Armee ohne Soldaten?

von Michael Schulze von Glaßer

Der Bundeswehr fehlt Nachwuchs: 2009 konnte die Armee ihren Personalbedarf nach Jahren erstmals nicht vollständig decken. Nun fällt auch noch die Wehrpflicht weg.

„Gut ausgebildete, gleichermaßen leistungsfähige wie leistungswillige Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Grundvoraussetzung für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr“, heißt es im Weißbuch 2006 (S. 144). In dem strategischen Konzept macht das Militär unmissverständlich deutlich, wie wichtig ihm die Personalgewinnung ist. Die nach Ende des Ost-West-Konfliktes begonnene Transformation der Bundeswehr hin zu einer weltweit einsetzbaren Armee hatte besonders auf die Personalstruktur Einfluss: Der Personalumfang wurde von knapp 500.000 Soldaten zur Hochzeit des Kalten Krieges auf 252.500 verringert. Die 2010 eingerichtete Strukturkommission unter dem Chef der Bundesagentur für Arbeit Dr. Frank-Jürgen Weise, selbst Oberst der Reserve, forderte in ihrem Ende Oktober 2010 vorgestellten Bericht der Strukturkommission zur Bundeswehr-Reform einen Umfang von nur noch 180.000 Soldatinnen und Soldaten. Dadurch soll die Armee langfristig Geld einsparen (und die Bundeswehr andererseits interventionsfähiger gemacht werden). Das bisher gültige Personalstrukturmodell 2010 (PSM 2010) sah in Friedenszeiten (und daran hat auch der Afghanistan-Einsatz nichts geändert) einen Umfang von 195.000 Berufs- und Zeitsoldaten, 55.000 Grundwehrdienstleistenden und freiwillig länger Dienenden sowie 2.500 Reservisten vor.(1) Nach Willen der Strukturkommission – und auch des Verteidigungsministers – soll die Wehrpflicht ausgesetzt werden. Von 117.000 zivilen Arbeitsplätzen bei der Bundeswehr sollte es laut PSM 2010 nur noch 75.000 geben und nach der Bundeswehr-Reform sogar nur noch gut 50.000. Trotz des vermeintlichen Personalabbaus – das Bild wird gerade im zivilen Bereich durch Outsourcing an private Dienstleister verzerrt – müssen jährlich rund 20.000 neue Rekruten für den Dienst an der Waffe geworben werden. Dies liegt besonders an der hohen Personalfluktuation innerhalb der Armee: 131.000 Soldaten auf Zeit (SaZ) dienen in der Truppe. Zwischen zwei und zwölf Jahren bleiben die Zeitsoldaten in der Bundeswehr, mehr als 20.000 Soldaten auf Zeit verlassen die Bundeswehr jährlich und gehen danach einem zivilen Beruf nach, andere verpflichten sich gänzlich als Berufssoldaten. „Überwiegend im Altersband zwischen 20 und 30 Jahren sind sie hochbelastbar, vielseitig verwendbar und bilden so das Rückgrat der deutschen Streitkräfte bei der Auftragserfüllung im In- und Ausland“, so der Deutsche Bundeswehrverband zu den Zeitsoldaten.(2) Das Loch von mehr als 20.000 Soldaten, die die Bundeswehr jährlich verlassen, muss gestopft werden – und das ist ein Problem. Im Jahr 2009 hätte die Bundeswehr 23.700 neue Soldatinnen und Soldaten einstellen müssen.(3) Mit 21.784 wurde diese angestrebte Zahl allerdings unterschritten – in den Vorjahren wurde sie jeweils eingehalten. 14.000 Stellen konnten 2009 mit externen Bewerbern besetzt und knapp 7.800 Soldaten durch Binnenwerbung gewonnen werden – beispielsweise aus dem Pool der Wehrdienstleistenden. Mit dem absehbaren Wegfall der Wehrpflicht wird die Bundeswehr neue Bewerber vollends aus der zivilen Öffentlichkeit werben müssen. Daher ist eine Zunahme der Bundeswehr-Werbemaßnahmen absehbar. Doch ob damit genügend neue Rekruten gewonnen werden können, ist fraglich.

 „Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr“, beschreibt die Militärsoziologin Nina Leonard schon heute das Problem der deutschen Armee.(4) Der Dienst an der Waffe und in der Bundeswehr ist unpopulär. Dies stellt auch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SoWI) in ihrer aktuellen Studie „Berufswahl Jugendlicher und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bundeswehr“ (T. Bulmahn et al, 2009, S. 8) aus dem Jahr 2007 fest: „Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, zumindest für eine gewisse Zeit bei der Bundeswehr als Soldat oder als ziviler Mitarbeiter berufstätig zu sein, antworten 25 Prozent der befragten Jungen und jungen Männer im Alter von 14 bis 23 Jahren mit ‚Ja‘, weitere 27 Prozent mit ‚Vielleicht, unter Umständen‘ und die übrigen 48 Prozent mit ‚Nein‘. Im Vergleich zur Vorjahresbefragung in 2006 ist der Anteil der jungen Männer mit Interesse am Arbeitgeber Bundeswehr um neun Prozentpunkte zurückgegangen.“ Hauptursache für das Wegbleiben von Rekruten ist das – vor allem durch den Einsatz in Afghanistan geprägte – schlechte Image der Armee. Auch politisch eher uninteressierte Jugendliche bekommen die heutigen Gefahren des Soldaten-Berufs mit. Zudem fehlt der Bundeswehr für Einsätze wie am Hindukusch der Rückhalt in der Bevölkerung: der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler (CDU) sprach in diesem Zusammenhang auf der „Kommandeurtagung der Bundeswehr“ in Bonn 2005 von einem „freundlichen Desinteresse“ der Bürger an der Armee.(5)

Eine Reaktion auf die sinkenden Rekrutenzahlen, die kurzfristig die Zahl der für den Soldatenberuf tauglichen Jugendlichen erhöhen sollte, war die Änderung der Einstellungskriterien für Freiwilliglängerdienende (FWLD) im Jahr 2006. Die FWLD-Soldaten verpflichten sich über ihren Grundwehrdienst hinaus länger bei der Armee zu bleiben. Die Dienstzeit dieser Soldaten beträgt mindestens 10 und höchstens 23 Monate. Dabei erklären sie sich auch bereit zu einer Teilnahme an Auslandseinsätzen, so dass sie sich zusätzlich einem Test unterziehen müssen. Interessant ist, dass 2006 die Einstellungskriterien in Bezug auf die physischen Anforderungen an zukünftige Soldaten angehoben wurden, während sie in Bezug auf soziale Kompetenz, psychische Belastbarkeit und Verhaltensstabilität abgesenkt wurden. Im Bericht des damaligen Wehrbeauftragten des Bundestags (Bundestags-Drucksache 16/4700) heißt es: „Ab dem Diensteintrittstermin 1. Oktober 2006 können Wehrpflichtige dieser Sondergruppe auch im Falle einer Unterschreitung der Mindestvoraussetzungen im Hinblick auf ‚soziale Kompetenz’ und ‚psychische Belastbarkeit’ bis Bewertungsstufe 6 und ‚Verhaltensstabilität’ bis Bewertungsstufe 5 verpflichtet werden.“ Tatsächlich dürften Soldaten mit einer geringen sozialen Kompetenz noch weniger in der Lage sein, die Kriegseinsätze der Bundeswehr der betroffenen Bevölkerung im Einsatzland als „humanitäre Einsätze“ zu verkaufen. Schon mehrmals kamen in Afghanistan Zivilisten durch psychisch überlastete deutsche Soldaten ums Leben: eineinhalb Tage nachdem eine Bundeswehrpatrouille nahe Kundus im August 2008 in eine Sprengfalle fuhr und ein 29 Jahre alter Hauptfeldwebel getötet wurde, erschoss ein Bundeswehrsoldat eine Frau und zwei Kinder, die in einem Auto auf den Kontrollpunkt zufuhren. Gerade nach Anschlägen auf die Bundeswehr-Einheiten scheinen viele Soldaten dem Druck nicht gewachsen und den Finger sehr leicht am Abzug zu haben: am 2. April 2010 kamen drei deutsche ISAF-Soldaten bei Gefechten mit Taliban ums Leben. Später beschoss ein Bundeswehr-Schützenpanzer einen Jeep der afghanischen Armee, den sie nicht als solchen identifizierten – fünf Soldaten der Afghan-National-Army wurden dabei getötet. Die Absenkung der Einstellungskriterien in der Bundeswehr ist aber nicht nur für andere Menschen gefährlich, sondern auch für die Soldaten selbst: die Zahl deutscher Soldaten, die an Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) leiden, steigt.

Was Nina Leonhard, Mitarbeiterin des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, in ihrem 2005 erschienenen Buch „Militärsoziologie – Eine Einführung“ fürchtete, hat sich bewahrheitet: die geringeren Einstellungskriterien haben zu einem „Qualitätsverlust“ in der Armee geführt, der wiederum einen „Ansehensverlust“ mit sich bringt. Dies ist der Beginn einer Abwärtsspirale, da ein geringeres Ansehen zugleich weniger Rekruten bedeutet, woraufhin notgedrungen wieder die Einstellungskriterien gesenkt werden müssen.

Zusammenfassend ist festzustellen: Schon heute geht nur zur Armee, wer keine Alternative hat. Menschen aus den strukturschwachen ostdeutschen Bundesländern sind schon heute überproportional in der Armee vertreten. Die Bundeswehr hat bereits ein Problem, genügend Nachwuchs zu finden und wird es – noch unterstützt vom Wegfall der Wehrpflicht – auch in Zukunft haben. Diesem Problem wird sie mit noch mehr Werbung im öffentlichen Raum – auf Marktplätzen, in Schulen und auch Medien – begegnen. Vielleicht werden die Einstellungskriterien auch nochmals gesenkt, was fatal wäre. Wie andere NATO-Berufsarmeen wird sich wahrscheinlich auch die Bundeswehr demnächst darum bemühen, Minderheiten für den Dienst an der Waffe anzuwerben: Ausländern wird nach mehrjährigem Dienst in der Armee die Staatsbürgerschaft gegeben; Kriminellen wird die Haft erlassen, wenn sie sich für die Armee verpflichten; schon heute wirbt die Bundeswehr für ein „Studium mit Gehalt“ an einer ihrer beiden Universitäten und spricht damit vor allem junge Menschen an, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft und finanziellen Lage keine Chance auf ein akademisches Studium hätten – doch auch hier gilt: man muss sich auf Jahre für den Dienst an der Waffe und sogar für Auslandseinsätze verpflichten.

 

Anmerkungen
(1) Jährlicher Austausch militärischer Informationen nach WD 99 – Verteidigungsplanung 2004, Seite 10.

(2) Kirsch, Ulrich: Attraktivität steigern – Motivation schaffen – Nachwuchs sichern. Forderungen an die 17. Legislaturperiode zur Sicherung der persönlichen Einsatzfähigkeit. Deutscher Bundeswehrverband, Juli 2009.

(3) Bundestags-Drucksache 17/900.

(4) Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jacqueline: Militärsoziologie – Eine Einführung, Seite 261, Wiesbaden 2005.

(5) Köhler, Horst: „Einsatz für Freiheit und Sicherheit“ – Rede von Bundespräsident Horst Köhler auf der Kommandeurtagung der Bundewehr, Bonn, 10. Oktober 2005

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