Zu den Haftbefehlen und Anerkennung des Staates Palästina

Neue Entwicklungen im Nahost-Konflikt

von Clemens Ronnefeldt
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Im Jahre 2021 wurde Ahmad Khan zum Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes gewählt. Seine Vorgängerin von 2012 bis 2021, Fatou Bensouda, zuvor Justizministerin Gambias, war vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump bei ihrer möglichen Verlängerung ihrer Amtszeit blockiert worden, weil sie zu möglichen Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan recherchierte – woraufhin ihr die US-Regierung 2019 das Einreisevisum in die USA entzog.

Bei seiner Bewerbungsrede hatte Ahmad Khan, Anhänger der weltweit verfolgten muslimischen Ahmadiyya-Gemeinschaft, gesagt, dass es „keinen besseren Ort“ für einen Anwalt gebe, der „sich für internationale Gerechtigkeit einsetzt“ (Publik-Forum, 31.5.2024, S. 6).

Im Mai 2024 hat Ahmad Khan Haftbefehlsanträge gegen die Hamas-Verantwortlichen Jahia Sinwar, Mohammed Deif und Ismael Hanijeh wegen „Ausrottung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gestellt.

Dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant wirft Khan „Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung“ vor.

Heribert Prantl bezeichnete in der Süddeutschen Zeitung am 31.5.2024 diese Haftbefehlsanträge als „Versuch einer humanitären Intervention mit den Mitteln des Rechts“. Es gelte dort zu zeigen, „dass das Völkerrecht für alle gilt“ und: „Das Recht steht auf der Seite der Opfer von Gewalt“.

Der 2002 eingerichtete Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der kein UN-Organ ist, sondern auf Grundlage des „Römischen Statutes“ bisher von 123 Staaten anerkannt und getragen wird, hat in der Vergangenheit vor allem Einzelpersonen aus Afrika angeklagt und auch verurteilt. Dem Vorwurf der Einseitigkeit begegnete der Strafgerichtshof im März 2023 durch einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin.

Zu einem Wendepunkt im aktuellen Israel-Gaza-Krieg könnten die genannten Haftbefehlsanträge auch werden, weil fast gleichzeitig ein bisher nicht öffentlicher Konflikt zwischen der bereits erwähnten langjährigen Chefanklägerin des Strafgerichtshofes, Fatou Bensouda, und der israelischen Regierung durch Artikel u.a. im britischen Guardian, in Haaretz und in der Süddeutschen Zeitung (SZ) an die Öffentlichkeit gelangt ist.

Die SZ titelte am 1./2.6.2024 „Der ehemalige Chef von Israels Geheimdienst Mossad soll die langjährige Chefanklägerin des Weltstrafgerichts bedroht haben – in Netanjahus Auftrag“.

Der SZ-Redakteur Ronen Steinke, der selbst als Jurist am Strafgerichtshof gearbeitet hat, führt in diesem SZ-Artikel aus. „Es geht um abgehörte Privatgespräche, um Einschüchterungsversuche – und (…) Premierminister Benjamin Netanjahu“. Dessen enger Vertrauter, Mossad-Chef Yossi Cohen, soll bis 2021 bei persönlichen Treffen Fatou Bensouda unter Druck gesetzt haben, um sie von Ermittlungen gegen Israel abzubringen.
Ronen Steinke schreibt weiter: „Damals hatte der Gerichtshof gerade ein neues Mitgliedsland aufgenommen: den ‚Staat Palästina‘. Mahmud Abbas, der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, hatte sich in Den Haag persönlich mit Bensouda getroffen. Wenige Wochen darauf hatte Bensouda Vorermittlungen gestartet, um den von Abbas erhobenen Vorwürfen gegen Israel nachzugehen. In Israels Regierung soll dies große Aufregung ausgelöst haben. Der damalige Mossad-Chef Cohen soll von nun an eine intensive Überwachung des IStGH betrieben haben. Telefonleitungen wurden abgehört, E-Mails abgefangen. Etwa 60 Personen standen im Fokus, so heißt es im Guardian unter Berufung auf Quellen im israelischen Sicherheitsapparat.

Dass dieser Skandal nicht schon früher bekannt wurde, hängt mit einem Einschüchterungsversuch gegenüber einem Journalisten der israelischen Zeitung „Haaretz“ zusammen: „Ein Investigativjournalist von Haaretz, Gur Meggido, hat inzwischen beschrieben, wie er 2022 bereits kurz davor gestanden habe, diesen jahrelangen Kampf der Netanjahu-Regierung gegen den IStGH öffentlich zu machen. Doch dann sei er plötzlich in eine israelische Sicherheitsbehörde einbestellt worden. Mehrere hochrangige Beamte hätten dort auf ihn gewartet und klargemacht: Wenn er in dieser Sache publiziere, würde er ‚Verhörzellen von innen kennenlernen‘. Haaretz sah dann von einer Veröffentlichung ab. Yossi Cohen schied 2021 aus dem Mossad aus. Fatou Bensouda hat 2021 ihre Amtszeit regulär beendet. Heute lebt sie als Diplomatin in Großbritannien. Noch kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit hatten die Richterinnen und Richter am IStGH ihrem Antrag auf Ermittlungen in den Palästinensergebieten stattgegeben“, so Ronen Steinke in der SZ.

Dieser Hintergrund ist für die aktuelle Anklageerhebungen von Ahmad Khan von erheblicher Bedeutung, ebenso wie die schwerwiegenden Aussagen des Internationalen Gerichtshofes und des UN-Generalsekretärs zur israelischen Kriegführung im Gazastreifen: „António Guterres, hat den israelischen Luftangriff Ende Mai 2024 auf Rafah kritisiert: "Es seien 'unschuldige Zivilisten getötet' worden, die Schutz gesucht hätten, erklärte der UN-Generalsekretär. (…) 'Dieser Horror muss aufhören‘“, zitierte ihn die Deutsche Welle am 28.5.2024.

Den Ankündigungen Norwegens, Spaniens, Irlands und Sloweniens, Palästina als Staat anzuerkennen, könnten sich auch Frankreich und Deutschland anschließen – und zusätzlich durch den Stopp von Waffenlieferungen an die israelische Regierung eine neue Dynamik erzeugen, die Gewalt zwischen Israel und Palästina endlich im Zuge diplomatischer Lösungen zu einem Ende zu bringen.

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.