Die Kathedrale von Coventry

von Alan Hunter

Die Kathedrale von Coventry gehört zu den herausragenden Beispielen kirchlicher Architektur in Großbritannien im zwanzigsten Jahrhundert. Sie ist eine konkrete Verkörperung des echten christlichen Gefühls, das während einer großen Tragödie auftauchte. Außerdem könnte sie einige Gedanken, wahrscheinlich eher pessimistische, über sogar größere Tragödien provozieren. Die Stadt hatte eine lange religiöse Geschichte und ein Stadtbild mit vielen schönen, alten Gebäuden, die vor allem um die große Kirche St. Michael gruppiert waren, die 1918 zum Kathedralenstatus erhoben wurde.

Coventry ist eine Industriestadt in den Midlands; das geographische Zentrum Großbritanniens liegt den meisten Berechnungen zufolge nur ein paar Kilometer weiter westlich. In den 20er und 30er Jahren hatte die Stadt Hochkonjunktur, wegen ihrer zahlreichen Fabriken für Fahrzeuge, Elektrogeräte, Textilien, Motoren, Zubehörteile und vieles mehr. Mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges wurden die Fabriken noch bedeutender, da viele zu Waffenproduktionen umgewandelt wurden.

Im Oktober 1940 dominierte die deutsche Luftwaffe den Nachthimmel über England. Im November verschärfte sie ihre Überfälle auf Coventry und das benachbarte Birmingham. Am 14. November startete sie den wahrscheinlich größten Luftangriff der frühen Kriegsjahre. Zwischen 18 und 5 Uhr ließen um die 400 Bomber 500 Tonnen explosiver Stoffe fallen. Die Stadt wahr praktisch wehrlos; man geht davon aus, dass die deutsche Seite höchstens zwei Flugzeuge verlor. Viele tausende Zivilisten hatten die Stadt bereits verlassen, einige zelteten in der ländlichen Umgebung, die meisten Verbliebenen verbrachten die Nacht in Luftschutzbunkern. Diese Schutzmaßnahmen erklären die relativ geringe Zahl von Opfern: geschätzte 550 Tote und 1.000 Verletzte. Die Stadt war allerdings komplett verwüstet. Fast alle Fabriken und eine große Anzahl Wohnhäuser, um die 46.000, waren beschädigt, viele mussten abgerissen werden. Wasser, Gas, Strom, Telefon, Eisenbahn und viele Straßen waren unnutzbar. Eine Zeit lang stand die Nahrungsversorgung in der Schwebe. Fast das ganze Zentrum lag in Schutt und Asche.

Symbolisch für die Zerstörung, war auch die Kathedrale fast bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt. Versuche, sie zu retten, schlugen durch Wassermangel fehl: Die meisten Rohre waren von Bomben getroffen worden. Ein Turm stand noch, und einige der Schätze waren unterirdisch sicher untergebracht worden. Am Morgen nach dem Überfall nahm ein Wächter zwei teils verbrannte Holzträger vom heruntergefallenen Dach und stellte sie zu einem Kreuz gebunden in einem Schuttberg auf.

Reparaturarbeiten begannen, und manche Fabriken starteten ihre Produktion nach einigen Wochen. Aber Coventry hat sich immer noch nicht von dem Überfall erholt. Die meisten alten englischen Städte besitzen eine Art historisches Zentrum. Aber die Ursprünge des Zentrums von Coventry gehen nur bis auf die 50er Jahre zurück: Ein sichtbares Denkmal für die Zerstörungskraft eines Krieges. Dennoch war der Propst der Kathedrale, R.T. Howard, eine bemerkenswerte Persönlichkeit, die es schaffte, dieser düsteren Geschichte noch etwas positives abzuringen. 1940 lud die BBC Propst R.T. Howard ein, eine ihrer Weihnachtsübertragungen von den Ruinen aus zu leiten. In seiner Ansprache sagte er:

"Früh an diesem Weihnachtsmorgen, hier inmitten der Ruinen der schönen Steinkapelle, die vor 600 Jahren gebaut wurde, haben wir den Tag mit unserer Weihnachtskommunion begonnen. Dabei haben wir Christus lobgepriesen, glaubt mir, so fröhlich wie immer. Was wir der Welt mitteilen wollen ist: Mit Christus in unseren Herzen versuchen wir, so schwer es auch sein möge, alle Rachegedanken zu verbannen. ... Wir wollen versuchen, eine freundlichere, einfachere ´Gotteskinder-ähnliche` Art von Welt zu schaffen."

Seltsamerweise wurde die Idee von etwaiger Versöhnung von einigen anderen BürgerInnen angenommen. Eine kleine Gruppe beispielsweise, von denen fast alle Eigentum oder geliebte Menschen verloren hatten, beschlossen 1940 Deutsch zu lernen, um direkt nach dem Ende des Konfliktes in der Lage sein zu können, mit ihren Ex-Feinden zu kommunizieren. 1946 trug ihre Arbeit Früchte, indem sie die erste englisch-deutsche Freundschaftsgemeinschaft der Nachkriegszeit gründeten.

Ein anderes Beispiel war Gwillym Williams, ein Gebäudefachmann, der 1946 für die Kontrollkommission der Alliierten in Deutschland arbeitete. Williams kam aus Coventry. Dennoch setzte er sich für den Wiederaufbau der Stadt Kiel ein, die wärend des Krieges von britischen Bomben zerstört worden war. Sein Einsatz für die Sache bewegte seine deutschen Mitarbeiter so sehr, dass der Kieler Oberbürgermeiser, Andreas Gayk, in einem Interview sagte: "Dieser Mann, dessen Heimatstadt von der deutschen Luftwaffe sinnlos zerstört wurde, fühlte keine Befriedigung in der Tatsache, dass die königliche Luftwaffe auf den Pfennig genau zurückgezahlt hat. Dieser Mann hat sofort alles in seiner Macht stehende getan, um der Stadt zu helfen, die das Schicksal seiner Heimatstadt geteilt hatte. ... Herr Williams brauchte nicht Jahre, wie ein großer Teil der Menschheit, um die großen Mauern aus Hass, die der Krieg zwischen allen Nationen aufgebaut hatte, zu überwinden. Er ordnete die Pflicht der Menschlichkeit über jeglich Art von engstirnigem, kurzsichtigem Nationalismus an. Er kam, um uns zu helfen, unsere Häuser wieder aufzubauen."

Währenddessen fuhr der Propst mit seiner Wiederversöhnungsarbeit fort. Er war Weihnachten 1946 wieder zu einer BBC-Sendung eingeladen, diesmal zusammen in einer Gemeinschaftssendung mit einer römisch-katholischen Kirche aus Deutschland. "Sie wissen, was uns hier in Coventry zugestoßen ist, und Sie können es sich leicht vorstellen, wie das war. Wir wissen, was Ihnen in Hamburg passiert ist und können es uns teilweise vorstellen. ... Ich denke, ich kann das Christkind in seiner Krippe zwischen unseren Füßen liegen sehen; über dem Kind meine ausgestreckte Hand in deiner, mein Bruder. In das Gesicht des Säuglings Jesus - Gott in menschlichem Fleisch - herunterschauend, kommen mir zwei Worte in den Sinn. Das erste Wort ist "Vergebung" und das zweite Wort ist "Neue Geburt". Wir müssen 20.000 neue Häuser bauen ... aber noch wichtiger ist, dass ein neuer Geist geboren wird - neuer Mut, neuer Glaube, neue Selbstlosigkeit, neues Mitleid für den anderen, neue Familie, Liebe und Reinheit."

Eine Antwort kam von Pastor Mecklenburg aus Hamburg: "Ihre Nachricht von Vergebung und neuer Geburt erweckt ein Echo in meinem Herzen. ´Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.` Wenn diese Worte nur in allen unseren Herzen wiederklingen könnten! Wenn wir unsere Verbitterung und unseren Hass nur verbannen könnten und von vorne anfangen könnten! Dann glaube ich, dass unsere Kinder - Ihre und unsere - zusammen in Frieden und Brüderlichkeit leben können.

Propst Howard war sicher, dass Verzeihung, Versöhnung und internationale Freundschaft die Schlüsselbegriffe der christlichen Arbeit der Nachkriegszeit in Coventry sein sollten. Es wurde eine Litanei komponiert, die noch jeden Freitagmittag in den Ruinen der alten Kirche rezitiert wird:

Es gab einige, die die Worte, "Vater, vergib" als "Vater, vergib jenen bösen Deutschen, weil ich es nicht werde" interpretierten. Der Propst lehnte diese Haltung kategorisch ab und sagte "Es gibt keine Unschuldigen; wir alle brauchen Vergebung; das Verständnis dafür ist der Anfang der Versöhnung."

Abgesehen von einigen Hochs und Tiefs versuchten die Kirche und Stadt diese Vision zu erfüllen. Es wurden Verbindungen zu Städten wie Kiel, Dresden, Stalingrad und Lidice geknüpft. Diese Verbindungen wurden ausgeweitet, um Friedensprojekte in Griechenland, Israel, Irland und sogar Indien zu entwickeln. Der Direktor städtischer Studien in der Kathedrale von Coventry 1970 war ein methodistischer Minister, Kenyon Wright, der vorher fünfzehn Jahre in Westbengalen gearbeitet hatte. Tief beunruhigt über das Schicksal der Stadt wärend der Flüchtlingswelle 1971, war Reverent Wright ein Gründermitglied der Kalkutta-Europa-Vereinigung. Diese umfasste Agenturen in Großbritanien, Deutschland, Dänemark und den Niederlanden mit dem Zweck Projekte wie "Kalikata Bustee Pragati Sangstha" finanziell zu unterstützen.

Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Winter

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Alan Hunter ist Senior Lecturer im Friedensforschungszentrum (Centre for the Study of Forgiveness and Reconciliation) an der Universität Coventry.