Buchbesprechung „Der Westen im Niedergang“ von E. Todd

Der Westen im Niedergang

von Wilfried Drews
Hintergrund
Hintergrund

In dem neuen Buch des französischen Historikers Emmanuel Todd, „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“, wird die These vertreten, dass der Westen nicht nur an internationalem Einfluss verliert, sondern sich in einem Prozess des unumkehrbaren Niedergangs befindet.

Unter Westen versteht der Autor im engeren Sinne die USA, im Weiteren die europäischen Länder, die durch US-Abhängigkeit in einen zerstörerischen Sog hineingezogen werden. Der Absturz bezieht sich, so Todd, nicht allein auf die Ökonomie der Vereinigten Staaten, sondern auch auf ihre soziokulturellen Rahmenbedingungen und den Verlust eines religiösen Wertekanons, der für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt ehemals konstitutiv gewesen sei. Die Verstrickungen im Ukrainekrieg geben Hinweise für den freien Fall der Staaten. „Die amerikanische Militärindustrie ist defizitär; die globale Supermacht ist nicht in der Lage, seinem Schützling, der Ukraine, Granaten – oder irgendetwas anderes – zuzusichern“ (Seite 19), so lautet beispielsweise eine von „zehn Überraschungen des Krieges“, mit denen Todd ins Thema einsteigt. Immer wieder bezieht er sich auf empirische Daten wie Lebenserwartungs- und Produktivitätsraten, um die USA, europäische Länder und Russland miteinander zu vergleichen. Daraus lasse sich schließen, dass westliche Sanktionen Russland nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt hätten.

Dieser Stärke stehe eine Schwäche abnehmender Geburtenraten gegenüber, die zu einer künftigen Rekrutierungsproblematik führe, mit entsprechenden Folgen für die russische Militärdoktrin. In diesem Umstand liege der Grund für den gewählten Zeitpunkt der russischen Militärintervention im Februar 2022. Hier geht es Todd nicht um Legitimation des Angriffs, sondern um ein Plädoyer für eine differenzierte Wahrnehmung. Unterschiedliche Familiensysteme in Russland und der Ukraine zeigten, dass weder die Ukraine Russland sei, noch dass es die ukrainische Kultur gebe. In den Analysen weiterer osteuropäischer Staaten sei eine ausgewiesene Russophobie zu konstatieren. Diese leugne jedoch historische und soziale Realitäten. Der osteuropäische Russenhass verdecke die tatsächliche Distanz zum Westen und sei wohl dem Aufnahmewunsch in EU und NATO geschuldet.

Eine sich ergebene Abhängigkeit Europas von den USA widerspreche den europäischen Interessen und sei selbstzerstörerisch. Während Europa Schutz von den Vereinigten Staaten erwarte, bestehe das US-amerikanische Interesse darin, Europa zu kontrollieren, denn Kontrollverlust würde Machteinbuße bedeuten. So läuft die Argumentation vom Niedergang des Westens im Kern auf eine Kritik der neoliberalen Wirtschaftseliten und des von persönlichen Interessen geleiteten, geopolitischen Establishments der USA hinaus. Sie unterlägen dem Irrtum, ihren Machtverlust durch internationale militärische wie ökonomische Kontrolle aufhalten zu können.

Die Hauptproblematik des Niedergangs liege, so Todd, viel tiefer in den soziologisch-historischen Entwicklungen der US-amerikanischen Gesellschaft begründet. So sei bei einem immensen Außenhandelsdefizit die Industrieproduktion von ehemals 44,8% im Jahr 1945 auf 16,8% im Jahr 2019 zurückgegangen, zudem sei der Lebensstandard gesunken. Statt einer US-amerikanischen Vormachtstellung bestehe vielmehr eine Abhängigkeit der USA vom Rest der Welt.

In den Analysen ist gerade die Sichtweise eines französischen Historikers auf das deutsche Nachbarland aufschlussreich. Am Ende schließt Todd: „Die vorübergehenden militärischen Erfolge des ukrainischen Nationalismus haben die Vereinigten Staaten in eine Eskalation gestürzt, aus der sie nicht mehr herauskommen können, wenn sie nicht einen Niedergang erleiden wollen, der […] umfassend wäre: militärisch, wirtschaftlich und ideologisch. Eine Niederlage hieße jetzt: deutsch-russische Annäherung, die Entdollarisierung der Welt, das Ende der Importe, die von der ’kollektiven Inlands-Notenpresse’ bezahlt werden, große Armut.“ (Seite 317f.)

Ob sich seine Prognose vom Niedergang des Westens, insbesondere einer Entmachtung der USA, bestätigen werden, bleibt abzuwarten. Das angeführte Datenmaterial scheint derartige Schlüsse zuzulassen. Die empirischen Vergleiche und Folgerungen sind, ohne die Argumentation mit Zahlen zu überfrachten, eine Stärke des Buches, da sie eine rationale Betrachtung des Ukrainekriegs ermöglichen. Das Buch ist sehr lesenswert, da es fundiert Gesichtspunkte des Kriegskontextes an die Oberfläche befördert, die bisher wenig bis gar keine Beachtung finden. Es ist auch deshalb empfehlenswert, weil sich daraus Argumente für den Vorrang von diplomatischem gegenüber militärischem Handeln ableiten lassen.

Emmanuel Todd (2024): Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall, Berlin: Westend Verlag, 350 Seiten, ISBN 978-3-86489-469-5, 28,- Euro

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Wilfried Drews ist Bildungsreferent an der Evangelische Jugendbildungsstätte Hackhauser Hof e.V. und koordiniert das Netzwerk Peacemaker.