1995: Die Zeitbombe tickt

von Matthias Küntzel

Abrüstungsverträge gelten zeitlich unbegrenzt. Der Atomwaffensperrvertrag (oder Non-Proliferation Treaty, NPT) macht eine Ausnahme: ''Fünfundzwanzig Jahre nach Inkrafttreten dieses Vertrages wird eine Konferenz einberufen, die beschließen soll, ob der Vertrag auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird", heißt es in Artikel X,·NPT. Dieser Passus war - woran das Auswärtige Amt·höchst ungern erinnert wird - ein Ergebnis deutscher Diplomatie.

 

Vor gut 25 Jahren hatte es in Westdeutschland eine hysterische Kampagne gegen den Sperrvertrag gegeben: Franz Josef Strauß hatte in dem Projekt ein "Versailles von kosmischen Ausmaßen" gewittert und Adenauer eindringlich gefordert, "daß die Bundesrepublik nicht ihr Todesurteil unterschreibt." Die damalige Regierung der Großen Koalition wußte zwar, daß sie sich um die Vertragsunterschrift auf die Dauer nicht würde drücken können. Sie hatte als eine zentrale Bedingung ihres Beitritts 1967 jedoch "eine Beschränkung der Geltungsdauer auf 5 oder 10 Jahre" gefordert. Um also den Vertrag "für die Bundesrepublik etwas schmackhafter zu machen" (so der damalige Verhandlungsleiter der USA) wurde schließlich die 25-Jahres-Klausel in das Vertragswerk integriert. Die Bundesregierung wollte die Befristung, um ohne großes Aufsehen vom Vertrag zurücktreten zu können. Heute zeigt sich, daß Artikel X das Vertragswerk insgesamt zu Fall bringen könnte: Im Frühjahr 1995 wird der Geltungszeitraum des Vertrages auslaufen. Ob sich dann die Regierungen auf eine neue Vertragsperiode werden einigen können, ist ungewiß.

Heute gibt sich die Bundesregierung geläutert. Im Kampf gegen die nukleare Proliferation scheint sie sich von niemandem überbieten zu lassen. Daß diese Selbstdarstellung auch im nuklearen Bereich nicht zutrifft, macht spätestens der Blick in die internationale Presse klar. Deutlich erkennbar hat das folgenschwere Gerangel um "1995" längst begonnen. Besonders hoch gepokert wird von den Aufsteigermächten Japan und der Bundesrepublik. Im Mittelpunkt steht der Erhalt bzw. Ausbau ihrer nuklearen Option. Japan schließt erstmals seit der Bombardierung von Hiroshima 1945 die Möglichkeit, eigene Atomwaffen zu produzieren, nicht mehr aus, schrieb im November 1993 die an diesem Pokerplay beteiligt hat, sei hier nur mit zwei Beispielen skizziert:

Der Plutoniumbunker

US-Präsident Clinton hatte am 27. September 1993 vor den Vereinten Nationen erklärt, in Zukunft wo immer möglich und weltweit jede Erzeugung und Lagerung der Bombenrohstoffe Plutonium und Waffen-Uran·verhindern zu wollen. Zwei Ausnahme-Regionen wolle er jedoch akzeptieren: Westeuropa und Japan. In dieser Sonderbehandlung seien, so die Presse in den USA, "the effects of German and Japanese interventions·in Washington“ zum Ausdruck gekommen (PPNN-Newsbrief 3/93). Daß diese Interventionen das Nichtverbreitungskonzept der Clinton-Administration konterkariert, liegt auf der Hand. Wer riesige Plutoniumlager in der Bundesrepublik und in Japan akzeptiert, ist nicht gerade glaubwürdig, wenn er, etwa im Falle Nordkoreas, wegen einiger Hundert Gramm Plutonium mit dem Angriffskrieg droht. Weil das deutsch-japanische Beharren auf den Bombenrohstoff den Interessen der USA grundlegend widerspricht, hat der US-Kongreß die Clinton-Administration inzwischen einstimmig aufgefordert, auch gegen die westeuropäischen und japanischen Plutoniumlager vorzugehen: (IHT, 2.11.93) Daß Clinton sich daran nicht halten wird, hat mit der neuen Kräftekonstellation zu tun. Immerhin ist für die Bundesregierung das Hanauer Plutoniumlager so wichtig, wie für Frankreich die Force de Frappe. Ein Land, das ein derart großes Plutoniumarsenal besitzt, verfügt nicht unbedingt juristisch, dafür aber faktisch über die Insignien einer Atommacht. Um die nationale Verfügung über die gut 2 Tonnen Plutonium in Hanau nicht zu verlieren, blockiert die Bundesregierung seit Jahren in den internationalen Gremien alle Konzepte, die darauf hinauslaufen, derartige Lager in internationales Eigentum zu überführen.

Weitere fünf Tonnen deutschen Plutoniums befinden sich derzeit auf dem Gelände der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague. Ihre Rückführung nach Hanau ist derzeit nicht möglich, weil ein ziviles Nutzungsprojekt hierfür (wie etwa eine produzierende MOX-Fabrik) nicht existiert. Ein derartiges Feigenblatt ist nach dem Atomwaffensperrvertrag jedoch zwingend. Die Bonner Anweisung an die hessische Landesregierung, jedwede künftige Entscheidung über den Plutoniumstandort Hanau, "nur nach vorheriger Zustimmung der Bundesaufsicht zu treffen", soll jene Plutoniumblockade brechen. Hier besteht Eilbedarf. Inzwischen haben in Frankreich auch Regierungsvertreter Zweifel daran geäußert, ob der Export des Plutoniums in die Bundesrepublik unter proliferationspolitischen Gesichtspunkten verantwortbar ist (NF, 6.7.92). Weitaus aufmerksamer als in der deutschen Friedensbewegung hat man in Frankreich registriert, daß seit 1989 auch von prominenten Publizisten wie Arnulf Baring oder Rudolf Augstein die Möglichkeit deutscher Atomwaffen in die Diskussion gebracht worden ist.

Die Euro-Atomstreitmacht

"Das Festhallen an der europäischen Option', das sich die Bundesrepublik mit ihrem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag ausbedungen hatte, bleibt ... noch immer konsequentes Leitbild deutscher Sicherheitspolitik!“, hieß es 1989 in einem Beitrag der regierungsnahen ''Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik" (DGAP). Auch der Zwei-plusVier-Vertrag von 1990 sehe vor, "daß der bundesdeutsche Verzicht auf ABC Waffen mit einer gemeinsamen europäischen Verteidigung rechtlich hinfällig würde", betont die Bundeswehrzeitung "Europäische Sicherheit'': "Die Kanzlerdelegation hatte im Sommer gegenüber der sowjetischen Seite im Kaukasus einen vorbehaltlosen Verzicht auf ABC Waffen erklärt. In mehreren Reden ist das von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu einer ,,Bekräftigung der bereits früher geleisteten Verzichtserklärungen Bonns verschoben worden. Die früheren Verzichtserklärungen gelten aber unter dem europäischen Vorbehalt." Dies ist der Hintergrund eines derzeit noch hinter den Kulissen tobenden diplomatischen Eklats zwischen der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) und den USA. Ein Eklat, dessen "negative Auswirkungen sich in verschiedene andere Foren. wie etwa die Sperrvertrags-Verlängerungskonferenz hineinziehen könnte", wie es in einem EG-internen Dokument drohend heißt. (NF, 11.10.93)

Worum geht es? Euratom besteht darauf, die seit 35 Jahren gültige Mitsprache der USA bei der Verwendung von Plutonium US-amerikanischer Herkunft in Westeuropa jetzt und für alle Zeit zu beenden. (1) Diese Mitsprache durch die USA sei für Euratom, so deren deutscher Verhandlungsleiter, Wilhelm Gmelin, "politisch und technisch nicht länger akzeptabel." Daß dieses EG-Anliegen im (zustimmungspflichtigen) US-Kongress keine Chance hätte, wird von keiner Seite bestritten: Euratom fordert deshalb Clinton auf, den US-Kongreß eigenmächtig zu übergeben.

Warum die europäische Halsstarrigkeit?

Ökonomische Motive sind auszuschließen. Seit den Abrüstungsverträgen ist nicht der Mangel an Plutonium, sondern dessen Menge ein Problem. Es geht um das politisch-strategische Kalkül. Euratom hätte ein US-Veto nur dann zu befürchten, wenn mit dem Plutonium eine neue Atommacht begründet werden soll. Der drohende Hinweis auf die Sperrvertragskonferenz 1995 stellt die USA vor die Alternative, jeden Rest an Einflußnahme auf die europäische (bzw. deutsche) Atomwaffenpolitik oder aber das Instrument des Atomwaffensperrvertrags zu verlieren.

Es passt in diese Politik, daß Regierungsparteien und SPD in einem gemeinsamen Bundestagsantrag die Abschaffung der IAEO-Kontrollen in Westeuropa und deren Ersetzung durch eine Euratom-Selbstkontrolle angeregt hatten. (2)

Es gäbe im Hinblick auf die "1995"Vorbereitungen vieles mehr zu besprechen. Etwa, daß die Bewegung der "Blockfreien" ihre Unterstützung für die Verlängerung des Sperrvertrags u.a. davon abhängig gemacht haben, daß die gerade in Bonn so obsessiv verteidigte "Nukleare Teilhabe" im Nato-Rahmen beendet wird. Oder daß die geplante "Kernwaffensimulationsanlage" im US-Forschungszentrum Lawrence Livermore weitere US-Nukleartests vermutlich überflüssigmachen und die US-Bereitschaft zu Verhandlungen über ein nukleares Teststoppabkommen beschleunigen wird. Doch wen interessiert dies hierzulande?

Um die Regierungspolitik in Bezug auf "1995" vorzubereiten, tagt seit 1992 ein 50-köpfiger Expertenkreis unter der Federführung von DGAP und Kernforschungsanlage Jülich. Bereits im Juli 1992 wurde dort die deutsche Strategie in Bezug auf den US-Euratom-Streit besprochen. Der mit Abrüstungs- und Friedenspolitik befaßte Teil dieser Gesellschaft scheint demgegenüber die mit "1995" verbundenen Herausforderungen nicht einmal annäherungsweise zu erfassen. Anders ist nicht zu erklären, warum nicht auch hier die Beratung über Strategien in Bezug auf "1995" längst begonnen hat: ..

 

1. "US-origin Plutonium" ist das Plutonium aus Brennelementen, deren Uran einst in den USA angereichert worden war. In Hanau gibt es große Mengen an Plutonium, das zwar der Bundesrepublik gehört, das aber wegen seiner US-amerikanischen Herkunft nur mit Zustimmung der USA weiterverwendet werden darf. Jene "prior consent"- Klausel ist seit 1958 im US-Euratom-Abkommen verankert. 1995 steht dieses Abkommen zur Verlängerung an. Falls die Verlängerung nichtzustande komme; wäre der US-Industrie von 1995 an die Zusammenarbeit mit Euratom nicht länger erlaubt. Bemerkenswerterweise hat die westeuropäische Plutoniumindustrie erklärt, sie werde lieber auf jede kommerzielle Beziehung zu den USA verzichten, als weiterhin eine US-amerikanische Mitsprache-Klausel zu akzeptieren. (NF, 25.10.93)

2. vgl. DS 12/5116; dieser Antrag enthält ansonsten eine wortreiche Bekräftigung "der bereits früher geleisteten Verzichtserklärungen."

 

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