Rechtsprechung nach dem Abzug der Atomraketen

Sitzblockaden

von Ulrich Vultejus

Sitzblockaden vor Raketendepots und vergleichbaren militärischen Einrichtungen sind bei uns nicht so recht, aber vielleicht doch ein bißchen strafbar. Einzig der §240 StGB (Nötigung) bietet einen Ansatzpunkt für die Strafverfolgung, und so sind wegen Blockaden vor dem Raketende­pot in Mutlangen Tausende von Atomwaffengegnern wegen Nötigung durch das Amtsgericht in Schwäbisch-Gemünd - gebilligt in unzähligen Revisionsentscheidungen von dem Oberlandesgericht in Stuttgart - verurteilt worden. Juristisch war dies immer ein Kunststück, denn zum einen muß, um die Verurteilung mit dem Gesetz begründen zu können, das friedliche Sitzen auf der Straße als "Gewalt“ bewertet werden, und zum anderen ist die Tat nach §240 Abs. II StGB nur rechtswidrig, „wenn die Anwendung der Gewalt… zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“

 

Richterinnen und Richter mit nur ein wenig Sensibilität hatten immer Schwierigkeiten, Sitzblockaden, und damit den Protest gegen Atomraketen, als "verwerflich" einzustufen und so ein moralisches Unwerturteil auszuspre­chen. Aus dieser Klemme hat den weniger Sensiblen der Bundesgerichtshof und ihm folgend auch das als Obergericht für Mutlangen zuständige Oberlandesgericht Stuttgart geholfen. Die "Fernziele" dürften bei der Prüfung der Verwerflichkeit nicht berücksichtigt werden: Ich habe diese Rechtsprechung immer für verfehlt gehalten (vgl. meinen Aufsatz in "Betrifft Justiz" 1987/88 S. 228 ff.). Ein Gericht darf nicht mut­willig einen wesentlichen Teil des Sachverhalts ausblenden. Jetzt - sicher­lich nicht zufällig nach Abzug der Atomraketen - hat das Oberlandesgericht Stuttgart von der Öffentlichkeit fast unbemerkt diese Rechtsprechung in drei Entscheidungen vom 4.10.1991, 18.2.1992 und 18.2.1992 (Neue Juristi­sche Wochenschrift 1992, S. 2713. ff.) gekippt. "Fernziele" sind nun wieder zu berücksichtigen. Die Begründung in der ersten der genannten, vom Gericht nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Ent­scheidung ist sensationell. Ich habe der­gleichen noch nie in einer Gerichtsent­scheidung gelesen:

"Sein (des Gerichts, d. Verf.) damaliges Bemühen, die Nötigungsrechtsprechung wesentlich zu vereinfachen, sieht der Senat in Anschauung später an ihn herangetragener Lebenssachverhalte schon seit längerem als gescheitert an." Die Schuld tragen natürlich die Amts­richter, die pflichtvergessen dem Oberlandesgericht Stuttgart gefolgt waren: "Zwar kann ein Urteil im Einzelfall auch dann Bestand haben, wenn diese Auseinandersetzung (Rechtliche Würdi­gung der Tat, d. Verf.) unvollständig oder rechtlich fehlerhaft ist, sofern nur auszuschließen ist, daß das Urteil auf diesem Fehler beruht. Dies setzt aber regelmäßig voraus, daß der Tatrichter voll hinter seinem Urteil steht und das Revi­sionsgericht aufgrund seiner Kenntnis der Rechtsprechung des Tatrichters aus­reichend verläßlich beurteilen kann, daß dieser auch bei vollständiger und richtiger Abwägung zu keinem anderen Ergebnis gekommen wäre. Hier ist es umgekehrt. Der Senat muß annehmen, der Tatrichter hätte die Verwerflichkeit der Sitzblockade verneint und freigesprochen, hätte er sich daran nicht insbeson­dere durch die Rechtsprechung des Se­nats 'gehindert' geglaubt."

Nach einer Schrecksekunde wird der Leserin deutlich, daß das Oberlandesge­richt dem Amtsrichter Rechtsbeugung vorwirft, weil es ihm unterstellt, der Amtsrichter habe sich 'gehindert' gese­hen, nach seiner eigenen richterlichen Überzeugung zu entscheiden. Können wir jetzt noch den Richterinnen und Richtern in der DDR Vorwürfe machen?

Das Landgericht in Ellwangen - auf dem Weg, zwischen dem Amtsgericht in Schwäbisch-Gemünd und dem Oberlan­desgericht in Stuttgart gelegen - hat jetzt das seit acht Jahren anhängige Verfah­ren gegen den katholischen Tübinger Theologen Norbert Greinacher wegen "Nötigung" in Mutlangen eingestellt und will auch die weiteten 140 noch bei ihm anhängigen gleichartigen Verfahren ein­stellen. Die Verfahren verletzen nach Ansicht des Gerichts den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie seien "für alle Beteiligten unzumutbar" und würden auch bei der rechts treuen Bevölkerung "weitgehend auf Unverständnis stoßen". Es sei "auch kaum noch möglich'', den Schöffen die Weiterführung der Prozesse zu erklären. Der gewählte Weg ist taktisch nicht ungeschickt, weil hier die Einstellung möglicherweise anders als bei solchen wegen Geringfügigkeit nicht vom Einverständnis des Angeklagten abhängig ist. Doch er ist neu in der Rechtsgeschichte. Seit wann hängt die Durchführung eines Verfahrens davon ab, ob es den Richtern zumutbar ist und den Schöffen erklärt werden kann? Gilt das jetzt auch in anderen Verfahren, etwa wegen eines Schwangerschaftsabbruchs? So ist die Rechtsprechung in Scbwäbisch-Gemünd und Stuttgart zu den Sitzblockaden stilgerecht so un­rühmlich zu Ende gegangen, wie sie immer gewesen war. Am 11.12.1992 hat der Deutsche Bundestag über die Nöti­gungsverfahren diskutiert. Der Abge­ordnete Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) und der Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS) haben die er­satzlose Streichung des §240 StGB gefordert. Der Abgeordnete Dr. Hans de With hat für die SPD-Fraktion einen Absatz 3 für den § 240 StGB gefordert: ''Eine Blockierung des Verkehrs oder die Störung einer Veranstaltung im Rahmen friedlicher Demonstrationen ist nur strafbar, wenn die Blockierung oder die Störung zu dein angestrebten Zweck unter Berücksichtigung der Folgen für die Rechte anderer und der Beweggründe des Täters im erheblichen Maße als verwerflich anzusehen ist." Gleich­zeitig hat de With eine Amnestie für die bereits abgeurteilten Fälle gefordert. Niemanden wird es wundern, daß sich die Abgeordneten der CEDU und der CSU gegen eine Gesetzesänderung aus­gesprochen haben. Auch die FDP, einst eine liberale Partei, hat sich gegen die Anträge der Opposition gestellt. Der In­halt der Debatte ist kaum berichtens­wert. Ich möchte jedoch den Abgeord­neten Dr. Jürgen Meyer (SPD) zitieren. Ihm geht es nur um die Unklarheiten und Unsicherheiten in der Rechtspre­chung, die seinen Ordnungssinn stören: "Die Raketen sind weg, aber die Pro­zesse gehen weiter. Wer damit aller­dings die Aufforderung verbindet, die Gerichte oder der Gesetzgeber sollten nun endlich den Erfolg der friedlichen Demonstrationen durch symbolische Blockaden von Atomraketenlagern ho­norieren, denkt zu kurz. Denn die Vergabe von Prämien für politische Er­folge ist nicht Sache des Gesetzgebers." Mensch Meyer! Was aber wird mit den tausenden Verfahren, in denen die An­geklagten aus jetziger Sicht zu Unrecht wegen Nötigung verurteilt worden sind? Hier kann nur ein Gnadenverfahren hel­fen. Deshalb haben die Humanistische Union sowie die Richterinnen und Richter in der ÖTV den Justizminister Schäuble in Stuttgart gebeten, in allen Fällen von Amts wegen Gnadenverfah­ren einzuleiten und zu prüfen, ob die Angeklagten freigesprochen wären, wenn die fehlgeleiteten Amtsrichter sind an einem Freispruch nicht 'gehindert' gesehen hätten. Das Justizministerium hat dies abgelehnt und sich um eine rechtliche Belehrung bemüht, jedoch eine Prüfung von Gnadengesuchen im Einzelfall zugesagt. Die SPD im Ländle ist jetzt aufgerufen, ihren Worten von gestern nun Taten folgen zu lassen und die Gnadenverfahren von Amts wegen in der Koalition durchzusetzen. Die SPD kann letztlich nicht im Deutschen Bundestag und in den Bundesländern mit gespaltener Zunge reden. Die Grü­nen haben die Chance, dies im Stutt­garter Landtag zur Sprache zu bringen.

 

aus: Betrifft JUSTIZ Nr. 33, März 1993

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Hintergrund
Ulrich Vultejus ist Strafrechtler.