Zivil eingreifen statt sozial verteidigen?

Zukunft der Sozialen Verteidigung

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
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Parallel zu der Verlagerung der Aufgaben der Bundeswehr zu Interven­tionen bei auswärtigen Krisen hat auch die Diskussion um zivile Alter­nativen sich auf gewaltfreies Eingreifen verlagert. Es sind direkte Ver­bindungspunkte zwischen dem Konzept des Zivilen Friedensdienstes und dem Konzept der Sozialen Verteidigung auszumachen.

Am deutlichsten ist dies bei Prof. Theo­dor Ebert (1), dem "Vater der Sozialen Verteidigung" in Deutschland, zu beob­achten. Er initiierte in der Evangeli­schen Kirche Berlin-Brandenburg, der er als Synodaler angehört, den Vor­schlag, einen Zivilen Friedensdienst einzurichten, und begründet diesen letztlich mit dem Ziel, junge Menschen im großen Maßstab für Soziale Vertei­digung auszubilden. Ähnlich wie früher die Soziale Verteidigung bezeichnet er den Zivilen Friedensdienst als Äquiva­lent zum Militär, wobei dieses Äquiva­lent gleichzeitig die Polizei entlasten soll. Dabei bedeutet gewaltfreies Ein­greifen für ihn nicht, daß der ZFD in er­ster Linie im Ausland tätig werden solle: seine erste und vornehmste Auf­gabe habe er im Inland, etwa bei dem Eingreifen in ausländerfeindliche Kra­walle oder bei dem Schutz von Flücht­lingsheimen.

Beim Bund für Soziale Verteidigung fluktuiert das Interesse an dem ihm na­mensgebenden Konzept derzeit zwi­schen schwach und gar nicht. Eine Dis­kussion über die Zukunft des Konzeptes hat auf der vergangenen Mitgliederver­sammlung begonnen (2). Dabei hat sich herausgestellt, daß die Möglichkeit, daß Deutschland durch einen Krieg bedroht sein könnte, von den meisten Aktiven als sehr unwahrscheinlich angesehen wird. Andere Bedrohungen - etwa durch Umweltzerstörung oder rechtsextreme Gewalt - stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Hiervon unterschei­den allerdings praktisch alle die welt­weite Situation mit eskalierenden natio­nalistischen und religiösen Konflikten. Bei einer kleinen Mitgliederbefragung nannte die Minderheit, die Soziale Ver­teidigung im klassischen Sinne als Ver­teidigung gegen eine militärische Ag­gression von außen oder innen für wei­terhin relevant hält, drei Bedrohungs­szenarien: eine mögliche Gefähr­dung Deutschlands durch nationalistische Konflikte, die anderenorts entstanden, eine Machter­greifung durch Rechtsex­treme/Faschisten auch in Deutschland und als drittes eine militärische Bedro­hung durch (wieder einmal) Russland im Kontext einer möglichen Machtergrei­fung Schiri­nowskis.

International gesehen, gibt es allerdings noch andere Faktoren als die genannten Bedrohungsängste, die dem Eindruck widersprechen, daß 'Soziale Verteidi­gung tot sei':

* Es hat nie so viele erfolgreiche gewalt­lose Aufstände (3) wie in den letzten zehn Jahren gegeben ("people power-Bewegungen" werden sie tref­fend aber unübersetzbar im Engli­schen genannt)

* wurde die Existenzberechtigung des Militärs nach Auflösung der Blöcke zum ersten Mal seit den fünfziger Jahren grundsätzlich von vielen Men­schen in Frage gestellt (4).

* haben sich in Spanien, Frankreich und den Niederlanden neue Gruppen gebildet, die über Soziale Verteidi­gung arbeiten (5); in Thailand, Ka­nada, Litauen, Schweden, Norwegen und vermutlich noch anderen Staaten (6) wurden Konzepte gewaltfreier Ver­teidigung in Kreisen von Regie­rung und Parlament bekanntgemacht und diskutiert.

* gibt es durchaus eine ganze Reihe alter und neuer Bedrohungs­szenarien (s.oben), für die Soziale Verteidigung in ihren verschiedenen Facetten von Bedeutung sein kann.

Ich bin der Ansicht, daß es verfrüht ist, die Soziale Verteidigung als tot anzuse­hen. Nicht nur aus den genannten Grün­den, sondern weil uns m.E. die Ge­schichte lehren sollte, daß alte einge­fleischte Denkwei­sen nicht von heute auf morgen über­wunden werden kön­nen. Damit meine ich, daß auch die Überzeugung, daß Deutschlands Sicher­heit von irgendwel­chem Nachbarn be­droht sei, aller Vor­aussicht nach wie­derkommen wird. Die sich häufenden Hinweise auf Russland in diesem Zu­sammenhang lassen das Schlimmste fürchten.

Deutschland war zumindest in diesem Jahrhundert nie selbst bedroht. Es war immer der Bedroher, die Nation, von der für ihre Nachbarn Gefahr ausging und die Europa zweimal in einen Welt­krieg gestürzt hat. Doch leider ändert das nichts an dem Bedrohungs-Denken der DurchschnittsbürgerInnen. Von der zumindest theoretisch ebenfalls beste­henden Möglichkeit, daß tatsächlich eine kriegerische Bedrohung entstehen könnte, einmal ganz abgesehen.

Wenn wir das Militär wirklich abschaf­fen wollen, wird sich daher die Frage nach den Alternativen über früh oder lang wieder stellen. Und neben den In­strumentarien der Konfliktprävention könnte es dann auch wieder wichtig sein, ein Konzept zu haben, was in dem hoffentlich nie eintretenden Fall getan werden kann, daß die Prävention versagt hat.

Wer sich die (größtenteils wissenschaft­liche) Literatur über So­ziale Verteidi­gung ansieht, der/dem wird nur zu schmerzlich bewusst, daß dieses Konzept zur Zeiten des Kalten Krieges und mit der Möglichkeit einer Invasion des War­schauer Vertrags im Kopf erar­beitet wurde.

* Bürgerkriege, bei denen die Bevölke­rung nicht mehr­heitlich hinter der gewaltfreien Verteidigung steht, son­dern in zwei Hälften polarisiert wurde;

* Kriege mit dem Ziel der Vertreibung oder Vernichtung einheimischer Be­völkerung, bei denen auf Kooperation der Eroberten kein Wert ge­legt wird;

* die Auf­rechterhaltung des Militäri­schen mit dem Ziel, die eigenen wirt­schaftlichen Interessen weltweit zu verteidigen, sind Szenarien, die kaum (7) oder gar nicht in der Literatur über Soziale Verteidigung auftau­chen. Hier stellen sich eine Reihe von Fra­gen und Aufgaben nicht nur für die Friedensfor­schung, sondern auch für die gewaltfreien Bewegungen.

Die grundsätzlichste Frage ist allerdings wohl die, ob Militär und Rüstung über­haupt durch die Schaffung von funktio­nalen Äquivalenten überwunden werden können, seien dies Äquivalente, die die Eingreifs- oder die die Verteidigungs-Funktion von Militär betreffen. Ich glaube, daß die Benennung und Prakti­zierung von Alternativen ein wichtiges Element in einer Gesamtstrategie sein kann, aber wohl kaum ihr einziges. Denn ein Teil wenn nicht die wesentli­chen Funktionen von Militär und Rü­stung sollen doch gar nicht ersetzt wer­den: weder die Aufrechterhaltung der "neuen Weltordnung" noch das rü­stungsindustrie-gestützte Wirtschafts­wachstum sind Ziele, die auf der Agenda von Friedens- und pazifistischer Bewegung stehen. Deshalb ist die Frage nicht, ob wir uns mehr mit Sozialer Verteidigung oder Gewaltfreiem Ein­greifen befassen sollten, sondern die, ob es uns gelingt, zu einer Gesamtstrategie zu kommen, in der der Aufbau gewalt­freier Alternativen den ihm zukommen­den Stellenwert bekommt.

1) Siehe die demnächst erscheinende Dokumenta­tion des Fachgesprächs "Professionelle Friedens­corps" von der Akademie Berlin-Brandenburg.

2) Siehe den Beitrag von C.Schweitzer im Frie­densforum 3/94 und die letzten beiden Ausgaben des "Rundbriefs" des Bundes für Soziale Verteidi­gung.

3) u.a. die verschiedenen osteuropäi­schen Auf­stände vor 1989, Philippinen 1981, Madagaskar 1991 und der Wider­stand gegen den Putsch in der So­wjetunion 1991. Zu den gegenwärtig andauern­den im wesentlichen gewalt­freien Kämpfen zählen der Widerstand der AlbanerInnen im Kosovo, der schwarzen SüdafrikanerInnen, zum Teil der Palä­stinenserInnen in der Intifada, der politischen Op­position in Burma und in China und andere mehr.

4) Umfragen in Deutschland 1989/90 deuteten an, daß eine Mehrheit der Bun­desbürgerInnen sich ein Leben ohne Bundeswehr vorstellen konnte. In vielen anderen eu­ropäischen Ländern entstan­den zu dieser Zeit Ar­meeabschaffungsbewegungen.

5) "Colectiva Utopía Contagiosa" in Madrid, "Collectif dissusiasion civile" in Frankreich, die For­schungsgruppe, deren Ergebnisse Giliam de Valk in sei­nem Büchlein "Research on Civilian-Based Defense" zusammenfaßt.

6) Vergleiche die Berichte in der ameri­kanischen Zeitschrift "Civilian-Based Defense", die regelmä­ßig über diese In­itiativen berichtet.

7) Siehe auch Christine Schweitzer, So­ziale Ver­teidigung - auch eine Strategie für reale Krisen?, in: Probleme des Frie­dens 3/93, Hrsg. Pax Christi, Id­stein:Komzi-Verlag 1993, S. 15-73

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.