Redebeitrag für die Antikriegstagveranstaltung am 1. September 2020 in Kassel

 

- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ich begrüße Sie herzlich zum Antikriegstag 2020. Das Ende des 2. Weltkriegs und die Befreiung Europas und der Welt vom Faschismus jähren sich zum 75. Mal. Mit seinem Überfall auf Polen riss Nazi-Deutschland 1939 die Welt in den Abgrund eines bestialischen Krieges.

Die Zahl der Opfer dieses Kriegs übersteigt jede Vorstellungskraft. Der Schriftsteller Navid Kermani wagte anhand des Massenmordes an den Juden in Osteuropa einen Vergleich: Würde man allein für jeden ermordeten Juden in Polen, der Ukraine oder Russland einen Stolperstein in die Hand nehmen, so könnte man damit viele Straßen und Plätze Osteuropas pflastern.

Ich persönlich verbinde mit dem 1. September 1939 die Erinnerung an die Erzählung eines 18-Jährigen: Als blutjunger Soldat sitzt er kurz vor Stalingrad frierend in seiner Unterkunft beim Kartenspiel. Es ist sehr kalt. Da springt einer seiner Kameraden auf, nimmt sein Gewehr und geht zu dem Verschlag mit den russischen Kriegsgefangenen. Man hört Schreie und Schüsse, dann öffnet sich die Tür und der Kamerad steht triumphierend mit den gefütterten Filzstiefeln der Gefangenen, die er soeben erschossen hat.

Der Erzähler ist schreckerstarrt, ohnmächtig, wagt nichts zu sagen, da er der Jüngste unter den Landsern ist, für die das Leben eines russischen Soldaten weniger wert ist als ein paar Filzstiefel.

Der Erzähler dieser Geschichte heißt Erhard Eppler. Er hat sich als Christ und Sozialdemokrat Zeit seines Lebens für die Verständigung mit den Völkern Osteuropas eingesetzt, er war Pazifist und Verfechter der Entspannungspolitik. Statt die Schrecken des Krieges zu verdrängen wie viele seiner Generation, wurde für ihn das Trauma des Krieges zur Richtschnur seines politischen Handelns . Er wird einer der führenden Köpfe der Friedensbewegung der 80iger Jahre und setzt sich zusammen mit einer ganzen Generation für Frieden und die Ächtung des Krieges als Mittel der Politik ein.

Bertolt Brecht hat darauf hingewiesen, dass die Menschheit sehr vergesslich ist im Hinblick auf vergangene Leiden, Katastrophen und Kriege.

Wir erleben heute in Europa und weltweit eine Ost-West Konfrontation, die an die schlimmsten Zeiten des Kalten Kriegs erinnert.

Wir erleben eine nie dagewesene Hochrüstung und einen Zusammenbruch der Systeme von Rüstungskontrolle, als hätte es nie zwei schreckliche Kriege gegeben, die ihren Ursprung in Deutschland hatten. Feindbilder werden aktiviert, Sündenböcke gesucht.

Der Aufstieg der neuen Supermacht China muss dafür herhalten, eine milliardenschwere Hochrüstung zu begründen. Mehr noch, manche Politiker und Militärs erwecken den Eindruck, als stünde der Feind irgendwo im Osten und warte nur auf die nächste Gelegenheit, uns zu überfallen.

Trotz Hiroshima stecken alle neun Atommächte Unsummen in die Modernisierung ihrer Nukleararsenale.

Deutsche Politiker fordern die atomare Teilhabe und die Bundesregierung weigert sich, den UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen zu unterzeichnen.

Wer kann Verständnis dafür haben, dass die Ausgaben für Rüstung die Ausgaben für Bildung, Wohnen, Gesundheit und Familie zusammen um das Doppelte überschreiten?

Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzureißen! Die Pandemie, der Klimawandel, die Verkehrswende – all diese gewaltigen Herausforderungen bedrohen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und vergrößern die soziale Ungleichheit. Die Friedensbewegung muss stärker werden.

Auf ihrer Tagesordnung steht die Abrüstung, das Verbot aller Atomwaffen, die Einsparung der Rüstungsmilliarden zugunsten des sozial-ökologischen Umbaus unserer Gesellschaft!

Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass auch die Kasseler Firmen Rheinmetall und Wegmann ihren Beitrag dazu leisten müssen.

 

Thomas Jansen ist aktiv beim Kasseler Friedensforum.