Leserbriefe zum Thema Israel-Palästina

Redaktionelle Vorbemerkung
Im Friedensforum 5-6/2006 (S. 27) hatten wir einen kurzen Beitrag von Albert Scherr mit dem Titel "Sechs einfache Wahrheiten über den Krieg im Nahen Osten" veröffentlicht. Hierzu haben uns drei Leserbriefe erreicht, die sich aufeinander beziehen (die Schreiber kennen einander) und die wir nachstehend in leicht gekürzter Fassung dokumentieren.
Wir möchten in diesem Zusammenhang auch auf eine verwandte Diskussion hinweisen, die um das sog. "Manifest der 25", eine von dem Friedensforscher Reiner Steinweg initiierte Erklärung, die in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde. (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/dokumentation/?em_cnt=1
009655). Steinweg bereitet derzeit auch eine Dokumentation aller Reaktionen auf dieses Manifest hervor, auf die wir, sobald sie erschienen ist, auch hier im Friedensforum verweisen werden.

Meinungsvielfalt im FriedensForum schrankenlos?
Leserbrief von Christian Uliczka

"Sechs einfache Wahrheiten ..." von Albert Scherr verheißt uns die Überschrift. Doch nimmt der Autor selber diesen Trompetenstoß schon mit der unter "1." von ihm verlautbarten "Wahrheit!" zurück, dass es nämlich "keine einfachen Wahrheiten" gebe.

Das "Existenzrecht eines israelisch-jüdischen Staates" auf palästinensischem Boden als ein Recht zu bestreiten, gibt es bedenkenswerte Gründe. Die sogenannte Balfour-Deklaration von 1917, das Versprechen des damaligen britischen Außenministers, die Gründung einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina zu unterstützen, steht insofern auf tönernen Füßen, als die Briten, im Ersten Weltkrieg bloße Besatzungsmacht im staatsrechtlich noch türkischen Palästina, völkerrechtlich nicht befugt waren, über die Besiedlung des besetzten Landes zu befinden. Und dass dieses Land damals menschenleer gewesen wäre, ist eine zionistische Fiktion; es war die Heimat von Arabern.

Davon abgesehen, kann man ein Recht auch missbrauchen und durch dauernden Missbrauch schließlich verwirken. Der Staat Israel verantwortet eine endlose Kette von Rechtsbrüchen: das fast 40 Jahre andauernde Besetzthalten von palästinensischem Land, das planmäßige Zerstückeln des Gebiets durch fortgesetztes Anlegen jüdischer Siedlungen, den Bau der Mauer auf palästinensischem Grund, endloses Festhalten palästinensischer Gefangener ohne gerichtliches Verfahren, unaufhörliche Mordanschläge auf missliebige Araber in ihren Häusern und auf offener Straße von Militärhubschraubern aus und, erst vor kurzem, das vom-Zaun-Brechen des Angriffskriegs gegen den Libanon und das planvolle Zerstören von dessen Infrastruktur. Im besetzten Gebiet gilt zweierlei Recht, ein komfortables für die Siedler und ein strangulierendes für die angestammten Bewohner: ein hoch-effizienter Apartheidstaat (Felicia Langer, israelische Friedens- und Menschenrechtsaktivistin, "Die Entrechtung der Palästinenser", von Euch auf Seite 36 rezensiert).

Dass Rechtsbrüche auch von der Gegenseite begangen werden, nötigt ebenso wenig wie die Deutschland zuzurechnende systematische Vernichtung der Juden Europas Deutsche zu der vom Autor eingeforderten Äquidistanz zu den Konfliktparteien. Gleicher Abstand von Tätern wie Opfern?? Und Israel muss sich an seinem Anspruch messen lassen, ein demokratischer Rechtsstaat auf der Höhe der Zivilisiertheit zu sein. Der Holocaust kann das institutionalisierte Unterdrücken der dafür nicht im geringsten verantwortlichen arabischen Bevölkerung Palästinas nicht rechtfertigen. Und, dass gerade Deutsche und gerade diejenigen Deutschen, die Israel wohlwollen, den Staat Israel durch offene Kritik vom Unterdrücken der Palästinenser abzubringen versuchen sollten, ist eine alte Empfehlung von Felicia Langer.

Vom Erheben des "Antisemitismus"-Zeigefingers dürfen an Recht und Gerechtigkeit orientierte Friedensfreunde sich nicht beirren lassen. Miterleben zu müssen, wie peinlich ostentativ die EU, Deutschland voran, darauf bedacht war, der israelischen Aggression gegen den Libanon nur ja nicht zu früh in die Quere zu kommen, war bedrückend. (...) Die Friedensbewegung darf sich dadurch nicht korrumpieren lassen. Wenn sie nicht überall dort eindeutig Stellung bezieht, wo das Recht verletzt wird, also auch gegenüber Israel, führt sie sich selbst ad absurdum. (...)

Christian Ulicazka

Einfache oder schwierige Wahrheiten zu Israel und Palästina?
Eine Antwort an Albert Scherr von Matthias Jochheim

Albert Scherrs Beitrag "Sechs einfache Wahrheiten" im letzten Friedensforum habe ich eher als Ärgernis denn als produktiven Beitrag zur friedenspolitischen Diskussion in Bezug auf den Nahost-Konflikt empfunden, und dies aus mehreren Gründen:

  • Er fordert "gleiche Distanz" gegenüber allen am Konflikt beteiligten Seiten, und das heißt im Ergebnis: gegenüber der israelischen Okkupationsmacht einerseits, der okkupierten palästinensischen Bevölkerung andererseits. Als handele es sich um einen Konflikt zwischen grundsätzlich Gleichen, und nicht um brutale Unterdrückung durch ein quasi koloniales Militärregime in Gaza und der Westbank, unter eklatanter Verletzung von Völker- und Menschenrecht. Als gehe es bei Mauerbau und Siedlungspolitik der israelischen Regierung nicht um permanenten Landraub, und damit eine immer weitergehende Strangulation der Menschen in den besetzten Gebieten. All dies kann man in den Veröffentlichungen der israelischen Friedenbewegung in aller wünschenswerten Deutlichkeit nachlesen, und es ist schade, dass Albert Scherr diese Fakten offenbar noch nicht einmal für erwähnenswert hält. Gush Shalom und eine ganze Reihe weiterer, bewundernswert mutiger und klarer israelischer Friedensgruppen haben es längst erkannt und benannt: die seit nunmehr fast 40 Jahren fortgeführte Okkupation der 67 besetzten Gebiete ist das Grundübel, welches zur Fortdauer der "low-intensity"-Kriegs führt und die ganze Region zum Herd eines weit darüber hinaus reichenden Konflikts macht.
  • Denn: die israelische Regierungspolitik ist keineswegs isoliert zu sehen, sondern erst deren fortgesetzte politische, ökonomische und militärische Unterstützung durch die USA, die europäischen Staaten und die EU ermöglichtden permanenten Kriegszustand an einem weltpolitisch neuralgischen Punkt, einer Nahtstelle zwischen dem Westen und der arabisch-islamischen Welt. Statt die aus der Kolonialherrschaft und speziell in Deutschland aus dem Mord an den europäischen Juden erwachsene Verantwortung für den Frieden wahrzunehmen, macht die von den europäischen und US-amerikanischen Machteliten betriebene Politik der doppelten Standards und der Heuchelei jeden Schritt zu einem vernünftigen Interessenausgleich in der Region zunichte.
  • Doppelte Standards, wie sie auch in A. Scherrs Text zum Ausdruck kommen, denn: warum fordert er nur die Anerkennung des Staates Israel, nicht aber ebenso die Anerkennung selbstbestimmter Staatlichkeit für die Palästinenser? Die Elemente für eine politische Lösung, für ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern, Juden, Arabern, Muslimen und Christen sind längst entwickelt. Staatliche Selbstbestimmung in international garantierten und wechselseitig anerkannten Grenzen ist ein Teil solcher Konzepte. Was fehlt, sind nicht die Ideen für nachhaltigen Frieden im Nahen Osten, sondern der politische Wille nicht nur der israelischen, sondern eben gerade auch der westlichen Regierungen.
  • Unumstritten sollte sein, dass wir besonders in Deutschland nie die eigene historische Verwicklung und damit unsere Verantwortung für den Nahost-Konflikt vergessen dürfen; und dass jeder Antisemitismus auch in der friedenspolitischen Debatte identifiziert und bekämpft werden muss. Geschichtliche Verantwortung haben wir allerdings auch für das Schicksal der Palästinenser, und ein mit westlicher Rüstung aufrechterhaltener Kriegszustands dürfte eben genauso wenig im wohlverstandenen Interesse der jüdischen Menschen in Israel liegen, wie er unseren eigenen Friedens-Interessen als europäischen Bürgern widerspricht.

Als Koordinationskreis gegen den Mauerbau in Palästina, in dem u.a. auch die Palästinensische Gemeinde in Deutschland und die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden mitarbeiten, wollen wir deswegen auf deutsche und EU-Instanzen solange einwirken, bis Waffenexporte in die Krisenregion Nahost völlig eingestellt und Handelsbeziehungen daraufhin überprüft werden, inwieweit sie mit dem Menschen- und Völkerrecht vereinbar sind. Die demokratisch gewählte palästinensische Selbstverwaltung muss als Partner für Dialog und Zusammenarbeit akzeptiert werden, die strangulierenden Sanktionen gegen die palästinensische Bevölkerung müssen sofort beendet werden. Wir meinen, dass dies der wirkungsvollste Beitrag ist, den wir von hier aus für eine friedliche Entwicklung in dieser Region leisten können, und sehen uns dabei in voller Übereinstimmung mit unseren israelischen und palästinensischen Gesprächspartnern.

Matthias Jochheim
vgl. http://www.stopdiemauer.de

Äquidistanz zu allen Kriegführenden und allen Terrorformen
Leserbrief von Ulrich Sander

Es schockiert mich, dass neuerdings vereinzelt auch in der Friedensbewegung Stimmen zu hören sind, dass es bedenkenswerte Gründe gebe, das Existenzrecht eines israelisch-jüdischen Staates zu bestreiten; ja es wird sogar behauptet, Israel habe es durch seine verurteilenswerte Politik verwirkt. Eine Äquidistanz zu den Konfliktparteien sei abzulehnen. Der Verweis auf die deutsche Geschichte habe zu unterbleiben.

Das Existenzrecht Israels ist begründet mit Auschwitz und Holocaust. Die theoretischen Diskussionen der Zionisten und Antizionisten in der internationalen Arbeiterbewegung in den Jahren bis zur Machtübertragung an Hitler sind mit Gaskammmern und Krematorien beendet worden. Ich kenne nur ganz rechte Kräfte und die iranische Staatsführung, die die Diskussion darüber wieder eröffnen möchten, das Existenzrecht Israels zu bestreiten.

Gut, dass Eure Zeitschrift dazu das notwendige und richtige geschrieben hat.

Wer Rechte missbraucht, der verwirkt sie? Das ist die Absage an jede Verhältnismäßigkeit. Israel führt grausame Kriege gegen die Araber - und viele Araber gegen Israel. Die Schuld liegt mehr bei Israel als bei den Arabern. Aber wird damit das Recht auf den Staat Israel oder das Recht der Palästinenser auf ihren - hoffentlich bald entstehenden - Staat verwirkt? Hätten die Sieger 1918 und 1945 den deutschen Staat beseitigen sollen? Sollen wir nun die Staatlichkeit der USA verneinen?

Äquidistanz zu Kriegführenden ist seit 1945 die Grundlage jeder Friedensbewebung. "Marschieren wir gegen den Westen? - Nein. Marschieren wir gegen den Osten? - Nein. Wir marschier`n für eine Welt, die von Waffen nichts mehr hält, denn das ist für uns am Besten." So sang die Ostermarschbewegung. Der Westen und der Osten sind so nicht mehr da. Es gibt andere Konfliktparteien. Sie und all ihre Waffen zu relativieren, das bedeutet, dass die Friedensbewegung zur Kriegsbefürworterin wird: Wir stellen uns auf eine Seite der Kriegführenden - der Krieg hört nimmer auf.

Gleiche Distanz zu allen Formen des Terrors - was denn sonst? Der Bezug der deutschen Friedensbewegung auf ihre Verantwortung vor der Geschichte - was denn sonst?

Natürlich sind politische Unterschiede auszumachen. Die Politik der Angegriffenen setze ich nicht mit jener der Angreifer auf eine Stufe. Aber jede Seite hat heutzutage etwas vom Angreifer wie vom Angegriffenen. Wir haben nicht nur eine Moral, sondern machen auch Politik. Aber diese Politik muss moralisch sein. Wenn Karl von Clausewitz in seinem Buch "Vom Krieg" schreibt: "Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", dann bedeutet dies für uns, dass eine bestimmte Politik zwangsläufig zum Krieg führt und zwar dann und in soweit, als sie politische Ziele bestimmt, die nur mit Krieg zu erreichen sind. Solche politischen Ziele sind zu verurteilen. Die iranische Führung und bestimmte islamische Fundamentalisten haben mit dem Ziel der Beseitigung Israels ein politisches Ziel, das Krieg voraussetzt. Die USA, die EU, auch Israel haben politische Ziele, die des Krieges bedürfen. Nur wirkliche Friedenspolitik stellt die Alternative zum Krieg dar. Zu einer solchen Friedenspolitik sind wir verpflichtet.

Kürzlich fragte das "Neue Deutschland": Wie können Journalisten und Politiker dem Vorwurf des Antisemitismus entgehen, wenn sie sich der israelischen Politik kritisch gegenüberstellen wollen? Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery antwortete: "Sie müssen in ihrer Kritik deutlich machen, dass sie nicht gegen die Existenz Israels sind, sondern lediglich das Interesse von Palästinensern und Israelis gleichermaßen berücksichtigen wollen. Das muss vollkommen klar sein." (ND 27. März 2006)

Ulrich Sander

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