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vom:
23.10.2001
Update: 25.10.2001


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Hintergrundinfos Terroranschläge / Afghanistan:

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Afghanistan-Info der AKUF

Forschungsst.Kriege, AKUF Uni HH Sebastian Asmus

Bemühungen der Taliban um internationale Anerkennung und strategisch bedeutende Geländegewinne prägten die Entwicklung Afghanistans im Jahr 2000. Die Taliban kontrollieren 95 Prozent des Landes - 1999 waren es rund 90 Prozent. Diese Zahlen sind jedoch nur ein unscharfer Anhaltspunkt für die Verschiebung des Kräfteverhältnisses: Die von Ahmad Shah Massud militärisch geführte Nord-Allianz unternahm in der Vergangenheit immer wieder taktische Rückzüge. Die preisgegebenen Gebiete konnten dann häufig zurüccerobert werden. Im Berichtsjahr brachten die Taliban allerdings erstmals wichtige Versorgungswege der Nord-Allianz nach Tadschikistan unter ihre Kontrolle. Unter anderem mit ihren militärischen Erfolgen begründen die Taliban ihren Anspruch auf internationale Anerkennung. Bisher werden sie nur von Pakistan, Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten als rechtmäßige Regierung anerkannt. Eine Delegation der Taliban reiste im September 2000 nach Paris, Washington und New York und bekräftigte erneut den Anspruch auf den Sitz Afghanistans bei den Vereinten Nationen.

Bisher kamen in dem afghanischen Krieg mehr als 1 Million Menschen ums Leben, darunter ungefähr 400.000 Kinder. 1,7 Millionen Menschen wurden zu Krüppeln. Zeitweise befanden sich mehr als 5 Millionen Menschen auf der Flucht, von denen etwa 3 Millionen in Pakistan und 1 Million im Iran lebten. In den vergangenen Jahren kehrten vor allem nach Pakistan geflüchtete Afghanen in ihr Land zurück. Die Kämpfe des vergangenen Jahres zwangen erstmals wieder eine größere Anzahl zur Flucht. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass im Jahr 2000 insgesamt 700.000 Afghanen flüchten mussten.

Der Krieg in Afghanistan hat mehrere Phasen durchlaufen. Im Jahre 1978 hatte die Revolutionsregierung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) ausgehend von einer marxistischen Ideologie versucht, die Vielzahl von ethnisch, religiös und tribal eigenständigen Herrschaftsbereichen im Land gewaltsam in einen einheitlichen sozialistischen Staat umzuwandeln. Eine Integration der unterschiedlichen Herrschaftsbereiche zum afghanischen Nationalstaat war bis dahin so gut wie gar nicht entwickelt. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen im Dezember 1979 sollte den Sturz der Regierung durch den anfangs spontanen, dann im breiten Bündnis zusammengefassten, immer jedoch heterogenen Aufstand der Mujahedin verhindern. Nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen 1989 kämpften die Mujahedin bis zum April 1992 gegen die weiter von Moskau gesteuerte kommunistische Regierung unter Präsident Nadschibullah. Mit dessem Sturz begann der Kampf der unterschiedlichen Widerstandsgruppen um die Vorherrschaft in Afghanistan.

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Der Ende 1992 für zwei Jahre gewählte Präsident Rabbani wurde von dem radikalen Paschtunenführer Hekmatyar und anderen Gruppen abgelehnt. Durch eine terroristische Politik, ständigen Raketenbeschuss und schließlich die vollständige Blockade Kabuls im Winter 1992/93 erzwang Hekmatyar im Abkommen von Islamabad im März 1993 seine Ernennung zum Premierminister. Als die erwartete Waffenruhe jedoch nicht eintrat, kündigte Rabbani die Regierungszusammenarbeit mit Hekmatyar auf, und die UN erkannten die am 17. Juni 1993 vereidigte Regierung an. Die im März des darauffolgenden Jahres geplanten Wahlen konnten aufgrund ständig wechselnder Machtverhältnisse und massiver Raketenangriffe auf Kabul nicht stattfinden.

Unterstützt und ausgerüstet vom pakistanischen Geheimdienst formierte sich im Herbst 1994 in den Koranschulen der afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan eine neue Kraft: die von Paschtunen dominierten Taliban (Koranschüler). Diese kündigten an, die Willkür- und Gewaltherrschaft der Warlords in Afghanistan beenden und einen islamischen Staat errichten zu wollen. Anfangs fand dieses Bestreben in der afghanischen Bevölkerung breite Unterstützung. Aufgrund der guten materiellen und finanziellen Ausstattung durch Pakistan kontrollierten die Taliban, ohne auf großen Widerstand zu stoßen, schnell den Süden des Landes. Ihr Vormarsch konnte auch von dem Bündnis zwischen Rabbani und dessen Erzrivalen Hekmatyar nicht aufgehalten werden. Im September 1996 nahmen die Taliban Kabul ein. Die Milizen Dostums, Rabbanis und Hekmatyars bildeten eine Allianz des Nordens, die den Vormarsch der Taliban zu stoppen versuchte und ihrerseits Kabul angriff. Ab Juni 1997 begann diese Allianz zu bröckeln, als regionale Kommandanten Dostums und Hekmatyars mit ihren Kämpfern zu den Taliban überliefen. Dostum, Rabbani und Hekmatyar flüchteten ins Exil, nachdem die Taliban die Stadt Mazar-i-Sharif und einige Provinzen erobert hatten. Die Taliban bildeten eine sechsköpfige Interimsregierung unter Mullah Mohammed Omar und führten das islamische Recht (Scharia) in einer besonders rigiden Auslegung ein. Die Rechte der Frauen auf Taliban-Gebiet sind eingeschränkter als in den 40 Jahren zuvor. Sie müssen sich wieder verschleiern, Mädchen ist der Schulbesuch untersagt.

Im Berichtsjahr flammten die Kämpfe wie auch in den vergangenen Jahren erst nach der Schneeschmelze wieder auf. Offensichtlich wechselten die Taliban ihre Strategie. Sie versuchten vor allem strategisch wichtige Nachschubwege der Nord-Allianz zu erobern. Im August konnten die Taliban mit der Stadt Ischkamisch einen Knotenpunkt in der Provinz Tachar erobern. Anfang September fiel die für den Nachschub der Nord-Allianz aus Tadschikistan wichtige Stadt Taloquan und der Farkhar-Pass an die Taliban - einige Tage später der Flughafen Khawajaghar. Ende September rückten die Taliban an der Grenze zu Tadschikistan in der Kunduz Provinz weiter vor.

Das Territorium der Nord-Allianz beschränkte sich damit auf die nordöstlichste Provinz und vereinzelte Täler. Bis zum Wintereinbruch konnten die Taliban das neu hinzugewonnene Territorium weitgehend halten. Die Chancen, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern, stehen für Ahmad Shah Massud deutlich schlechter als in den vergangenen Jahren. Zum einen verloren die Kämpfer um Massud Verbindungswege nach Tadschikistan, über die sie Waffen, Munition und Versorgungsgüter erhielten. Zum anderen haben sie sich, anders als in den vergangenen Jahren, nicht aus taktischen Gründen zurückgezogen, um dann im Herbst mit gesammelten Kräften die preisgegebenen Regionen zurückzuerobern. Nach Angaben der Nord-Allianz liefen in diesen Gebieten die lokalen Befehlshaber zu den Taliban über. Die Loyalität lokaler Kommandanten wechselte in der Vergangenheit in umkämpften Gebieten zwar schon häufig. Doch Massud wird diese nur dann zurückkaufen können, wenn er verstärkte finanzielle und militärische Hilfe aus dem Ausland erhält.

Die Machtverhältnisse in Afghanistan haben für die zentralasiatische Region eine erhebliche Bedeutung. Alle Kriegsparteien Afghanistans wurden und werden von anderen Staaten mit Geldmitteln und Kriegsgerät unterstützt. Die Taliban erhalten Waffen, Finanzmittel und Söldner vor allem aus Pakistan. Neben dieser inoffiziellen Unterstützung durch die pakistanische Regierung finanzieren die Taliban den Krieg weithin über den Anbau von Opium. Der Mehrzahl der Schätzungen zufolge ging der Drogenanbau in Afghanistan im Berichtsjahr zwar etwas zurück. Dies ist jedoch allein auf eine Dürre zurückzuführen, die weite Landstriche im Süden Afghanistans traf. Die UN starteten ein Nothilfe-Programm in Höhe von 1,8 Millionen US-Dollar für die 3 Millionen betroffenen Menschen. 1999 war in Afghanistan mehr Opium angebaut worden als in allen Jahren zuvor. 90 Prozent der Anbauflächen werden von den Taliban kontrolliert.

Für den Kaschmir-Konflikt wurden auf der Seite der Taliban kämpfende Pakistani abgezogen. Da sich diese Auseinandersetzung abgeschwächt hat, ist mit einer Rückführung der Kämpfer nach Afghanistan zu rechnen. Während Pakistan auf die Taliban setzt und Verbündete im Kräftemessen mit Indien sucht, befürchteten die nördlichen Nachbarländer bislang, dass ein Sieg der radikal-islamischen Taliban die ganze Region destabilisieren könnte. In Tadschikistan stationierte russische Truppen beobachten den Kriegsverlauf in Afghanistan mit größter Aufmerksamkeit. Bislang unterstützten vor allem Russland und Tadschikistan, aber auch Turkmenistan, Usbekistan und Iran die Nord-Allianz, um sich vor einem radikal-islamistischen Einfluss der Taliban über die Grenze hinaus zu schützen. Mit der Aufnahme von Verhandlungen durch Iran, Usbekistan und Turkmenistan zeichnet sich jedoch eine veränderte Haltung gegenüber den Taliban ab.

Anfangs unterstützten auch die USA und Saudi-Arabien die Taliban in der Hoffnung, dass das amerikanisch-saudische Konsortium Unocal mit den Taliban Verträge für den Bau einer Öl-Pipeline abschließen könnte. Die Pipeline sollte vom Kaspischen Meer durch Afghanistan bis an die pakistanische Küste verlaufen. Die Gespräche scheiterten jedoch und schlugen in eine entgegengesetzte Haltung um: Der internationale Islamistenführer Ossama bin Laden, der von den USA für die Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam im August 1998 verantwortlich gemacht wird, genießt das Gastrecht der Taliban. Die USA beschossen daraufhin vermeintliche terroristische Ausbildungslager mit Marschflugkörpern. Nach Erkenntnissen der USA soll bin Laden die Lager in Afghanistan mit der Duldung der Taliban unterhalten. Ohne nennenswerten Erfolg blieben politische Initiativen der Vereinigten Staaten gegen die Taliban. Die USA üben vor allem auf die pakistanische Regierung Druck aus und verlangen, dass die Unterstützung der Taliban eingestellt wird. Die pakistanische Regierung streitet Hilfeleistungen an die Taliban ab. Seit Oktober 1999 wiederholen der UN-Sicherheitsrat und die USA ihre Forderung an die Taliban, Ossama bin Laden auszuliefern. Da der Islamistenführer eine Tochter des Taliban-Anführers Mullah Omar zu seiner dritten Frau genommen hat, ist eine Auslieferung jedoch weiterhin unwahrscheinlich.

Russland drohte im vergangenen Jahr mehrfach mit Präventivschlägen gegen Ausbildungslager für international operierende Kämpfer auf afghanischem Gebiet. Bereits im Januar hatten die Taliban diplomatische Beziehungen zu den Tschetschenen aufgenommen, ihnen alle nur mögliche Unterstützung im Kampf gegen Russland zugesagt und ihren Unabhängigkeitsanspruch unterstützt. Im Mai 2000 warf Russland den Taliban vor, tschetschenische Kämpfer in Afghanistan auszubilden. Ossama bin Laden gilt als Finanzier der tschetschenischen Kämpfer.

Seit dem 14. November 1999 steht Afghanistan unter vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Sanktionen. Auslandsvermögen der Taliban wurden gesperrt und ein Luftverkehrsembargo gegen die afghanische Fluggesellschaft Ariana verhängt. Da so gut wie keine ausländischen Firmen in Afghanistan investieren, werden die Sanktionen keine allzu großen Folgen nach sich ziehen. Politisch wurden die Taliban als offizielle Regierung bisher nur von Pakistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi Arabien anerkannt. Wirtschaftlich ist der Handel mit Pakistan von großer Bedeutung. Anfang November 1999 wurde zudem die Grenze zum Iran wieder geöffnet, was wichtige Handelsmöglichkeiten zurückbrachte.

Die Taliban bemühten sich 2000 verstärkt um internationale Anerkennung. Ende Januar wurde zum ersten Mal eine Delegation der Taliban im Auswärtigen Amt in Berlin empfangen. Dabei handelte es sich ausdrücklich um eine inoffizielle Begegnung, da Deutschland die Taliban weiterhin als Regierung nicht anerkennt. Im September reiste eine Delegation der Taliban nach Paris, Washington und New York. Der stellvertretende Außenminister der Taliban Zahid wiederholte bei dieser Reise den Anspruch auf den UN-Sitz Afghanistans, der zur Zeit von der 1992 für zwei Jahre gewählten Regierung unter Präsident Burhanuddin Rabbani vertreten wird.

Nach dem Kriegsverlauf 2000 besteht wenig Hoffnung, dass Vermittlungsversuche der UN, der Organisation of Islamic Conference (OIC), von Nachbarstaaten oder Initiativen angesehener afghanischer Persönlichkeiten die afghanischen Kriegsparteien zu einem Waffenstillstand und der Bildung einer Übergangsregierung bewegen können. Bei Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien im März in der saudi-arabischen Stadt Dschidda konnte keine Einigung erzielt werden. Im November bekundeten die Taliban und die Nord-Allianz gegenüber den UN schriftlich die Absicht, in Verhandlungen zu treten, um den Krieg politisch zu beenden. Es blieb bei der Absichtserklärung. Die von dem Tadschiken Massud angeführte Nord-Allianz fordert bei Verhandlungen über eine Regierungsbildung eine Beteiligung, die dem tadschikischen Bevölkerungsanteil von etwa 50 Prozent entspricht. Die paschtunisch dominierten Taliban sind jedoch nicht bereit, die Regierungsverantwortung zu teilen, da sie fast das gesamte Land kontrollieren und die Paschtunen ihren uneingeschränkten Herrschaftsanspruch aus der Geschichte des Landes heraus legitimiert sehen.

Die stark segmentierte afghanische Bevölkerung bewahrt in den verschiedenen regionalen Traditionen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstbestimmung in kleinen gesellschaftlichen Gruppen. Das bestimmt auch den sehr losen Zusammenhalt innerhalb der beiden Kriegsparteien. Abseits der Machtzentren der Taliban und der Nord-Allianz bestimmen lokale Warlords die gemeinschaftliche Ordnung. Ihre Loyalität müssen die beiden großen Kriegsparteien in aller Regel erkaufen. Die Forderung beider Seiten nach zentraler Staatlichkeit widerspricht der Zersplitterung des Landes entlang ethnischer, religiöser und tribaler Zugehörigkeiten und dem höchst ungleichen Modernisierungsgrad zwischen Stadt und Land. Ein staatliches Gewaltmonopol hat es in Afghanistan nie gegeben.

Autor: Sebastian Asmus
Amu--@t-online.de

Weiterführende Literatur und Informationsquellen:

 Borcke, Astrid von: Rußland und der Krisenherd Afghanistan 1991-1997, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1998

 Rashid, Ahmed: Taliban: Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia, London 2000

 Rasuly, Sarajuddin: Die politischen Eliten Afghanistans. Ihre Entstehungsgeschichte, ihre Bedeutung und ihr Versagen in der Gegenwart, Frankfurt/Main 1997

 Rieck, Andreas: Die Taliban. Zeichen einer neuen Entwicklung im afghanischen Islam, in: Im Zeichen der Taliban. Afghanistan und die "International Community". Evangelische Akademie Iserlohn, Studienheft Nr. 12 (1998), S.7-21

 Schetter, Conrad J. / Wieland Karimi, Almut (Hrsg.): Afghanistan in Geschichte und Gegenwart. Schriftenreihe der Mediothek für Afghanistan. Band 1, Frankfurt/Main 1999

 http://www.afghan-web.com (aktuelle Informationen und Link-Liste)

 http://www.apdafghanistan.org (afghanische Intellektuelle im US-Exil)

 http://www.taleban.com (Taliban)

Quelle: Das Kriegsgeschehen 2000. Hrsg: AKUF. http://www.sozailwiss.uni-hamburg.de/lpw/Akuf/kriege_2000/vmo00/afghanistan00.htm

E-Mail:   akuf@sozialwiss.uni-hamburg.de
Internet: http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/Ipw/Akuf/home.html
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