Auch ich war ein Kindersoldat

von Andreas Buro

Am Morgen des 1. Septembers 1939 saß unsere ganze Familie gedrängt um den Volksempfänger. Wir hörten die knarrige Stimme Hitlers, es werde nun gen Polen zurück geschossen. Die Situation erschien uns viel dramatischer als im März, als die Tschechoslowakei von deutschen Truppen angegriffen wurde. Mein Vater sagte: „Das bedeutet Krieg.“  Ich war damals gerade 11 Jahre alt geworden und konnte mir unter Krieg noch nicht viel vorstellen. Mein Bruder hatte vor einigen Jahren gefordert, er wolle doch einmal den Krieg sehen. Auf die Antwort meiner Mutter, es sei aber gerade kein Krieg, antwortete er, dann möchte ich eben den Krieg sehen, wenn er leer steht. Ähnlich vage dürften auch meine Vorstellungen 1939 gewesen sein. Aber die unheimliche bedrohliche Stimmung vor dem Radio hatte sich doch voll auf mich übertragen. Solch eine unfassbare bedrohliche Stimmung hatte ich schon einmal erlebt, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November des Vorjahres in Berlin die Scheiben von jüdischen Geschäften zerschlagen, ihre Waren auf die Straße geworfen und Synagogen angezündet worden waren. In vielen solcher Geschäfte hatte ich damals meine Kleinigkeiten eingekauft und kannte die Ladenbesitzer. Erst dachte ich, ein Unwetter habe dies angerichtet. Verstehen konnte ich auch dieses Ereignis nicht und auch die Eltern waren kaum darauf anzusprechen. Sie wussten ja nicht, wie wir Kinder außer Hause mit solchen Mitteilungen umgehen würden.

Der Feldzug in Polen wie auch die unmittelbar folgenden Blitzkriege riefen eine ambivalente Haltung bei mir hervor. Einerseits siegte Deutschland. Das schien nicht bedrohlich. Andererseits konnte ich den Sinn des Krieges nicht verstehen. Warum führten wir diesen Krieg und zerstörten andere Länder, denn die Siege der Wehrmacht waren immer auch verknüpft mit den Bildern der Zerstörung. Der Bombenkrieg gegen England führte bald zu Reaktionen der Westmächte. Der Bombenkrieg bedrohte nun auch Berlin.

Meine Eltern beschlossen, uns auf ein Internat in Brandenburg zu schicken. Lange hatte ich mich von der HJ fern gehalten. Das ging nun nicht mehr. Ich wurde der Feuerwehr-HJ zugeteilt und fuhr bei den schweren Bombenangriffen auf Berlin mit zwei Feuerwehrzügen nachts dorthin um zu löschen. Tagsüber lagen wir im Straßengraben an der Avus, um die nächsten Angriffe abzuwarten. Dann löschten wir weiter. Einmal waren wir ganz dicht bei der Wohnung meiner Eltern in der Emser Strasse in brennenden Häusern. Am Morgen wollte ich nach meinen Eltern schauen, ob alles in Ordnung war, doch in der gleichen Nacht war auch unser Haus abgebrannt. Die Eltern konnten entkommen. Später wurden sie noch einmal in Friedenau durch eine Luftmine ausgebombt, ohne dass sie selbst verwundet wurden.

Am 18. Oktober 1943 – 15 Jahre alt – wurde ich in Potsdam gemustert und bekam einen Wehrpass. Ich  war 158 cm groß. Am 10. Januar 1944 mußte sich unsere Schulklasse im Fliegerhorst Briest melden, um als Luftwaffenhelfer eingesetzt zu werden. Unsere schwere Flak-Batterie (8,8 cm) lag in einer Stellung dicht an der Havel außerhalb Brandenburgs. Wir schossen  auf englische und amerikanische Bomberpulks, die nach Berlin flogen. Das Motorengeräusch der Bomber höre ich heute noch. Natürlich wurden wir auch bombardiert, aber es ging daneben. In der Havel schwammen dann viele tote Fische. Zu den sogenannten ‚Stamm-Mannschaften – meist ältere Soldaten – hatten wir ein gutes Verhältnis. Viel schwieriger war unser Verhältnis zu den Berufssoldaten, die als Stabsweldwebel (Spieß) und Unteroffiziere uns drillten. Sie waren meist  wenig gebildet und sahen uns Gymnasiasten als Bedrohung ihrer Autorität an. Unseren Stabsfeldwebel haben wir mit ‚zivilem Ungehorsam‘ geärgert. Er brüllte beim Exerzieren: „In die Havel - Marsch, Marsch!“ Wir sind wie verrückt los gerannt, haben alle seine weiteren Kommandos überhört und uns in voller Montur in das Wasser gestürzt. Dann war natürlich das ‚Schleifen‘ zu Ende.  Deutlich erinnere ich mich an eine Situation, die die Spannungen zum Ausdruck brachte. Wir hatten ‚theoretischen Unterricht‘. Ich mußte etwas über Schießkunde referieren. Dann sagte der Stabi zu mir recht spitz: „Kleener, Du bist wohl ein Intellektueller.“

Unser Leben war den ganzen Tag über geregelt. Aufstehen ziemlich früh, Betten machen, Antreten, Abzählen, laute Kommandos, Exerzieren, Schulunterricht, Übungen an den Kanonen, Essen fassen im Kochgeschirr, Alarm und schießen auf die Bomber-Pulks. Von Daheim bekam ich ab und zu Post – meist von meiner Mutter. Die Jungens aus Brandenburg hatten es leichter, denn die Verbindung zu ihrem Elternhaus konnte aufrecht erhalten werden. Wir aus dem Internat waren ganz auf uns gestellt.

In dem Kriegsalltag gab es auch schöne Momente, die vielleicht in der Erinnerung ein größeres Gewicht bekommen haben. Morgens vor dem Wecken, der Nebel lag noch über dem Wasser, ruderten wir  auf die Havel, um die Aalschnüre der Fischer zu inspizieren. Auf einer kleinen Halbinsel hatte ich einen Dachsbau entdeckt. Ich lag dort manche Stunde, um die sich raufenden jungen Dachse zu beobachten. Aus den reichlich am Ufer wachsenden Binsen flocht ich Körbe, Pantoffeln und Teller. Im Winter 1944 waren die Havelwiesen überschwemmt und zugefroren. Wir kletterten nachts aus den Barackenfenstern und fuhren im Mondschein Schlittschuh. Einmal brach ich dabei ein. Meine Kleider waren sofort ganz steif gefroren. Später reisten wir mit unserer großen Kanonen an die Ostsee-Küste nach Pommern, um dort auf von Flugzeugen geschleppte Attrappen zu schießen. Dort hatten wir kaum Schule.

In unseren Baracken wurde täglich Schulunterricht abgehalten. Die Lehrer kamen aus Brandenburg. Später glaubte ich, ich sei immer ein guter Schüler gewesen. Ein Blick in meine Zeugnisse aus jener Zeit belehrte mich eines besseren. Irgendwie konnte ich Krieg und lateinische Vokabeln nicht zusammen bringen. Wir waren immer froh, wenn es während des Unterrichts Luftalarm gab. Dann fiel der Unterricht aus.

Unsere Munitions-Kanoniere waren russische Kriegsgefangene. Wir hatten zu ihnen ein freundliches Verhältnis. Sie hatten immer Hunger und  wir tauschten bei ihnen sehr schöne, aus Holz geschnitzte Vögel  gegen Brot ein. Bei Heimaturlaub brachten wir diese als Geschenk mit.

Gegen Ende 1944 wurde unsere ganze Klassen an die Ostfront in die Niederlausitz zum Schutz eines Frontflughafens mit leichter russischer Beute-Flak verlegt. Wir schliefen in Containern in drei Etagen. Die unten froren und heizten den Kanonenofen wie verrückt an. Die oben verkamen fast vor Hitze. Der 10. Insasse im Container musste im aufgeklappten Esstisch schlafen. Die Verpflegung reichte nicht mehr und wir hatten dauernd Hunger. So robbten wir uns nachts an die militärisch streng bewachten nächsten Mieten heran, um uns unter Lebensgefahr mit Kartoffeln zu versorgen.

Wir Luftwaffenhelfer mußten immer nachts Wache stehen, während die Stamm-Mannschaften tagsüber auf Posten standen. Unsere Batterie lag im Bereich von Partisanen-Aktionen und ich hatte Angst, wenn ich nachts mit riesigen Filzstiefeln Wache schob, die im Morast stecken blieben, wenn ich von den Laufplanken abkam. Ich trug einen dicken Mantel, der so groß war, dass er im Matsch hinter mir her schleifte. Einer unserer Mitschüler ließ sich bei jedem Wachwechsel wecken und sich die Zeit sagen. Er genoss zu hören, wie viele Stunden er noch bis zum Wecken schlafen konnte.

Zu dieser Zeit war die deutsche militärische Niederlage mehr als absehbar. Trotzdem waren meine Gefühle auf Vaterlandsverteidigung gerichtet. So hatte ich mich noch im Dezember 1944 als Reserveoffiziersbewerber eintragen lassen. In dieser Eigenschaft  wurde ich  im April 1945 mit sechs anderen nach Potsdam abkommandiert, um noch in letzter Minute zum Heer eingezogen zu werden. Die Fahrt dorthin war abenteuerlich. Wir lagen auf dem Dach eines Zuges. Alles war überfüllt. Bei Tunneln mussten wir aufpassen, dass uns der Kopf nicht abgerissen wurde. Ein kluger Offizier im Wehrbezirks-Kommando von Potsdam stellte jedoch fest, wir hätten den Arbeitsdienst noch nicht abgeleistet und schickte uns alle  „zwecks Einberufung zum Arbeitsdienst“ nach Hause. Der Mann hat uns vermutlich das Leben gerettet. Viele meiner zurück gebliebenen Mitschüler sind in der großen Schlußoffensive der Roten Armee umgekommen. Das Kriegsende und die Eroberung der Stadt habe ich bei meinen Eltern in Berlin erlebt, genauer gesagt im Luftschutzkeller. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Frage, ob mich meine Erlebnisse als Junge im Krieg pazifistisch geprägt haben, kann ich nur mit Nein und Ja beantworten. Ich wusste damals überhaupt nicht, was Pazifismus sein sollte. Krieg und Militär hatten einen festen Platz in meiner Sozialisation und in der schulischen Ausbildung. Das zeigt auch meine freiwillige Bewerbung zum Reserveoffizier noch im Dezember 1944. Dann war da aber auch der Widerwille gegen militärischen Drill und den widerspruchslosen Gehorsam. Sonderbarerweise auch meine Ablehnung der Gerüche und der lauten Befehle in Kasernen. Die Brutalität des Krieges war mir fremd und unverständlich. Unsere russischen Munitionskanoniere waren mir durchaus sympathisch. Warum sollte ich Russen töten? Wahrscheinlich hat mich die Kriegszeit angeregt, nach der Kapitulation 1945 auf eine große Suchreise zu gehen, um für mich zu klären, was ich in meinem Leben für ein gutes und friedliches Leben beitragen könnte. Diese Suchreise hat sehr lange gedauert. Auf ihr hat sich erst unter vielen neuen Eindrücken allmählich eine pazifistische Orientierung ergeben. Später habe ich oft den Begriff der sozialen Lernprozesse gebraucht. Ich selbst habe sie auch durchgemacht.

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