Was hat Jugoslawien zusammengehalten?

von Vlasta Jalusic
Hintergrund
Hintergrund

Im Ausland fragt man sich zur Krise in Jugoslawien: Wie konnte es zu einem so schrecklichen und grausa­men Krieg in Jugoslawien kommen, wo wir doch alle in diesem "zivilisierten Europa" leben, in dem so et­was eigentlich nicht mehr vorkommen dürfte? Zuallererst möchte ich betonen, daß die Staaten Europas sehr we­nig über die  wirklichen Pro­bleme und Schwierigkeiten Jugoslawiens zu wissen scheinen und so­mit  kaum fä­hig sind, die komplexe Situation zu durchschauen. Die Pro­bleme werden  vereinfacht und vielfach nicht in ih­ren weitreichenden Verknüpfungen ge­sehen. Ein wei­teres groteskes Erscheinungsbild zeigt sich darin, daß die Menschen in  Jugoslawien immer wieder darauf hin­weisen, daß sie mit den Waffen um den Frieden kämpfen und dieser eben nur durch Gewalt und nur auf diesem Weg erreicht werden  kann. 

Multikulturelles Jugoslawien - eine Fiktion? 

Ist Jugoslawien eine multikulturelle Ge­sellschaft? Hier­auf kann geantwortet werden,  daß in Jugoslawien 45 Jahre lang eine multikulturelle Konstellation existierte;  diese kann man nicht als "bewusst" multikulturelle be­zeichnen, da jede Kultur  ihrerseits in großen Berei­chen monokulturell für sich lebte. Die Sichtweise eines Großteils der Europäer, daß durch den Zusammenbruch des So­zialismus, den  darauffolgenden Span­nungen zwischen Demokratie und Tota­litarismus die heu­tige  Situation in Jugo­slawien entstanden sei, scheint mir ver­einfacht, plakativ und auch  gefährlich. Es ist in­soweit richtig, daß man in Jugo­slawien nach dem Zu­sammenbruch glaubte, daß durch die Einführung der neuen Marktwirtschaft logischerweise sofort  auch de­mokratische Verhältnisse herrschen würden, doch es zeigte sich bald, daß  nach dem ersten Verlust der "alten Ordnung" nicht so schnell eine neue Form des  Zusammenlebens ge­funden werden konnte. Doch be­gannen die großen Schwierigkeiten schon viel früher und zwar in dieser  massiven Form schon bereits 1981 mit der Koso­vokrise und von dort sprangen die  Funken auch auf andere Teile Jugosla­wiens über. Ab­gesehen davon besteht in vielen Kreisen Jugoslawiens jedoch die Meinung, daß es eigentlich ein großes Wun­der  bedeute, daß der Friede über 40 Jahre aufrecht­zuerhalten war. 

Jugoslawien - Zweckbündnis nach außen 

Jugoslawien war ursprünglich auf einem Selbstvertei­digungs-Konzept aufgebaut  worden. Viele kleine Na­tionalitäten schlossen sich zu einem Staat zusam­men, um  einen Wall gegen äußere Feinde aufzubauen. Der Zusammenschluss sollte ein  gemeinsames Überle­ben in einem Nationalstaat si­chern. Bereits im 2. Weltkrieg gab es Bürgerkrieg in Jugoslawien, und dies war kein Krieg  zwischen Kommunisten und Bürgerlichen, son­dern zwischen Kroaten und Serben. Ich  glaube auch, daß man in diesem Zusammenhang die "großen Faschis­men", den deut­schen  und italienischen, zu sehr be­tonte und dabei die Auswirkungen der "klei­nen  Faschismen" vergaß oder sie zumindest zu wenig be­achtete und ihnen zuwenig  Bedeutung zumaß. 

Die Ideologie des Südslawentums war zu diesem Zeit­punkt schon sehr, sehr wichtig; sie stammte jedoch nicht aus dem heutigen Serbien, sondern aus dem Ge­biet, das  ursprünglich zur Monarchie gehörte. Die Ideologie wurde als Ge­gengewicht gegen das  Deutschtum in der Monarchie entwickelt. Auf dieser Idee basierend entstand der 1.  Staat, be­stehend aus Slowenien, Kroatien und Serbien - dem katholi­schen  Westjugo­slawien entsprechend. Dieser Staat überlebte genau einen Monat und dieser Staat war ein Staat ohne Armee. Erst im Jahr 1929 wurde das Königtum errich­tet.  Dieses stellte dann ein dikta­torisches Re­gime dar. Jugoslawien wurde ohne Rücksicht  auf ir­gendeine Volkszugehörigkeit aufgeteilt und exi­stierte in dieser Konstellation  - ähnlich der heutigen - bis zum 2. Weltkrieg. 

Partisanentum als "Kitt" des Staates 

Der 2. Weltkrieg brachte keinen Zerfall Jugoslawiens. Er brachte im Gegenteil neue  integrative Faktoren wie die jugo­slawische Volksarmee und die kommu­nistische  Partei. Die jugoslawische Volksarmee ist aus dem Par­tisanentum entstanden. Die kommunistische Partei ver­suchte die nationalen Fragen zu ra­tionalisieren und zu thematisieren (der Kampf der Südslawen ähnelte einem Genozid; es gab schon tausende  _Tote im nationalen Kampf). Aus den heftigen Kämpfen der sogenannten Brüder er­wuchs  die Vaterfigur Tito, die 1981 starb. Ziel des Volksbefreiungsbundes, aus dem später die jugoslawische Volksarmee  hervorging, war von An­fang an, die Gleichheit unter den Völ­kern herzu­stellen. Die  Partisanen ver­mittelten zwischen der ser­bischen und kroatischen Bevölkerung. Aus  dieser Konstellation heraus erwuchs auch die Wichtigkeit der Integrationsfigur Tito  und des Partisanentums. Die Bruder­schaft entstand nicht so sehr durch die  kommunistische Partei als durch die Person Titos und der Partisanen selbst. Der  Befreiungsbund war in seiner Form pluralistisch und die daraus resultie­rende Partisanenarmee nahm als zwei wichtige Funktionen wahr: 

-     die Funktion der Abhaltung des äuße­ren Feindes 

-     die Integrationsfunktion. Die jugosla­wische Armee funktionierte unter dem Motto "Brüderschaft und Ein­heit":  sie war - wie schon erwähnt - nicht in erster Linie kommunistisch, sondern Mittel,  die Gegensätze im Inneren zu überwinden. 

Die Nachkriegssituation 

Die Einführung des Sozialismus machte das Volk zum "arbeitenden Volk". Die äußeren Feinde wurden der Kapitalis­mus und die Nachbarn, die inneren der  Liberalismus und der Nationalismus. Man sah als ent­scheidende Bilanz des Krieges  die Entstehung "einer Brüder­schaft, die im Blut und Kampf gegrün­det wurde", eine "gemeinsame Brüder­schaft des serbischen und kroatischen Volkes". Nach dem Niedergang des Kommunismus entfielen folgende Inte­grationsfaktoren: 

-     Das arbeitende Volk wird nach dem Tod Titos durch "das Volk als Na­tion" ersetzt. 

-     Der Feind Kapitalismus und parla­mentarische Demo­kratie fielen als äußerer Feind  weg.

-     Der Nationalismus als innerer Feind existierte nicht mehr.

Die Armee heute

Als einziger integrativer Faktor blieb die Volksarmee. Sie sollte die Grenzen schützen und die Grundwerte erhalten. Die Integrations- und Erziehungsfunk­tion der Armee war entscheidend. In ihr waren auf Grund der Ideologie der "Brüderschaft und Einheit" Soldaten aus allen Teilen Jugoslawiens. Man strebte an, daß der Wehrdienst nicht in der je­weiligen eigenen Region geleistet werde und dementsprechend existierten mehr­nationale Einheiten. Die Armee wurde also zum Träger folgender Ideen:

-     Sozialismus

-     Selbstverwaltung

-     Identität: nicht kapitalistisch, nicht blockkommuni­stisch.

Wichtig ist es auch, in diesem Zusam­menhang zu er­wähnen, daß die Armee immer eine eigene Parteiorgani­sation besaß und sie immer als wichtigste Re­publikorganistion bezeichnet wurde. Nun stellt sich hier die Frage, wie es zu so gravierenden Verände­rungen in der Armee kam und wie die Umwandlung von der jugoslawischen Volksarmee über die jugoslawi­sche Armee, serbi­sche Armee bis zu den Tschetniks mög­lich war. Die Gründe hierfür müssen in den Verän­derungen in allen Teilen Ju­goslawiens gesucht werden. Als eine wichtige Ursache kann sicher gewertet wer­den, daß die Offiziere und die Kader nicht multikul­turell, sondern zentrali­stisch und einsprachig erzogen wurden.

Im gegenwärtigen Krieg existiert jedoch nicht nur eine Armee, sondern es beste­hen zumindest fünf verschie­dene aktu­elle Streitkräfte: die jugoslawische Volksar­mee, republikanische Formatio­nen, kleine bewaffnete Gruppierungen, die gegeneinander kämpfen und ein­zelne bewaffnete Leute. Es gibt dem­nach eine große Gruppe verschiedener Akteure und dies verhindert die Trans­parenz und macht die Situation beson­ders ge­fährlich.

Friedensbemühungen

Hier wäre es besonders wichtig, die Frage ruhen zu lassen, wer denn mit den Gewalttaten begonnen hätte. Die Auf­schlüsselung der verschiedenen Pro­bleme, die sich vielfach überlappen, wäre hier schon weitreichend wie

-     die Konflikte zwischen den Nationen

-     ökonomische Probleme (Ressourcen­fragen, Schuld­fragen)

-     Konflikte innerhalb der Nationen mit ihren ethni­schen Nationalitäten

-     Konflikte, die durch die Auflösung von Autonomie entstanden sind (Kosovo, Vojvodina)

-     Dalmatienfrage und Istrienfrage

-     politische Konstellationen, die grenz­übergreifend existieren

Der Weg, diese verschiedenen Probleme sichtbar und transparent zu machen, wäre wegweisend und zielfüh­rend.

Trotz einzelner Lichtblicke und Initiati­ven in Richtung Frieden muß die Zu­kunft als sehr pessimistisch einge­schätzt werden. Denn die zivile Gesellschaft ist noch viel zu wenig entwickelt. Bis jetzt wurde zwar fall­weise die Souveränität durchgesetzt (Slowenien), der Aufbau von Demokratie erfolgte aber in weiten Teilen noch nicht. Viele glauben, daß nur im Nationalstaatsprinzip Grund­rechte durchsetzbar sind. Der Weg muß jedoch zu Rechten des Individuums füh­ren. Und so ist es kein Wunder, daß die Initiative "Slowenien ohne Ar­mee" heute kein realistisches Thema mehr in Slowenien ist. Ein gewaltloses Vorge­hen wurde nicht vorbereitet und konnte sich nicht bewähren. Jetzt suchen alle in "Europa" das Heilmittel. Doch ich frage: Was sind die Grenzen Europas? Wo hö­ren sie auf und wo fangen sie an? Wer gehört dazu und wer bleibt draußen?

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Vlasta Jalusic ist Soziologin und arbeitet am Institut für Friedenskultur in Ljubljana.