis Nummer 6, um die mutigen Männer zu unterstützen, die eingesperrt wurden, da sie es ablehnen, in den besetzten Gebieten eingesetzt zu werden. Wer hätte die Kraft für noch einen weiteren großen Marsch am Abend gehabt?

10.000 Menschen hatten anscheinend noch die nötige Kraft. Der langsame Marsch durch die Straßen von Tel-Aviv war eindrucksvoll. Große Transparente wie "Die Besetzung tötet uns alle" wurden gezeigt. Viele unterschiedliche Gruppen nahmen daran teil und man konnte die Präsenz von vielen palästinensischen Bürgern Israels inmitten dem Gemisch aus hebräischen und arabischen Slogans bemerken. Wenn es so etwas gäbe wie den Preis für die dramatischste Darstellung, hätte ihn die "Kveesa Shchora - Lesben und Schwule für den Frieden" gewonnen. Sie trugen pinkene Schals über schwarzer Kleidung, hatten sich aneinandergekettet und die Augen verbunden und trugen Plakate, auf denen stand: "Die Medien lassen uns im Dunkeln stehen".

Die Menschenmenge füllte den gesamten Museums-Platz und ein Redner nach dem anderen - Juden, Palästinenser, Männer, Frauen - bat eindringlich um die Beendigung der Besetzung und Verhandlungen für einen gerechten Frieden. Besonders beeindruckend war es, die Stimme von Dr. Moustafa Barghouti, dem Präsidenten des Palestinian Medical Relief Committees (UPMRC) zu hören, der direkt über ein Handy, das gegen ein Mikrofon gepresst wurde, aus Ramallah sprach. Er erhielt spontanen Applaus, als er voller innerlicher Bewegung sagte: "Sharon hat unsere Häuser und Schulen, unsere Geschäfte und Krankenhäuser zerstört, aber er hat es nicht geschafft, unsere unbesiegbare Hoffnung für einen gerechten Frieden und einem palästinensischen Staat Seite an Seite mit dem israelischen Staat zu zerstören." Rela Mazali bewegte viele, als sie ausrief, dass auch Frauen sich weigern sollten, unsere Kinder nur aufzuziehen, damit sie später im Krieg kämpfen können, dass sie sich weigern sollten, in einem militaristischen Staat zu leben und unsere Partner oder Kinder, die in der Armee dienen, zu unterstützen. In einem Land, in dem die Armee heilig ist, wirken diese "gotteslästerlichen" Gedanken wie ein "frischer Luftzug". Der "Refusenik" Idan Landau berichtete, dass zur Zeit 45 Männer im Gefängnis sitzen - eine in diesem Land noch nie dagewesene Zahl - weil sie sich geweigert haben, in den besetzten Gebieten Militärdienst zu leisten. Hunderte warten noch darauf, die Gefängnisse zu füllen, falls es nötig wird. Idan sagte, dass die israelischen Medien nicht über die ganze Tragweite der Ereignisse berichten und dass wir, wenn wir wüssten, was die Armee wirklich getan hat, "keine ruhige Minute" mehr hätten.

Es war ein Moment der Erholung von der endlosen Kette der anti-arabischen, anti-palästinensischen, anti-europäischen Propaganda, die uns tagtäglich zermürbt und uns nicht nur von Politikern, sondern auch von Friseuren, Lehrern, Talk-Show-Gästen, Taxi-Fahrern ("Ich fahre im Moment keine Busse"), Nachbarn und .... leider auch von einigen meiner besten Freunde, entgegenschallt.

Nun sind wir wieder bei unseren privaten Friedensaktionen: Mahnwachen, Hilfskonvois, Beobachtungen von Checkpoints der israelischen Armee in den West Banks und im Gazastreifen, Beschützen von Häusern, die zertört werden sollen, Flüchtlingsarbeit, Erstellung von Flugblättern, Petitionen, Zeitungsanzeigen und unseren zahlreichen individuellen Akten der Verweigerung - der Verweigerung, in der Armee zu dienen, der Verweigerung, Gewalt als Möglichkeit Konflikte zu lösen zu unterstützen, die Verweigerung, Feinde zu sein. Und wenn all das, was wir an diesem Abend erreicht haben, nur dazu diente, uns daran zu erinnern, dass wir nicht allein sind, dann hat die Veranstaltung einen Sinn gehabt.

Ich möchte meinen tiefen Dank aussprechen für all die harte Arbeit, die außerhalb unserer Region für den Frieden geleistet wird. Wir wissen, dass ihr bei uns seid. Zusammen können wir alles bewältigen.

Shalom, Salaam aus Jerusalem, Gila Svirsky

Übersetzung: Aline Sierp

Organisationen, die die Friedensdemonstration unterstützt haben: Another Voice in the Galilee; Association of Arab Students; Balad; Coalition of Women for Peace (Bat-Shalom, The Fifth Mother, Machsom Watch, Neled, New Profile, Noga, Tandi, WILPF, Women in Black); Committee for International Intervention; DuSiach; Forum Smol; Gush Shalom; HaCampus Lo Shotek; Hadash; Israeli Committee Against House Demolitions; Kol Ezraheha; Kvisa Sh`hora: Lesbians and Gay Men Against the Occupation; Neve Shalom/Wahat al-Salam; Ta`al; Ta`ayush: Arab-Jewish Partnership; Yesh Gvul; und weitere.

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