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Antikriegstag 2003


vom:
03.09.2003


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Antikriegstag 2003:

  Presse zum Antikriegstag

Quelle: Neues Deutschland, 30.08.03

"So a Sauerei, di Demaschtranda"

Tom Strohschneider (ND)

1983 schlug das Herz der Friedensbewegung in Mutlangen. Im Ort wollte man einfach nur seine Ruhe



Wenn makellose Reihenhäuser, saubere Gehsteige und gepflegte Hecken das Maß deutscher Gemütlichkeit bestimmten, Mutlangen wäre Kreissieger in der Disziplin "Schwäbische Idylle". Die Ruhe am Rande der Ostalb wird nur durch den Verkehr auf der Bundesstraße 298 gestört. Und durch manche Erinnerung. Denn mit dem Waffendepot der US-Armee vor der Türe war das Wohnparadies von heute einst ein höllischer Geräteschuppen. Oder, wie man im Herbst 1983 sagte, "Deutschlands erstes Pershing-Dorf".

1979 hatte die NATO entschieden, den sowjetischen SS-20 Raketen noch bessere Geschosse entgegenzusetzen. Doppelbeschluss nannte man das oder "Politik der Stärke". Lotte Rodi, die Grande Dame der Mutlanger Proteste, kam damals zum ersten Mal ins schwäbische Albdorf. Und sie war nicht die einzige. Die Bundesrepublik erlebte in diesen Tagen einen friedensbewegten zweiten Frühling. Im Oktober 1981 demonstrierten in Bonn fast 300000 Menschen gegen Pershing-II und Cruise Missles, im nächsten Juni waren es noch einmal Hunderttausend mehr. Bundesweit fanden Demonstrationen, Friedensgebete und Blockaden statt. Das Herz der Raketengegner aber schlug in Mutlangen. Mal in der Brust von fünf "Dauerpräsenzlern" vor dem Depot, mal tausendfach auf den Straßen rund um Mutlangen.

Sehr zum Unwillen der damaligen Bewohner. Noch immer redet man nicht gern über jenen Herbst im Jahr 1983, der aus dem schwäbischen Dörflein ein politisches Symbol werden ließ. Die Jungen können sich an nichts erinnern. Und die meisten Alten wollen nicht.

Vor zwanzig Jahren war die Gemeinde redseliger. Vor allem, wenn man den vielen Reportern seinen Unmut über die Friedensbewegung in den Block diktieren konnte. Und die Journaille nahm es gern. "Unruhe und Aufregung wird in das Dorf gebracht", erregte sich damals der Friseurmeister Walter Neugebauer, und eine Zeitung zitierte: "Es ist eine Sauerei, was die da machen". Die Gemeinde beschwerte sich per Post beim Bundeskanzler und hängte - "was die Friedensbewegung kann, können wir schon lange" - Protest-Plakate gegen die Proteste heraus. Sollten sie doch kommen, die 36 neuen Pershing-II-Raketen mit ihren atomaren Sprengköpfen. Hauptsache es zieht Ruhe ein im Dorf. "Wir wollen keine Dauerdemonstration in Mutlangen. Die politische Entscheidung wird respektiert."

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Antikriegstag 2003
Das war zu einer Zeit, da hatte der Bundestag noch gar nicht über die Stationierung der Pershing-II abgestimmt - die Entscheidung, die man in Mutlangen respektieren wollte, war also noch gar nicht getroffen. Und viele in der ganzen Republik hatten die Hoffnung, dass, wenn man nur lange und laut genug protestiert, die Raketen auch verhindert werden können.

So wie Lotte Rodi. Die heute 72-Jährige, die auch vorher in kirchlichen Friedensgruppen aktiv war, blockierte mit anderen immer wieder das Tor zum Raketendepot. Dann standen die Lastkraftwagen der US-Army mit laufendem Motor mitten in Mutlangen. "Der Dieselgestank hat dann die Anwohner gestört. Und die Raketen? Vor denen fürchtete sich niemand." Aber vor der Friedensbewegung. Langhaarige Chaoten und Kommunisten-Freunde, "Gesindel", wie damals eine Zeitung schrieb, bei dem "schon missfällt, wie die aussehen". So war das eben. "Ein braver Bürger geht nicht auf die Straße", erinnert sich Lotte Rodi an den Zeitgeist und ging selbst stets extra zurechtgemacht zu den Demos. "Vielen war die Gefahr wohl einfach nicht bewusst." Und wer doch Sympathie mit der Friedensbewegung hatte, der zeigte sie nicht offen. Sonst war man unten durch im Ort.

Am 1. September 1983 erreichten die Herbst-Aktionen gegen den NATO-Doppelbeschluss ihren Höhepunkt. Auf den Tag 44 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. In Mutlangen blockierten seit dem Morgen hunderte Menschen die Zufahrtswege zum US-Militärdepot. Die Grüne Petra Kelly kam mit geschmücktem Stahlhelm, der Schriftsteller Heinrich Böll hatte seine Frau und - "aus Gesundheitsgründen" - einen Camping-Klappstuhl mitgebracht. Der SPD-Mann Erhard Eppler war dabei, der Kabarettist Dieter Hildebrandt und der frühere Sonderberater der US-Regierung Daniel Ellsberg auch. Sie waren es, und die anderen 150 Prominenten, die an diesem Tag aus einer der vielen Blockadeaktionen eine besondere werden ließen, eine friedliche hinzu.

Das war nicht immer so im Friedenskampf. Unzählige Lehrer, Studenten, Schlosser, Rechtsanwälte erfuhren die praktische Bedeutung dessen, was man staatliches Gewaltmonopol nennt. Kläffende Hunde, Knüppel und NATO-Draht gegen friedliches Sitzen, oder Nötigung, wie es Amtsdeutsch heißt. Heinrich Böll hat damals einem Offizier geantwortet: "Herr Oberst, wir gefährden die Demokratie nicht, wir machen Gebrauch von ihr." Viele Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht für Recht befunden, dass sich nicht jeder, der vor einer Kaserne auf der Straße sitzt, gegen irgendwelche Gesetze vergeht. Wolfgang Schlupp-Hauck, Studienfreund einer Rodi-Tochter und noch heute juristisch an der Seite von Kriegskritikern und Atomkraftgegnern unterwegs, sagt, "wir haben in Mutlangen irgendwie Rechtsgeschichte geschrieben". Zu spät für viele, die Tage, Wochen, Monate in den Knast gingen - meist, um ihre Geldstrafen abzusitzen.

Warum die Polizei ausgerechnet an diesem ersten Septembertag im Jahr 1983 vor dem Mutlanger Raketen-Depot friedlich blieb, fragt sich Lotte Rodi heute noch. Es mag an den vielen Presseleuten gelegen haben oder an dem Bekanntheitsgrad mancher Teilnehmer. Vielleicht waren "die anderen" aber einfach nur cleverer. Denn als an jenem Donnerstag die Sonne über der Mutlanger Heide aufging, war von dem, was das Engagement der Friedensfreunde geweckt hatte, kaum noch etwas zu sehen: Wo zuvor noch dicht gereiht Hubschrauber, Militärlastwagen und Soldatenbusse standen, wehte müde und einsam ein Sternenbanner in der Spätsommerhitze. Deeskalation einmal anders. Und im Friedenscamp sorgten sich nicht nur die Promis, "dass die Wirkung der Proteste einfach verpufft".

Verpufft wäre, im Rückblick betrachtet, wohl nicht das richtige Wort. Erfolglos? Lotte Rodi sieht das anders. "Um Erfolg in dem Sinne ist es uns nicht allein gegangen. Die Aktion selbst war auch ein Ziel. Sich zu überwinden, sich zu widersetzen. Manchmal auch auf der Straße." Der Blockade der Prominenten folgte die der Senioren, die der Richter, und viele einfache Leute ohne Namen protestierten sowieso.

Die Aufstellung der Raketen konnten Lotte Rodi und all die anderen Friedensbewegten aber doch nicht verhindern. "Die demonstrieren, wir regieren", hatte Bundeskanzler Helmut Kohl das deutsche Demokratie-Verständnis auf den Punkt gebracht und der Bundestag folgte dem Ende November mit einem Mehrheitsbeschluss. Die Niederlage war groß an diesem Tag. Und so schnitt, als die ersten Raketen nach Mutlangen kamen, die Enttäuschung nicht mehr ganz so tief ins Gemüt. Eine Hand voll junger Menschen hatten vor dem Depot auf Protest-Verstärkung gehofft, eingepackt in Schlafsäcke und den frühen Schnee - umsonst.

Oder doch nicht? Lotte Rodi schüttelt vehement den Kopf. Umsonst sei keine Aktion der Friedensbewegung gewesen, auch nicht die Proteste in Deutschlands erstem Pershing-Dorf. Aus einer Scheune in Sichtweite des Raketen-Depots ist beispielsweise die "Pressehütte" entstanden. Einst Treffpunkt für die Reporter, Ort für Pressekonferenzen, befindet sich heute das Erbe des Mutlanger Herbstes 1983 in dem ausgebauten Schuppen. Wenn schon die Raketen blieben, wollte auch die Friedensbewegung nicht gehen. "Mindestens so lange, bis die Atomwaffen endlich weg sind", sagt Lotte Rodi, die hier heute mit Wolfgang Schlupp-Hauck und anderen Unentwegten Friedenstouren organisiert, nächtelang mit Besuchern aus aller Welt redet und Seminare zur Konfliktbewältigung stattfinden lässt. Dabei geht dieser Tage auch schon mal der "innere Friede" vor, man lernt, "die Mitte" nicht zu verlieren, Meditation und schamanischen Geisterkram. Rodi, die aktive Christin, die wegen ihres Engagements sogar schon vom Bischof gerüffelt wurde, lächelt.

Die Pershing-II aus Mutlangen sind längst verschrottet und anderswo durch neues Kriegsgerät ersetzt. Seit dem Abzug der Raketen liegt das Depot brach. Nur zwei verlassene Bunker erinnern noch an gefährlichere Zeiten. Sonst zeugt wenig von den alten Zeiten. Wenn man schon jemanden trifft auf den meist menschenleeren Straßen von Mutlangen, verschließen sich, sobald die Rede auf jenen Herbst kommt, viele Gesichter. Walter Neugebauer, den damals die Zeitungen zitierten, ist einer der Wenigen, die reden. Heute arbeitet er in einem Stuttgarter Ministerium. "Des demonschtriera war scho richtig, abr di Demaschtranda..." Mit seiner Meinung müsse er, Staatsdiener nun, ohnehin hinterm Berg halten. Und die Pressehütte? "Ach sollet di doch da läba. Em Grond indressiert mi des net."

Immerhin interessiert man sich in der Realschule, an der vor zwanzig Jahren noch die Militärlaster vorbeidonnerten, und lässt den Nachwuchs auf einem historischen Lehrpfad wandeln, der keinen Bogen um die Raketen-Proteste macht. Und nun will sich sogar die Gemeinde für eine Idee der Pressehüttler verwenden. Der Bürgermeister gibt Geld für ein Museum, das auch an den Herbst 1983 erinnern soll. Eine Bank hat 250 Euro gegeben, 500 Euro ein kleiner Betrieb. Nur genannt werden soll der Name der Firma nicht. Es ist wegen der "alten Geschichten".

Manchmal wünscht sich Lotte Rodi etwas mehr Nähe zu den Mutlangern, hofft auf die verspätete schwäbische Variante der Entspannungspolitik.


Internet: http://www.nd-online.de
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