Perspektiven

Der Frieden hat noch immer eine große Chance

von Naqibullah Shorish

Der Frieden hat noch immer eine große Chance in Afghanistan, weil die Afghanen den Frieden brauchen wie die Luft zum Atmen und ihn auch wirklich wollen. Wir brauchen Sicherheit für unsere Familien, wir brauchen Investitionen und Arbeitsplätze. Alles das geht nur im Frieden, und darauf haben wir Afghanen ebenso ein Recht wie alle anderen Nationen in der Welt.

Seit mehr als 30 Jahren werden wir von einer Kriegsphase in die nächste gezwungen. Der Krieg begann, als 1978 die Kommunisten durch einen Militärputsch an die Macht gekommen waren und er geht bis heute.

Von Seiten der Länder, die heute mit ihren Truppen in Afghanistan präsent sind, hören wir immer wieder, über Frieden sollten die AfghanInnen untereinander sprechen und sie – diese Länder – würden diese Gespräche unterstützen. Aber wie wollen sie diese Gespräche begleiten, negativ oder positiv, aktiv oder passiv?

Ich bin seit 2008 als Vermittler in Friedensgesprächen engagiert. Auf meine Vermittlung hin trafen sich im Jahr 2010 zweimal Taliban-Führer und ISAF-Offiziere am Stadtrand von Kabul.

Beide Seiten kamen in diesen Gesprächen zu dem gemeinsamen Ergebnis, dass in einer konkreten Provinz im Osten Afghanistans eine Übergangsregierung eingerichtet werden sollte. Regierungsmitglieder sollten Persönlichkeiten sein, die bisher nicht direkt zu den Konfliktparteien gehörten. Die eine Hälfte von ihnen sollten das Vertrauen der Karzai-Regierung genießen, die andere Hälfte das Vertrauen der Taliban. Selbstverständlich sollte sofort ein Waffenstillstand vereinbart werden und in einer zweiten Phase auch gemeinsame Sicherheitsstrukturen aus bisheriger Armee, Polizei und Taliban-Kämpfern aufgebaut werden.

Ein ganz wichtiger Aspekt war, dass die ISAF diese Provinz als neutrale Provinz respektieren sollte. Damit sollte gewährleistet werden, dass die Taliban-Führung aus Pakistan dorthin umziehen konnte. Damit sollten die Taliban dem unmittelbaren Zugriff des pakistanischen Geheimdienstes ISI entzogen werden.

Damit wurden von beiden Seiten zwei ganz wichtige von uns eingebrachte Aspekte aufgenommen: der Waffenstillstand als Voraussetzung für sinnvolle Verhandlungen und der regionale Ansatz, um ein Testfeld für die Vertrauensbildung zu haben. Uns allen war klar, dass ein solches Vorhaben nicht ohne Probleme realisiert werden konnte. Mit solchen Problemen musste gelernt werden, umzugehen. Und wahrscheinlich wären uns auch bei bestem Bemühen Fehler unterlaufen, die hätten korrigiert werden müssen und aus denen hätte man lernen können, bevor man an eine Friedenslösung in ganz Afghanistan gegangen wäre.

Eine Friedenslösung für Afghanistan ist immer noch möglich. Ja, man kann an die damaligen Gespräche anknüpfen. Ja, das Angebot der Taliban zur Wiederaufnahme dieser Gespräche liegt auf diversen Schreibtischen. Allerdings ist leider sehr viel Zeit verspielt worden! Dreieinhalb Jahre – wie weit hätten wir da heute sein können? Heute stehen wir ganz anders unter Zeitdruck. Da bleibt keine Zeit mehr für regionale Experimente. Heute müssen wir den Übergang in ganz Afghanistan organisieren – ohne Testerfahrungen. Diese Chance ist leider unwiederbringlich verloren.

Aber auch für eine sofortige Lösung für ganz Afghanistan gilt: Eine realistische Lösung muss an die Elemente dieses Vorschlages anknüpfen: Waffenstillstand, Übergangsregierung, Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstrukturen, Umsiedlung der Taliban-Führung nach Afghanistan.

Seit Ende 2010 wurden diese Friedensgespräche und andere, die es im In- und im Ausland gab, genau von den Ländern sabotiert, die in Öffentlichkeit nicht müde werden zu sagen: Wir unterstützen die Gespräche der Afghanen untereinander.

Heute heißt es in den USA und bei der NATO: Pakistan unterstützt die Taliban und der ISI habe einen riesigen Einfluss auf die Taliban. Ja, manche sagen sogar, der Schlüssel zum Frieden liege in der Hand von Pakistan.

Alle sagen übereinstimmend, der Krieg sei keine Lösung. Aber wenn der Krieg keine Lösung ist, wo bleiben dann ihre Konzepte für eine Zukunft Afghanistan oder auch nur die Konzepte für ihre eigenen Vorhaben in Afghanistan?

Wo bleiben die Erkenntnisse General McChrystals, dass die größten Feinde der GI’s die GI’s selbst sind. Es ist nicht zuletzt das geringe Wissen der westlichen Länder über Afghanistan, seine Geschichte und Kultur, sowie die Arroganz der USA, mit denen sie ihre SoldatInnen selbst in größte Gefahr gebracht haben.

Sie haben kein Konzept und als wir ein Konzept vorgelegt haben, den Shorish-Plan, da hat man uns im Vertrauen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesagt: Das ist ein guter Plan für eine spätere Zeit, jetzt arbeiten wir aber mit der Regierung Karzai zusammen, auch wenn wir wissen, dass diese Regierung korrupt ist. Wir hatten eine Übergangsregierung vorgeschlagen, aber von Seiten der westlichen Regierungen hieß es nur: Eine Übergangsregierung ist gut für Syrien, aber nicht für Afghanistan, da läuft doch alles gut.

Mein Vorschlag einer Übergangsregierung für Afghanistan bleibt auf dem Tisch, damit die Afghanen miteinander verhandeln, den Krieg beenden und so auch die Region stabilisieren können.

Mit Karzai spricht niemand. Sein so genannter Friedensrat blockiert nur die notwendigen Gespräche. Wie oft ist der Friedensrat mit der Taliban-Schura in Quetta zusammengetroffen, um Friedensgespräche zu führen? Nicht ein einziges Mal. Was erwartet der Westen? Wenn aber Karzai Friedensgespräche im Wege steht, müssen dann 30 Millionen AfghanInnen darunter leiden? Nennt man das im Westen Demokratie?

Die Geschichte der Friedensschlüsse nach Bürgerkriegen in anderen Ländern hat gezeigt, dass eine neutrale Vermittlung unabdingbar ist. Diese hat zumeist sinnvollerweise ausländische Staaten übernommen, die nicht in den Konflikt verwickelt waren. Ihre VertreterInnen wurden von den jeweiligen Konfliktparteien als ehrliche Makler erlebt und akzeptiert. Darüber hinaus hatten diese Länder auch die finanziellen Mittel, VertreterInnen der Konfliktparteien zu sich oder in dritte Länder einzuladen, wo die Unterhändler aller Seiten in Sicherheit und auf Wunsch auch moderiert miteinander sprechen konnten. So etwas geht weder in Kabul noch in Quetta, wo die Talibanführung residiert.

Wenn nur Afghanen miteinander reden sollen, wie es die NATO-Staaten fordern, dann brauchen wir neutrale, von allen Konfliktparteien akzeptierte afghanische Vermittler. Das kann dann weder die Regierung noch der von ihr bestellte "Friedensrat" sein und selbstverständlich ebenso wenig die Talibanführung oder ein von ihr eingesetztes Gremium.

Wenn wir Afghanen Frieden schaffen, dann können wir das für unser Land allein entscheiden. Dazu brauchen keine fertigen Rezepte aus dem Westen. Wir Stammesführer sind bereit, die Friedensgespräche zu übernehmen und Frieden zu schaffen in Afghanistan und in der gesamten Region.

Stammesführer sind gerade für die Vermittlung zwischen Regierung und Taliban besonders geeignet, weil ihre Stammesangehörigen zu beiden Konfliktparteien gehören. Die einen sind im Regierungsapparat oder als Soldaten in der Armee, andere sind Talibankämpfer und die meisten stehen zwischen diesen Fronten.

Eine Vermittlung ist heute hin und wieder im Kleinen möglich. Ich kenne einen Ort im Bezirk Surobi (Provinz Paktika), wo Menschen aus meinem Stamm leben. Die einen sind dort als Soldaten stationiert und andere gehören zu den Taliban. Sie schießen aber nicht aufeinander, sondern trinken miteinander Tee oder Kaffee oder essen miteinander. Da funktioniert der Waffenstillstand auf kleinster Ebene.

Die Alternative zum Frieden ist die Weiterführung des Krieges, und wenn der weitergeführt wird, dann wächst auch die Gefahr von Chaos und Terrorismus. Die NATO hat mit der Besetzung Afghanistans Verantwortung für unser Land übernommen und sie ist dieser Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie kann die Sicherheit unseres Landes nicht garantieren und sein Territorium nicht verteidigen. Sie hat zahlreiche Probleme geschaffen, die Konfliktstoff zwischen den Afghanen bilden. Sie hat nichts getan, um diese Probleme aus der Welt zu schaffen und sie hat den Nachbarländern Afghanistans Möglichkeiten geboten, sich in die inneren Angelegenheiten unseres Landes einzumischen – auch mit der Förderung von Gewalttaten.

Die NATO hat die afghanischen Sicherheitskräfte – Armee, Polizei und Milizen – auf 350.000 Mann hochgerüstet und ausgebildet. Diese kann Afghanistan nicht bezahlen und die will die NATO auch nicht gerne weiter bezahlen. Damit stellt sich ein Riesenproblem! Diese Kräfte können Afghanistans Sicherheit nicht gewährleisten. Das sehen wir heute und das werden wir nach dem Abzug der NATO-Kampftruppen noch deutlicher sehen. Aber diese Kräfte können zu einer ernsthaften Gefahr für die Sicherheit Afghanistans werden, wenn sie nicht korrekt demobilisiert werden mit ernsthaften zivilen beruflichen Perspektiven für jeden Einzelnen. Die einzelnen Soldaten, Polizisten und Milizionäre haben doch vielfach nichts anderes gelernt als mit der Waffe umzugehen. Sie geordnet ins Zivilleben zu integrieren kostet Geld, das in eine wirtschaftliche Entwicklung investiert werden muss, die Arbeitsplätze schafft. Das Problem verschärft sich noch, wenn wir daran denken müssen, auch noch eine unbekannte Zahl von Taliban-Kämpfern und Angehöriger diverser privater Milizen zu entwaffnen und zu demobilisieren.

Was in den letzten 13 Jahren erreicht worden ist, kann schnell wieder verloren sein. Wenn der Westen so verantwortungslos ist und bis Ende 2014 eine Friedenslösung verhindert, um dann seine Soldaten abzuziehen, der darf sich nicht wundern, wenn sich dann in diesem Chaos auch wieder Al Kaida einnistet. Da helfen auch nicht die falschen Versprechungen des Westens, dass Afghanistan nicht allein gelassen wird. Das Ergebnis müssen dann aber die Regierungen im Westen auch ihren Bevölkerungen erklären, die das Geld für den Krieg gezahlt und ihre Kinder als SoldatInnen geopfert haben.

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Naqibullah Shorish ist nationaler Stammesführer der Kharoti.