Kosovo: Das nationale Selbstbestimmungsrecht -

Stimmungsmacher im Schlachthaus der Geschichte

von Rudolf Walther

Im Dezember 2005 übernahm der finnische Ex-Präsident Martti Ahtissari von der UNO das Mandat, mit einer serbischen und einer der kosovo-albanischen Delegation über den zukünftigen Status der serbischen Provinz Kosovo zu verhandeln. Am 26. Januar 2007 legte er der Kontaktgruppe seinen umfangreichen Plan vor. Über den Rechtsstatus des Kosovo soll abschließend der UN-Sicherheitsrat entscheiden.

In der Hauptsache - der Unabhängigkeit der Provinz Kosovo - gab es zwischen den beiden Delegationen keinerlei Annäherung. Gegen den Willen der Serben soll eine Provinz vom Land abgetrennt werden und ihre international überwachte Souveränität erhalten. Auf dem Balkan entstünde damit ein vom UN-Sicherheitsrat gestifteter neuer Staat. Diese "realpolitische" Lösung birgt allerlei Sprengstoff.

Mit der UN-Resolution 1244 wurde Serbien die völkerrechtliche Souveränität garantiert. Das schließt die Souveränität über die Provinz Kosovo ein. Wenn der Sicherheitsrat entscheiden würde, gegen den Willen der serbischen Regierung und der serbischen Minderheit, die Provinz aus Serbien herauszulösen, schüfe er erstens einen Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen und verließe zweitens den Boden des Völkerrechts, das eine solche Zwangssezession, das Serbien ein Fünftel des Staatsgebiets entzieht, nicht vorsieht. Der ohnehin abbröckelnden Geltung des Völkerrechts würde das einen weiteren Schlag versetzen und Konflikte anheizen.

Die Herauslösung einer Provinz ist nicht gleichzusetzen mit der Verselbständigung der ex-jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro. Die staatliche Souveränität dieser Teilrepubliken beruht auf dem Urteil eines Schiedsgerichts, das der ehemalige französische Justizminister Robert Badinter leitete. Dieses sprach den Teilrepubliken das Recht zur Sezession zu, weil der Föderativstaat Jugoslawien nicht mehr existiere und zwischen den Teilrepubliken Krieg herrschte. Auch dieser Schiedsspruch steht völkerrechtlich auf wackeligen Beinen. Die Kosovoalbaner können sich jedoch auf dieses Urteil gar nicht berufen, denn der Kosovo war nie eine Teilrepublik, sondern eine serbische Provinz mit bestimmten Sonderrechten - vergleichbar mit dem Status von Québec in Kanada oder dem Baskenland in Spanien.

Die unausgesprochene Basis sowohl des Plans des UNO-Vermittlers als auch der kosovo-albanischen Autonomie- sowie der serbischen Souveränitätsansprüche ist eine Fiktion mit blutiger Geschichte: das Selbstbestimmungsrecht oder genauer das nationale Selbstbestimmungsrecht, das 1966 völkerrechtlich als "Selbstbestimmungsrecht der Völker" normiert wurde. Alle drei Komponenten des Begriffs - Selbstbestimmung, Recht und Volk/Nation - hängen buchstäblich in der Luft. Kein Mensch weiß, wie sich dieses Selbst konstituiert und worüber es mit welcher rechtlichen Kompetenz bestimmt. Gehören zum "Selbst" der Kosovoalbaner auch die 100.000 im Kosovo wohnenden Serben? Oder alle Menschen albanischer Sprache, die in Albanien, Griechenland, Mazedonien oder in Westeuropa verstreut leben? Oder kommt das Selbstbestimmungsrecht allen Einwohnern der ganzen Teilrepublik Serbien zu? Und was hat es mit Recht in einem anspruchsvollen Sinn, also Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, zu tun, wenn eine Mehrheit eine Minderheit ausgrenzt?

Es gab und gibt kein allgemein akzeptiertes Verfahren, um festzustellen, was eine Nation ausmacht und schon gar keine Antwort darauf, was mit jenen geschehen soll, die zwar eine staatsbürgerliche Zugehörigkeit zu einem Rechtsverband bejahen, aber eine nationale Zuordnung ablehnen wie zum Beispiel Sinti und Roma. Es gab und gibt keine konsensfähige Theorie und keine funktionierende Praxis, wie und von wem das Selbstbestimmungsrecht legitim beansprucht werden darf. Ohne pseudojuristischen Schleier betrachtet, läuft das nationale Selbstbestimmungsrecht geradewegs auf die Gleichsetzung von Recht und Gewalt hinaus - und zwar mit dem Ziel, einem ethnisch, religiös oder sprachlich definierten Teil einer bunten Bevölkerung die Allein- und Vorherrschaft zu verschaffen oder ein Territorium zu homogenisieren.

Bei der Entkolonisierung spielte die Berufung aufs das nationale Selbstbestimmungsrecht - gegenüber den Kolonialherrschern - eine unbestreitbar wichtige und virtuell positive Rolle - aber sehr oft nur vorübergehend. Denn kaum waren viele dieser Staaten unabhängig und souverän geworden, begannen sie mit der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts nach innen, d.h. mit der Vertreibung von Minderheiten.

Das vermeintliche "Recht" löst keine Konflikte, sondern verschärft bestehende und schafft laufend neue. Ebensogut könnte man versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen. Wie auch immer man das bestimmende Selbst definiert - ethnisch, religiös oder sprachlich - es taugt nur dazu, Fremden und Anderen einen minderen Rechtsstatus zuzusprechen, sie zu vertreiben oder zu töten.

Mit der Unterwerfung des vielfältigen lokalen und regionalen Zusammenlebens unter den Primat nationaler Selbstbestimmung wurden die Konflikte auf dem Balkan immer dramatischer und können momentan nur durch massive ausländische Truppenpräsenz einigermaßen in Schach gehalten werden.

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Krisen und Kriege
Rudolf Walther lebt und arbeitet als freier Autor in Frankfurt für deutsche und schweizerische Zeitungen.