Das kreative Drehbuch hinter den Massenprotesten in der Türkei

Widerstand in der Türkei

von Ela Buruk

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters hat eine karnevaleske Bewegung gegen den autoritären Kurs der Türkei ausgelöst und gezeigt, wie Satire Angst in Hoffnung verwandeln kann. Dieser Artikel wurde ursprünglich am 23. April auf Waging Nonviolence veröffentlicht.

Ende März 2025 wurde die Türkei von den größten Protesten seit einem Jahrzehnt erschüttert, nachdem der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu – ein führender Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan – wegen Korruption und Terrorismus festgenommen worden war. Die Empörung über seine Inhaftierung und die anschließende Einstellung von städtischen Dienstleistungen (wie U-Bahn- und Buslinien) aufgrund eines Protestverbots schlug schnell in Straßenprotesten um. Doch neben Wut und Trotz kam ein unerwartetes Element zum Vorschein: Humor und kreative Spektakel.
Demonstrant*innen aller Altersgruppen, angeführt von einer Welle von Student*innen, versammelten sich vor Rathäusern und auf öffentlichen Plätzen in der ganzen Türkei und schwenkten nicht nur Fahnen und skandierten Parolen, sondern setzten auch Kostüme, Memes und symbolische Performances als Mittel des Widerstands ein. Diese spielerischen Aktionen – von Cartoon-Maskottchen, die sich durch die Menge schlängelten, bis hin zu satirischem Straßentheater – sind zu prägenden Bildern der Demonstrationen geworden und sorgten selbst während der Polizeieinsätze für Momente der Heiterkeit.

Die internationalen Medien haben davon Kenntnis genommen und zeichnen das Bild einer Protestbewegung, die sich angesichts der Unterdrückung manchmal wie ein Karneval der Dissidenz anfühlt.

Hinter den bunten Masken und Straßenaufführungen hat sich jedoch eine ernüchternde Realität herausgebildet. Die türkischen Behörden haben mit Massenverhaftungen und Gewalt reagiert. Seit Beginn der Unruhen wurden landesweit [bis Ende April] fast 1.900 Demonstrant*innen festgenommen, und die Bereitschaftspolizei setzte Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse ein, um die Versammlungen aufzulösen.

Präsident Erdoğan bezeichnete die Demonstrant*innen als „böse“ Agenten und „Straßenterroristen“ und warnte, dass Proteste nicht toleriert würden. Er beschuldigte die Opposition sogar, mit Humor eine „psychologische Kriegsführung“ zu betreiben – eine Behauptung, die von regierungsnahen Medien aufgegriffen wurde, die darüber debattierten, ob die Protestaktionen Teil einer Verschwörung seien.

Ein eklatantes Beispiel für das harte Vorgehen war die Festnahme und rasche Ausweisung des BBC-Korrespondenten Mark Lowen, der über die Proteste berichtet hatte und von den Behörden als „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ eingestuft worden war. Aus denselben Gründen wurde auch der Pianist Davide Martello ausgewiesen.

Trotz dieser Einschüchterungstaktiken ist die Protestbewegung nur noch kreativer und widerstandsfähiger geworden. Die Organisator*innen änderten ihre Taktik spontan. Als die symbolträchtigen Plätze Saraçhane und Maltepe von der Polizei abgesperrt wurden, versammelten sich die Menschenmengen in anderen Stadtteilen. Als der Gouverneur von Istanbul den öffentlichen Nahverkehr stilllegte, um die Mobilisierung zu verhindern, marschierten die Demonstrant*innen einfach zu Fuß weiter.

Soziale Medien spielten bei dieser Anpassungsstrategie eine entscheidende Rolle. Oppositionspolitiker und studentische Netzwerke nutzten Online-Aufrufe, um ihre Anhänger umzuleiten. („Wenn du jetzt nicht kommst, wann dann?“, sagte ein junger Mann in einem Video, das an einen Oppositionsführer gerichtet war). Mit den Spannungen, die jede Nacht zunahmen, wuchs auch die Kreativität der Demonstrierenden, die neue Wege fanden, um ihren Standpunkt zu vertreten – und sich gegenseitig unter dem Pfefferspray-Regen zum Lächeln zu bringen.

Pikachu und die Kraft der Verspieltheit
Das viralste Symbol dieser Unruhen kam in einem Blitz elektrischen Gelbs daher. In einer von Business Standard als „unerwartete dramatische Szene aus Pokémon Go“ bezeichneten Szene wurde ein Demonstrant in einem lebensgroßen Pikachu-Kostüm gesichtet, der mit der Menge marschierte und dann davonrannte, als die Bereitschaftspolizei in Antalya anrückte. Das Video, in dem die beliebte Pokémon-Figur Wasserwerfern ausweicht und Polizisten davonläuft, hat seitdem das Internet im Sturm erobert und innerhalb weniger Tage über 15 Millionen Aufrufe auf X erzielt. Der komische Anblick eines leuchtend gelben Pikachu, der durch mit Tränengas gefüllte Straßen zickzackte, sorgte inmitten des Chaos für einen Moment absurder Leichtigkeit – und wurde schnell zum Bild der Proteste in der Türkei, das ein weltweites Publikum nicht ignorieren konnte. (…)

Globale Resonanz und Symbole der Solidarität
Die Kreativität auf den Straßen der Türkei hat nicht nur ausländische Beobachter*innen begeistert, sondern auch bei Protesten in Übersee Nachhall gefunden. Das vielleicht bemerkenswerteste Beispiel dafür gab es nur zwei Wochen nach Beginn der Demonstrationen in der Türkei – Tausende von Kilometern entfernt in Washington D.C.. Während einer massiven „Hands Off!“-Kundgebung gegen die Politik von US-Präsident Donald Trump (Teil der landesweiten Proteste am 5. April) tauchte ein amerikanischer Demonstrant auf, der (?als niemand Geringeres?) als Pikachu verkleidet war.Das leuchtend gelbe Kostüm, das sich vor dem Weißen Haus durch die Menge schlängelte, sorgte für Jubel und wissendes Lächeln. Videos aus Washington zeigten den US-Pikachu, wie er ein Schild hochhielt und anderen Demonstrant*innen ein High-Fives gab, während „Hände weg von unserer Demokratie!“-Rufe zu hören waren.

Es war nicht das erste Mal, dass ein skurriles Protestsymbol seine Herkunft überschritt. Beobachter*innen haben den „revolutionären Pikachu“ mit Chiles berühmter „Tía Pikachu“ verglichen, einer Frau, die während der Proteste in Chile 2019 in einem Pokémon-Kostüm tanzte und später Politikerin wurde. Und es gibt Berichte über Pikachu-Sichtungen bei Protesten bis nach Georgien und Iran, was unterstreicht, wie sich die globale Protestkultur im digitalen Zeitalter gegenseitig befruchtet.
Die direkte Hommage in den amerikanischen Protesten – mit explizitem Verweis auf die Türkei – signalisiert jedoch eine neue Ebene der internationalen Solidarität durch Satire. Sie deutet darauf hin, dass Demonstrierende auf der ganzen Welt sich von der kreativen Vorgehensweise der Türkei inspirieren lassen und deren Symbole übernehmen, um gemeinsame Themen wie den Widerstand gegen Autoritarismus zum Ausdruck zu bringen.

Umgekehrt wurden die türkischen Demonstrant*innen durch diese Resonanz im Ausland bestärkt. In den sozialen Medien in der Türkei gab es begeisterte Reaktionen auf die Washingtoner Aufnahmen von Pikachu, und es kursierten Clips, in denen der türkische und der amerikanische Pikachu nebeneinander zu sehen waren. Solche Momente haben den Türken das Gefühl gegeben, in ihrem Kampf weniger allein zu sein, und ihren lokalen Kampf als Teil einer globalen Erzählung von Demokratie gegen Diktatur neu zu definieren.

Satire als Trotz
(…) Viele Analyst*innen sehen [in der Satire] eine bewusste (und kluge) Strategie, um die moralische Überlegenheit zu erlangen. Indem sie ihren Widerstand mit Satire und Kultur verbrämen, betonen die Demonstrant*innen die Absurdität der Unterdrückung – und machen es den Behörden damit schwerer, Gewalt zu rechtfertigen.

Gleichzeitig birgt Satire auch Risiken. Die Behörden sind sich der Gefahr durch Spott bewusst – daher auch die wütenden Vorwürfe der psychologischen Kriegsführung. Es besteht die Befürchtung, dass Humor die Ernsthaftigkeit der Sache „verharmlosen“ oder zu einem reinen Internet-Spektakel ausarten könnte. Bislang haben die Demonstrant*innen jedoch eine Balance zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit gefunden.

Sie verspotten auf subtile Weise die Versuche der Regierung, die Demonstrant*innen als ignorant oder realitätsfern darzustellen. Und wenn Tausende „Alles wird gut“ skandieren und dabei Friedenszeichen machen, liegt sowohl Optimismus als auch Ironie in der Luft.

Entscheidend ist, dass die zugrunde liegenden Missstände weiterhin im Mittelpunkt stehen. Die Demonstranten halten nach wie vor Transparente hoch, auf denen sie die Freilassung politischer Gefangener, ein Ende der Medienzensur und wirtschaftliche Hilfe für die Bürger fordern. Der Humor verstärkt diese Botschaften, er ersetzt sie nicht. „Die virale Verbreitung des Bildes spiegelt nicht nur Belustigung wider, sondern auch eine tiefere Unruhe über die Gewalt, die gegen junge Bürger angewendet wird“, heißt es in einer Analyse, in der betont wird, dass hinter dem Lachen eine „kollektive Abrechnung“ mit einer autoritären Wende steckt.

Tatsächlich haben viele, die an der Erstellung der Memes und der fröhlichen Szenen beteiligt waren, einen hohen Preis bezahlt: Dutzende von Student*innen und Künstler*innen, die sich an Protestkunst beteiligt hatten, wurden geschlagen und verhaftet, was allen vor Augen führte, dass dies kein Spiel ist. Diese Realität – der Anblick eines freundlichen Pikachu oder eines gelassenen Derwischs, der von der Polizei weggezerrt wird – hat weltweit Resonanz gefunden.
(…)

Und dank der viralen Kraft dieser kreativen Taktiken sieht die Welt den Kampf der Türkei nun in einem neuen Licht. In einer Zeit düsterer Schlagzeilen haben die Demonstrant*innen in der Türkei eine Meisterleistung in Sachen subversiver Kraft des Humors abgeliefert. Indem sie ihren Protest in eine Performance verwandelt haben, haben sie das Drehbuch umgeschrieben und Angst in Hoffnung, Unterdrückung in Spott und lokale Empörung in eine globale Erzählung des Widerstands verwandelt.

 

 

Rubrik

Friedensbewegung international
Ela Buruk ist ein Pseudonym zum Schutz der Identität der Autorin und Redakteurin, die sich auf Technologie, digitale Trends und ethische Fragen spezialisiert hat.