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Erstellt:
01.10.1999


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FriedensForum 5/1999


BürgerInnengewerkschaften - Ein Vorschlag aus den USA

Wolfgang C. Goede

Das Grundgesetz ist 50 Jahre alt geworden, doch von einer bürgernahen Demokratie ist Deutschland weit entfernt. "Wir sind zu Zuschauern degradiert," kritisiert Hildegard Hamm-Brücher, die Vorsitzende der Theodor-Heuss-Stiftung, "und müssen uns mehr einmischen". Obwohl laut Artikel 20 alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe, beschränke sich die politische Beteiligung auf die Wahlen. Nachdem die Parteien nur 3,4 Prozent der 60 Millionen Wahlberechtigten vertreten, "haben sie in oligarchischer Weise Besitz von der Demokratie ergriffen". Die Bundesrepublik sei - wie andere westliche Nachbarn - eine von Parteien dominierte Staatsgesellschaft, die sich in eine offenere und mehr in Eigenregie gestaltende Bürger- oder Zivilgesellschaft weiterentwickeln muss.

Als ein Muster für stärkeres Bürgerengagement wird inzwischen das Konzept der "BürgerInnengewerkschaften" diskutiert, das aus den USA stammt. Die erste wurde 1939 von dem russischen Einwanderersohn Saul Alinsky in dem berüchtigten Chicagoer Schlachthof-Viertel "erfunden". Dort lebten die Menschen in katastrophalen Verhältnissen. Alinskys Grundsätze - siehe Informations-Kasten - waren einfach: Die Menschen müssen direkt von einem Problem betroffen sein, ihre eigenen Sprecher rekrutieren und dann in einer Massenbewegung sich gegen Verantwortliche wenden, die sie so unter Druck setzen, dass sie ihre Forderungen durchsetzen können. Dabei bedienen sie sich Mitteln, die dem Arbeitskampf entlehnt sind - weshalb sie Bürgergewerkschaften heißen.

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5/1999-Inhalt
David ...

Alinsky war ein genialer Stratege und machte mit witzigen David-gegen-Goliath-Aktionen Schlagzeilen. Als er in den 60er Jahren die Schwarzen im Süden der Stadt organisierte, um mehr Geld für die Sanierung ihrer Slums zu fordern, zeigten die Rathauspolitiker ihnen zunächst die kalte Schulter. Das änderte sich aber schnell, als die Zeitungen ein Interview mit den Führern der Schwarzen druckten. Darin drohten sie, auf dem internationalen Flughafen O`Hare einen Klo-Streik durchzuführen und sämtliche Toiletten zu besetzen. Dagegen gab es keine juristische Handhabe, die Stadt hätte sich aber vor den Augen der feixenden Welt blamiert, so dass Bürgermeister Richard Daley zähneknirschend den Geldhahn öffnete. Als Alinsky 1972 starb, wurde er gefeiert als Mensch, der die Politik für die kleinen Leute neu erfunden hatte. Heute ist Alinsky lebendiger den je. In fast jeder US-Stadt gibt es BürgerInnengewerkschaften, die sich zu mächtigen Netzwerken organisieren und mittlerweile sogar in Washington ihre Hebel ansetzen. Es gelang ihnen, ein neues Bundesgesetz durchzusetzen, das die Banken an die Leine legt. Diese waren nämlich überführt worden, dass sie willkürlich Slums erzeugen, indem sie kein Geld mehr in Wohngebiete von Minderheiten fließen lassen. Jetzt müssen die Geldinstitute 1,6 Milliarden Dollar in die heruntergekommenen Stadtgebiete Amerikas investieren. "Eine Revolution für die Menschheit, Banken ihre Geschäftspolitik vorzuschreiben", kommentierte die "New York Times".

... gegen Goliath

Verantwortlich für diesen Coup war Shel Trapp, Direktor des National Training and Information Center (NTIC) in Chicago. Er war früher Methodistenpfarrer und organisiert seit 30 Jahren die "Verlierer des amerikanischen Traums", wie er knapp sagt, "nur das tuend, was mir das Evangelium vorschreibt". Er sei nicht Problemlöser, sondern bringe die Menschen nur zu eigenverantwortlichem Handeln, so dass sie selber ihre Probleme lösen könnten. Er legt eine Videokassette ein und führt "Lehrmaterial" vor. Es erscheint eine bunte Menge - Weiße, Schwarze, Indianer -, die aus Bussen hervorquillt und sich vor einer Luxusvilla versammelt. Das sind Mitglieder der US-weiten Koalition National People`s Action (NPA), von Trapp vor 25 Jahren gegründet. Jeden April treffen sie sich in Washington und suchen Führer aus Politik und Wirtschaft heim. Im letzten Jahr hatten die über 300 Organisationen der NPA versucht, einen Termin mit dem Präsidenten einer der größten US-Hotelketten, Mariott, zu bekommen. Nachdem dieser nicht geantwortet hatte, "besuchten" ihn 500 Menschen zuerst in seiner Villa, dann in seinem Golf-Club und schließlich in seinem Büro. Vorm Washingtoner Marriott-Hauptquartier harrte die Menge so lange aus, bis die Konzernleitung eine 12köpfige Delegation empfing. "Unsere Vereinbarung lässt sich sehen", triumphiert Trapp. "Sechstausend Jobs, Nahrungsmittel-Einkauf bei kleinen Farmern, Verwendung von Indianer-Schmuck als Gästezimmer-Dekoration."

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Gegen die "Analphabeten-Demokratie"

Zehn U-Bahn-Minuten entfernt von NTIC befindet sich die "Industrial Area Foundation" (IAF). Sein Direktor, Ed Chambers, koordiniert ein Netz von über 50 Organisationen im ganzen Land. Um seine Arbeit zu beschreiben, greift Chambers gerne auf die Polis zurück, den griechischen Stadtstaat, in dem die Bürgerschaft auf dem Marktplatz für ihre Interessen stritt. "Diesen elementaren Zugang zur Demokratie lernt der heutige Mensch nirgendwo", bemängelt er. "Das holen wir nach und zeigen ihm, wie man in der öffentlichen Arena sein Anliegen einbringt und sich Gehör verschafft." Politik, erklärt er, "ist doch viel mehr als der Gang zur Wahlurne." Wer die politische Mitsprache auf den Stimmzettel beschränken wolle, fördere die Entstehung einer "Analphabeten-Demokratie", die die westliche Gesellschaft anfällig für totalitäre Strömungen machen könne.

Guerilla-Angriff der Mittelklasse

Sein Glanzstück war ein Aktien-Coup. Bei Verhandlungen mit einem großen Konzern um die Einstellung von mehr Afro-Amerikanern kam er nicht weiter, bis er folgende Idee hatte: Er streute das Gerücht aus, dass sämtliche Kirchen mit Aktienbesitz an diesem Unternehmen gebeten werden sollten, ihr Stimmrecht für ihre Papiere auf die Afro-Amerikaner zu übertragen. Daraufhin gab der Konzern sofort nach. "Diese Nummer ist wiederholbar", meint Chambers, "auch im ganz goßen Stil". Wenn nur eine Million Amerikaner dem Präsidenten drohten, ihre Konten, Versicherungen und Wertpapiere zu kündigen, könnten sie ungeheuren Einfluss nehmen - sogar Kriege verhindern. Chambers nennt das den "Guerilla-Angriff der Mittelklasse".

Diese Strategie zur Stärkung der Benachteiligten ("Empowerment") wird in den USA zum großen Teil von der katholischen Kirche getragen. Viele seiner Organisatoren sind der Kirche eng verbunden. Pater Joe Hacala von der Chicagoer Loyola-Universität, der für die Bürgerbewegung 250 Millionen Dollar locker machte, begründet sein Engagement mit dem berühmten Jesu-Wort: "Wenn du den Hungernden helfen willst, geh nicht für sie fischen - sondern lehr sie, für sich selber zu fischen!"

In vier deutschen Städten ist diese neue Bürgerbewegung von unten - auch "Graswurzel-Demokratie" genannt - bereits bei der Arbeit: München, Saarbrücken, Osnabrück und Berlin. An der Isar begehren Bürger dagegen auf, dass die Abgase eines im Bau befindlichen Straßentunnels nicht gesäubert werden sollen. In Osnabrück laufen die Vorbereitungen für die Gründungsversammlung einer stadtweiten Koalition aus 30 gewichtigen Institutionen, die auf die Rathausgeschäfte entscheidend Einfluss nehmen will. In Deutschlands Hauptstadt beackert der Kaplan und langjährige IAF-Organisator Dr. Leo Penta zusammen mit einigen Berlinern die "Graswurzeln". Bei der Aufbauarbeit legt er größten Wert auf eine solide finanzielle Grundlage sowie absolute Unabhängigkeit von staatlichen Stellen. Vor 20 Jahren begann er in New York, die Bewohner von Ghettogebieten in Nachbarschafts-Initiativen zu organisieren. Ihre Schwerpunkte: Instandsetzung der Wohnungen, Verbesserung der medizinischen Versorgung, Qualitätskontrolle des Lebensmittelangebots - nachdem die Geschäftsinhaber geglaubt hatten, die Käufer mit schlechter Ware abspeisen zu können. "Schon damals schlugen in New York die Folgen der Globalisierung durch", erinnert sich Penta, "nämlich Verarmung, Ausländerdiskriminierung und Gewalt." Heute würden immer mehr deutsche Städte in diesen Strudel gezogen, wie es sich in den neuen Bundesländern und besonders in Berlin abzeichne. "Dagegen hilft nur ein Mittel, die Betroffenen in den Nachbarschaften zu organisieren", rät der IAF-Mann.

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Deutsches Netzwerk "FOCO"

Organisatoren haben sich in ganz Deutschland zu einer bundesweiten Dachorganisation zusammengeschlossen, dem "Forum für Community Organizing", kurz FOCO. Mitglied Horst Schiermeyer erhofft sich Impulse für das gesamte öffentliche Leben, nachdem die Grünen jetzt in der Regierungsverantwortung stehen. "Schon vorher hat sich ihr außerparlamentarisches Standbein stark abgeschliffen", kritisiert er. Die Basisgliederungen "schmoren im eigenen Saft". Wie man Bürger anders als über Flugblätter und Info-Tische motivieren könne, sei weitgehend unbekannt. Grundsätzlich eigne sich dieser Ansatz, "um die Arbeit der bestehenden Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, Kirchen, Umwelt- und Frauenverbände zu intensivieren und die Basis wiederzubeleben". Nur diese Graswurzel-Arbeit kann Gegenmacht organisieren, "die Druck auf die rotgrüne Regierung macht", verlangt Schiermeyer. Wie wahr: Nach 30 Jahren haben die 68er den Durchmarsch geschafft und stellen die Regierung - doch der Freudentaumel im Herbst letzten Jahres nach 16 Jahren Kohl ist in Verbitterung und Lethargie umgeschlagen. Ex-Jusochef Gerhard Schröder, gewandet in feinsten italienischen Designer-Anzügen, hat das überfällige gesellschaftliche Reformprogramm noch keinen Deut voran gebracht; der ehemalige Straßenkämpfer Joschka Fischer wurde vom Saulus zum Paulus und brachte Deutschland auf NATO-Kurs im Kosovo-Krieg.

Wahlen in Zukunft zu boykottieren, wie viele Enttäuschte drohen, ist keine Lösung. Lasst uns organisieren - dann haben wir in 30 Jahren vielleicht eine richtige Chance!

Info-Kasten

Check-Liste für erfolgreiches Organisieren von Nachbarschafts-Initiativen

Diese Regeln stammen von Tom Gaudette, ein Alinsky-Schüler, der letztes Jahr 75-jährig in Chicago starb.

* Was ist das Problem in der Nachbarschaft? * Wieviele Leute sprechen darüber? * Was ist ihr Eigeninteresse (denn nur durch Ansprache desselben lassen sich Menschen motivieren)? * Ist das Problem unmittelbar, springt es die Menschen an - ist es gewinnbar? * Gibt es bereits eine Führungsperson, die die Nachbarn zu sich nach Hause einladen würde, um eine öffentliche Stadtteilversammlung zu planen? * Wie viele Leute lassen sich insgesamt mobilisieren? * Wer ist der Gegner, was seine verwundbaren Stellen? * Welche Forderungen müssen ihm präsentiert werden, welche davon sind verhandelbar, welche hart? * Was für eine Aktion ist geplant, wenn er nicht kommt oder einen nicht kompetenten Stellvertreter schickt? * Steht ein Bus bereit, über die Versammlungsbesucher zu seinem Haus, Club, Stammkneipe oder Kirche zu fahren? * Ist die Presse informiert?

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5/1999-Inhalt
Damit das gelingt, ist Kommunikation nötig, in der Regel Gespräche mit Hunderten von Menschen. Dazu muss man viel Zeit auf den Straßen des zu organisierenden Stadtteils verbringen, wie ein Vertreter "Klinken putzen", aber nicht nur von Tür zu Tür gehen, sondern Geschäfte, Kirchen, private und städtische Institutionen aufsuchen, sich ihren Leitern vorstellen, um sie für die aufzubauende Organisation zu rekrutieren.

Wer weiter in das Thema einsteigen will, greift am besten zu dem in diesem Herbst neu aufgelegten Buch:

Saul D. Alinsky, ANLEITUNG ZUM MÄCHTIGSEIN, Ausgewählte Schriften

Zusammengestellt aus dem Englischen von Karl-Klaus Rabe. Herausgegeben vom Forum für Community Organizing (FOCO) Lamuv TB 268, ca. 180 Seiten 19,80 DM ISBN 3-88977-559-4. Bei FOCO zum Preis von 17,80 DM




Wolfgang C. Goede ist Politikwissenschaftler und Redakteur.





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