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vom:
09.04.2004


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Karfreitag, den 9. April 2004, Dortmund

Ansprache anlässlich der Gedenkstunde für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft am Mahnmal in der Dortmunder Bittermark

Peer Steinbrück (Dortmund)

Seit fünfzig Jahren versammeln sich Menschen in Dortmund zu einer Gedenkstunde für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Seit fünfzig Jahren eint diese Menschen das Gedenken an die 280 Frauen und Männer aus sieben Nationen, die hier in Dortmund vor nunmehr neunundfünfzig Jahren, kurz vor der Befreiung durch die Alliierten, der Gewalt, der Willkür und dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind.

Seither ringen wir um Worte, um dem Sinnlosen, dem Barbarischen, dem Nichtsagbaren etwas entgegenzusetzen. Damals haben wenige Worte ausgereicht, um das zu veranlassen und zu exekutieren, was hier geschehen ist.

Worte, Erlasse, Befehle, die die Perversion eines Systems verdeutlichen, die Recht und Menschlichkeit außer Kraft gesetzt haben. Noch heute ist die Sprache gebrochen, wenn es um die Erinnerung an das geht, was geschehen ist. Dem Sinnlosen, das hier geschehen ist, können wir eigentlich nur das anteilnehmende Schweigen entgegensetzen.

Wichtiger als das Reden ist hier das Hören, das Erahnen der Stimmen derer, die gelitten haben unter diesem Regime, die hier bestialisch ermordet wurden. Da Erinnern an das, was geschehen ist, verschlägt einem noch heute die Sprache, lässt einen verstummen. Unsere Sprache und unsere Stimme ist und bleibt allerdings dann gefordert, wenn das auf dem Spiel zu stehen droht, was in dieser dunklen Zeit unserer Geschichte verloren gegangen ist: Menschenrechte und Menschlichkeit, Toleranz und Anerkennung des Anderen.

Das ist unsere Lektion aus der Geschichte, die wir zu lernen hatten und die wir hoffentlich gelernt haben: an der richtigen Stelle zu schweigen und im rechten Moment zu reden. Wir gedenken heute derer, die in der damaligen Zeit ihre Stimme aus der schweigenden Mehrheit erhoben haben, die Widerstand geleistet und damit ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Wir gedenken derer, für die damals zu wenige die Stimme erhoben haben. Wir gedenken derer, die das Terrorregime überlebt haben, aber heute nicht mehr an dieser Gedenkstunde teilnehmen können.

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Ihr aller Andenken bleibt uns Verpflichtung.

In Dortmund hat man diese Verpflichtung bereits 1954 gesehen. Seit 1954, also heute zum fünfzigsten Mal, richtet die Stadt Dortmund in enger Zusammenarbeit mit den internationalen Verfolgtenverbänden diese Gedenkveranstaltung an jedem Karfreitag an den Gräbern der Ermordeten aus.

Ich grüße die Delegation der Verbände der Zwangs- und Arbeitsdeportierten aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden, aus Polen, Tschechien, aus Russland und Belarus. Ich grüße die Vertreter der Botschaften und Konsulate der Herkunftsländer der Opfer. Ich grüße die Vertreter der deutschen Verfolgten-Verbände. Ich grüße die Dortmunderinnen und Dortmunder, die wie an jedem Karfreitag seit 1954 auch heute so zahlreich in die Bittermark gekommen sind.

Mein besonderer Gruß gilt den Frauen und Männern, die als Widerstandskämpfer, als Verfolgte oder als Zwangsarbeiter das nationalsozialistische Terrorregime überlebt haben und die heute an dieser Gedenkstunde teilnehmen. Durch Sie alle wird diese Gedenkstunde auch zu einem Ort der Begegnung in der Erinnerung. Seit fünfzig Jahren geben Sie dieser Veranstaltung ein unverwechselbares Gesicht.

Wir alle sind von dem Gedanken getragen: Was hier in der Bittermark und im Romberg-Park geschehen ist, soll uns Mahnung sein, alles zu tun, damit sich Solches oder Ähnliches nicht wiederholen kann.

Die beeindruckende Kontinuität dieser Veranstaltung ist ein Hinweis darauf, dass das Gedenken selbst eine Geschichte hat. Diese Geschichte ist mittlerweile fester Teil der Nachkriegsgeschichte dieses Landes und dieser Stadt geworden. Bei uns wird das Jahr 1954 oft mit dem Fußball verbunden. Ansonsten werden die fünfziger Jahre eher mit dem Wirtschaftswunder und dem Wiederaufbau gleichgesetzt.

Es herrscht das allgemeine Bild vor, dass man sich mit der eigenen Vergangenheit eher weniger auseinandersetzen wollte. Doch hier in Dortmund sieht man auch, dass man nicht voreilig über eine Zeit urteilen soll. Hier in Dortmund sieht man, dass es auch eine andere Geschichte gibt, andere Möglichkeiten in der Geschichte gab. Es gab auch in dieser Zeit Menschen, die sich der Geschichte gestellt haben.

Hier in Dortmund kann man dies erkennen. Hier hat man die Verfolgtenverbände nicht als Nestbeschmutzer angesehen, sondern von Anfang an mit Ihnen zusammengearbeitet. Hier hat man erkannt, dass man sich der Geschichte stellen muss, dass Schweigen die Gefahr neuer Schuld in sich birgt.

Den damaligen Initiatoren zollen wir noch heute allen Respekt. Unser Reden heute erfolgt aus der Distanz von fast drei Generationen. Scham und Abscheu vor dem, was geschehen ist, bleiben.

Naturgemäß verringert sich aber mit den Jahren die Unmittelbarkeit zu dem Geschehenen. Was bleibt ist die Verantwortung, die sich aus der Geschichte der Opfer ergibt. Verantwortung, für Werte einzustehen, auch wenn es unbequem wird. Verantwortung, die Erinnerung wach zu halten. Dies ist die Botschaft, die in den fünfzig Jahren immer wieder von dieser Veranstaltung ausgegangen ist. Eine bleibende Botschaft, die nicht veralten kann.

Dies ist ein Bestandteil unserer Erinnerungskultur. Sie findet nicht nur an diesem Ort statt, sie hat viele Orte. Sie ist gewachsen. Auch an Problemen und Auseinandersetzungen, wie man zum Beispiel am Historikerstreit ablesen kann. Diese Erinnerungskultur bringen wir auch in das erweiterte Europa ein. Denn in den letzten Jahrzehnten ist viel geschehen.

Der Verdrängung ist die Aufarbeitung gefolgt. Es hat sich eine Kultur der Erinnerung entwickelt, getragen von den Menschen vor Ort, die sich in lokal- und regionalspezifischen Initiativen zusammengeschlossen haben, um angemessene Formen der Erinnerung an die Opfer zu suchen.

Auch sie setzen sich gegen die Stimmen zur Wehr, die immer wieder die gleiche Forderung stellen: doch endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Diese nicht verstummende Forderung ist eine bleibende Herausforderung.

Es geht nicht nur darum, die Erinnerung "An sich" wach zu halten, sondern auch immer wieder darum, das "Warum" der Erinnerung zu verdeutlichen. Dass Traditionen zu Ritualen erstarren können, ist nicht von der Hand zu weisen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Traditionen müssen gelebt werden, ihr Sinn muss aufscheinen und deutlich sein. Traditionen müssen vermittelt werden an nachfolgende Generationen, damit sie wach gehalten werden. Das geschieht hier in Dortmund.

Wer sieht, wie die heutige Generation der Schülerinnen und Schüler an diesem Ort ihre Stimme in dieses Gedenken einbringt, der braucht sich um die Zukunft des Gedenkens - wenigstens an diesem Ort - nicht zu sorgen.

Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, bringt heute eine besondere Stimme ein. Ein berühmter Philosoph, Theodor W. Adorno, hat einmal gesagt, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben. Er hat damit wohl hinweisen wollen auf die Gebrochenheit der Sprache, von der ich zu Beginn gesprochen habe.

Später hat er seine Meinung selbst revidiert. Ich vermute nicht zuletzt, weil die Sprache der Poetik, der Lyrik, die dichteste Form des Sprechens ist. Eure Gedichte, die Ihr vortragen werdet, sind für alle hier Anwesenden von besonderer Bedeutung und von besonderem Gewicht. Bei einem Gedicht kommt es auf jedes Wort an, auf den Platz, an dem es steht.

Es ist ein bewusstes Sprechen. Dieses bewusste Sprechen wünsche ich mir auch in der Öffentlichkeit und teilweise auch im politischen Raum.

An euch kann man sich ein Beispiel nehmen.


Peer Steinbrück ist Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

E-Mail:   friekoop@bonn.comlink.org
Internet: http://www.friedenskooperative.de
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