Der ganz alltägliche Faschismus

von Irmgard Geiger

Die Volkskriege der letzten Jahrhunderte, die wir in Kerneuropa hoffen, überwunden zu haben, greifen wie eine gefährliche Epidemie um sich. Als nach den napoleonischen Kriegen die europäischen Völker, inspi­riert von den Ideen der Aufklärung, sich selbst regieren wollten, setzten sie einen Prozess in Gang, der nun in Ost und Süd weitergeht. Die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind überwuchert von wil­der Nationalbegeisterung, die sich in gedankenloser Überbewertung der eigenen Nation zum Chauvinismus steigert.

Während wir Deutschen uns schaudernd an die dunkelste Zeit unserer Geschichte erinnern, hat  Hitlers rücksichtslose  Politik im  nichteuropäischen Ausland seine erklärten Bewunderer. Saddam Hussein bekennt, er hätte sich Adolf Hitler zum Vorbild genommen und der neue Führer der hinduistischen Fanati­ker, Thackeray, soll "Mein Kampf' ständig griffbereit auf dem Schreibtisch liegen haben.. Wenn diese westlichen Torheiten zur Nachahmung herausfor­dern, wird dann vor der Atombombe Halt gemacht?

Wie in allen westlichen "real existieren­den" Demokratien sind bei uns Ele­mente des ganz alltäglichen Faschismus und Chauvinismus noch, durchaus viru­lent.

Der historische Hintergrund allein er­klärt den Alltagsfaschismus nicht. Man muss versuchen, jene unbewussten see­lischen Schichten zu durchleuchten, aus denen die Glorifizierung von Gewalt erwächst. Hier ergibt sich ein Ansatzpunkt für eine Therapie der regressiven sozialen Krankheit Faschismus. Die gutgemeinten Belehrungen, wie sie der Demokretieerziehung der vergangenen fündundvierzig Jahre entsprechen, hel­fen kaum mehr als die plumpe Antifa-­Propaganda in der einstigen DDR

In den Medien werden für Ausschreitungen soziale. Benachteiligung, materielle Not als, Hauptursachen genannt, So richtig das ist, so wichtig ist der Ein­wand, daß auch wohletablierte Bürger, angesehene Familienväter, die weder materiell noch  gesellschaftlich benachteiligt sind, von Gewalttaten angezogen werden. Neid und Ressentiment entstehen nicht nur aus materieller Not, auch vermeintliche oder wirkliche Zurückset­zung bedeuten Kränkung. Dann wird versucht, die Verletzung des Selbst­wertgefühls durch Zuschlagen, Rück­griff auf rohe Kraft zu kompensieren. Seelische Not, verbunden mit unzureichender Menschenbildung sind schuld, wenn keine gewaltfreien Konfliktlö­sungsmodelle zur Verfügung stehen.

Eine Rolle für das Ausufern von Ge­waltbereitschaft spielt auch die verzerrte Vorstellung von Männlichkeit, besonders wenn nicht in der Auseinanderset­zung mit einem  lebendigen Vorbild das archaische innere Vaterbild des Klein­kindes relativiert werden konnte. Der ganz kleine Junge neigt dazu, den Vater schwärmerisch zu überhöhen. Deswegen müssen alle Väter irgendwann enttäu­schen. Der Heranwachsende mochte am Vater oder einer anderen Idealgestalt eine eigene vorläufige Identität entwickeln können. Die frühere Überbewer­tung des Vaters verwandelt sich in der Enttäuschung überkorrigierend in Ver­achtung. Ähnlich ist es gegenüber dem Staat: Autoritätsgläubigkeit wird in der Enttäuschung zu Politikverdrossenheit.

Eine repressive Erziehung erzeugt ängstlich-aggressive  Erwachsene, für die es eine Versuchung bedeutet, den ständigen inneren und äusseren Druck im Gewaltrausch gegen  Schwächere loszuwerden. In der Horde der Ra­daubrüder finden sie die seelische Hei­mat, die Bestätigung und die Identifikationsmöglichkeiten, die ihnen in ihrer bisherigen Sozialisation fehlten. Die Se­xualnot der Pubertät destabiliert zusätz­lich und verstärkt die Aggressivität. Die Jugendlichenmversuchen ihre Unsicher­heit durch primitive Kraftdarstellung zu kompensieren. Alles Andersartige, Fremde bietet sich Ihnen als Projekti­onsobjekt für Feindseligkeit und rohe Kraftäusserung, als "Feindbild" an.

Der Mangel an Vorbildern erklärt noch nicht voll befriedigend ein schwer einfühlbares Übermaß an Gewaltbereitschaft, das bei einem kleinen Prozentsatz alle Verletzungshemmungen beiseite spült. Diese jungen Menschen vermitteln den Eindruck, dass die Ge­waltbereitschaft aus archaischen Wur­zeln gespeist ist, die von der Zivilisati­onsschicht nur überdeckt wurde. Es ist, als schlummere am Grunde der men­schlichen Seele eine wilde, alle Rück­sichten überrennende Aggressivität, die unter bestimmten Bedingungen durch  die Schichten der Erziehung bricht und auch Durchschnittsbürger anstecken kann. Die Grausamkeit wird zum Blut­rausch. Woher stammt sie, warum bleibt sie bestehen?

Der Philosoph Peter Sloterdijk nimmt an, dass die Massierung blinder Wut und Kraft in US-Filmen einer Art Ar­chaeologie der Seele entspreche. Wir übersehen in unserer geordneten Welt leicht, dass in der ursprünglichen men­schlichen Umgebung die Bejahung von Gefahr, Kampf, Bewährung, belohnt wurde, weil sich  dem, der die ständige Bedrohung akzeptieren, ja geniessen konnte, bessere Überlebenschancen boten.. Die Lustkomponente der Aggres­sion leuchtet dem wohlerzogenen Mit­teleuropäer wenig ein. Der Lustgewinn wird einfühlbar an dem Bedürfnis nach Thrill-Erlebnissen, nach dem Kitzel der Sensationen. Diese der Tiefenpycholo­gie bekannte "Angstlust" wird heute vorwiegend vom Fernsehen bedient. Aggression ist schon ursprünglich in der Form von Jagdfieber oder Wettbe­werbslust mit Lustgefühlen verbunden. Moralisieren ist hier wie bei allen un­kontrollierten Triebausbrüchen wenig hilfreich. Auch die Aggressionslust ge­hört zum Menschen und verlangt nach Abfuhr. Weil unsere befriedete Welt da­für wenige Möglichkeiten gibt, kann Krieg attraktiv werden.

Diese Gewaltsüchtigen regredieren auf frühe Stufen der kollektiven und der in­dividuellen Menschwerdung. In den meisten Fällen sind früheste Sozialisationsdefizite erkennbar. Die Psychoana­lyse der Psychotiker machte die wilde Aggressivität dieser Frühzeit offenbar. Sie erleben die Welt als grundsätzlich bedrohlich und zerstörerisch. Sie haben nicht erfahren, dass Welt und Menschen schenkend sein können. Sie glauben sich mit allen Mitteln ihrer Haut wehren zu müssen. Wenn sie sich rat- und hilf­los fühlen, neigen sie, unterstützt von Anlagefaktoren, dazu, der archaischen Wut Raum zu lassen.

Die Heilung frühen Mangels braucht Zeit, Geduld, Mühe. Die akuten Probleme können nicht umgehend beseitigt werden. Wenn Vorbeugung und Resozialisation versäumt wurde, sind Poli­zeimassnahmen nicht zu umgehen. Parallel zu angemessenen, Panik vermei­denden obrigkeitsstaatlichen Eingriffen sollte eine verstehende vorausschauende Politik frühzeitig die Warnsignale er­kennen. Es sollte auch die Gefahr ver­mieden werden, die unfertigen Jungen zum Feindbild der Restgesellschaft zu stilisieren. Auch sie verdienen, dass man ihnen mit gewaltfreien Grundprinzipien begegnet. Das heisst: man wird ihr Tun missbilligen, nicht aber sie völlig aus­grenzen..

Anwendung von Gewalt, das "ener­gische" Eingreifen, das allenthalben, auch aus dem Ausland gefordert wird, ist keine Dauerlösung, nur momentane Symptombeseitigung. Polizeimacht kann helfen, Ausschreitungen zu verhindern, kann Ausländer schützen. Sie hat den Nachteil, dass sie die Medien

anzieht, die Untaten aufwertet und die jungen Menschen zu Helden und Märtyrern macht. Statt sie durch Verdammung auszugrenzen und in ihrer Rolle festzu­nageln, müsste die Hilfe darin liegen, ihnen das zu geben, was sie vermissen: eine seelische Heimat, Möglichkeit, sich zu bewähren, Bestätigung durch eine Gemeinschaft. Da Sexualnot die Ag­gressivität steigert, brauchen sie auch Wohlwollen für ihre sexuellen und Lie­besbedürfnisse. Man sollte bei dieser Halbstarken-Schelte nicht vergessen, dass die Identitätskrise der Reifejahre bei positiver Verarbeitung Gewinn nicht nur für den Einzelnen sondern auch für die Gesellschaft bedeuten kann. Die Er­schütterung ist hilfreich, um verkrustete Strukturen aufzubrechen, und der Vergreisung der Überväter etwas entgegen­zusetzen.

Es gibt ermutigende Beispiele für Mög­lichkeiten der Therapie. Horst Eberhard Richter hat Studentengruppen betreut und beraten, die in Gettos von sozialen Randgruppen sich um Kinder und Eltern annahmen. Die schulischen Leistungen und das soziale Klima konnten erkenn­bar verbessert werden. (3) in Sao Paulo/Brasilien hat die Waldorflehrerin Ute Craemer und Mitarbeiter sich um Kinder und Jugendliebe der Favelas an­genommen und sogar mittels Anregung zu künstlerischem Arbeiten, Schauspiel und Musik, öffentliche Anerkennung geerntet, ja eine Gruppe initiiert, die Be­rühmtheit errang. (4)

Viele Menschen in unserem übersättig­ten Mitteleuropa sehen in ihrem Leben in der Wettbewerbsgesellschaft keinen Sinn mehr und wären bereit, sich zum mindesten auf einige Zeit Aufgaben die­ser Art zu widmen. Jede Interessenrichtung ist gefragt, nach den Sportklubs jeder Verein, vom Boxklub bis zum lite­rarischen Zirkel, von den Naturfreunden bis zu den Taubenzüchtern, sich für die Jugendlieben zu öffnen. Für eine posi­tive Jugendarbeit sollten Prämien ausgesetzt und materielle (Steuer-) und ideelle Anreize geschaffen werden. Die verlo­rene Generation muss aufgefangen wer­den.

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(1 ) Süddeutsche Zeitung vom 26.4.93. "Perlen des kollektiven Wahnsinns" ein Gespräch mit Peter Sloterdijk. S. sieht den modernen amerikanischen Action­Film als "eine Gattung experimenteller Vor- und Frühgeschichtsschreibung, die mit den Mitteln avancierter Filmtechnik die archaeologischen Geheimnisse der Menschheit bearbeitet."

(2) Walter Süss: Was wusste die Stasi über die Neonazis in der DDR? "Die Zeit" b. 30.4.93)

(3) Horst Eberhard Richter: "Die Gruppe". rororo Kap:Getto

(4) Favela Monte Azul. Hrsg. Ute Craemer. Verlag Freies Geistesleben.

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Irmgard Geiger ist Psychoanalytikerin und lebt in München.