Nach dem NATO-Einsatz

Die Afghanisierung des Krieges

von Matin Baraki

به هررنگی، که خواهی، جامه ميپوش /من از طرز، خرامت، ميشناسم - So sehr Du Dich auch verkleidest/ Ich kenne Dich an Deiner Art und Weise.

So rufen die Afghanen Hamid Karzai nach, wenn er gegen seinen eigenen Herrn, die USA polemisiert.

Die NATO hat für Dezember 2014 das Ende ihres Kampfeinsatzes in Afghanistan angekündigt. Die ersten Abzugsmaßnahmen sind schon eingeleitet. Den afghanischen Sicherheitskräften wurde am 18. Juni 2013 die volle Verantwortung für die Sicherheit des Landes übertragen. Aber in der Peripherie, wo die NATO-Einheiten abgezogen sind, haben die Taliban die Kontrolle übernommen. Im Süden des Landes haben sich die afghanischen Sicherheitskräfte in ihren Kasernen verschanzt und sind froh, wenn sie nicht angegriffen werden. (1) In der Provinz Badakhschan, im Norden des Landes, haben die Taliban nach dem Abzug der Bundeswehr den Verwaltungs- und den Polizeichef eines Distrikts vertrieben. (2) Dies sollte zwar zunächst nicht dramatisiert, aber auch nicht unterbewertet werden. Beobachter malen ein düsteres Bild für die Zukunft des Landes am Hindukusch und gehen davon aus, dass die Kabuler Administration ohne die NATO nicht überleben werde. Die Schreibsöldner der „internationalen Gemeinschaft“ verbreiten Horrormeldungen und warnen vor einer Machtübernahme der Taliban in Kabul, was völlig überzogen ist. Auch die 16 US-amerikanischen Geheimdienste beteiligen sich mit einem gezielt in die Öffentlichkeit lancierten Dossier, eines eigentlich als geheim eingestuften Berichts, an dieser Stimmungsmache und malen ein „düsteres Szenario für Afghanistan“. (3) Damit soll psychologisch Stimmung gemacht werden, um eine dauerhafte NATO-Präsenz am Hindukusch zu rechtfertigen. Sie suggerieren, dass es zur NATO-Militärpräsenz am Hindukusch keine Alternative gäbe.

Es ist anscheinend in Vergessenheit geraten, dass schon vor den Parlamentswahlen 2005 Karzai eine „Nationale Konferenz“ einberufen hatte, auf der 100 Personen aus seiner Entourage zusammenkamen. Sie bevollmächtigten ihn, mit den USA einen Vertrag zu schließen, auf dessen Grundlage die US-Armee auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben kann. Der Text dieses Vertrages wird bis heute unter Verschluss gehalten. Inzwischen sind längst weitere kolonialähnliche bi- und multilaterale Verträge mit einzelnen NATO-Ländern, darunter mit den USA am 8. Mai 2012 (4), der BRD am 16. Mai 2012 (5) und der NATO als Organisation unterschrieben worden. Auf der Lissaboner NATO-Tagung im November 2010 unterzeichneten NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und der Kabuler Präsident Hamid Karzai eine Erklärung, auf deren Grundlage eine dauerhafte Präsenz der NATO-Truppen in Afghanistan festgeschrieben wurde. Unter dem Deckmantel als Berater und Ausbilder werden NATO-SoldatInnen auch nach Abzug der NATO-Kampftruppen über 2014 hinaus in Afghanistan operieren. Damit wird das Land am Hindukusch zu einer Militärkolonie und bleibt weiterhin ein unsinkbarer Flugzeugträger der NATO für künftige regionale Einsätze der Allianz.

Im November 2013 wurde ein sog. Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan paraphiert. (6) Nach §26 wird die US-Armee bis Ende 2024 und darüber hinaus in Afghanistan präsent bleiben. Die US-SoldatInnen dürfen sieben Flughäfen und fünf Binnenhäfen bzw. Grenzübergänge für ihre Ein- und Ausreise nutzen und insgesamt neun Stützpunkte vollständig besitzen (Anhang A und B). Auch die Frage der Immunität ist im Sinne der USA geregelt worden. Sowohl militärisches als auch ziviles US-Personal ist ausschließlich US-Recht unterstellt. (7) Mit diesem Abkommen werden die wichtigsten strategischen Regionen Afghanistans faktisch militärisch besetzt. „Verträge binden den Schwachen an den Starken, niemals aber den Starken an den Schwachen“, stellte schon vor fast 300 Jahren Jean-Jacques Rousseau fest.

Karzais angebliche Weigerung, das Abkommen zu unterschreiben, hat historische und innenpolitische Hintergründe. Er ist der am meisten verhasste Politiker im Lande und wird als Pudel der USA sowie Vaterlandsverräter angesehen. Um sein Image etwas aufzubessern, polemisiert er (die Afghanen sagen dazu, er bellt) gegen seinen Herrn. Dies ist aber zweifelsohne mit der US-Administration abgesprochen. Karzai will damit auch sein weiteres Überleben in Afghanistan sichern. Die Afghanen sehen das Sicherheitsabkommen mit den USA als eine Replik des Durand-Vertrages vom 12. November 1893. (8) Damals wurden Stammesgebiete an der afghanisch-indischen Grenze Britisch-Indien eingegliedert, wodurch sogar Familien voneinander getrennt wurden. Das ist bis heute ein Problem zwischen Afghanistan und Pakistan geblieben. Außenpolitisch erhielt das Land den Status eines britischen Protektorats. Da dieses verhasste Abkommen als eine blutige Wunde den Menschen in Afghanistan bis heute in Erinnerung geblieben ist, möchte Karzai mit dieser „Neuauflage“ nicht in Verbindung gebracht werden. Hier liegt die eigentliche Ursache seiner Unterschriftsverweigerung.

Die Kabuler Administration ist jedoch finanziell völlig von den USA und ihren Verbündeten abhängig. Ein Bruch mit ihnen, wie die westlichen Medien als mögliches Szenario verbreiten, ist deswegen undenkbar. Ab Ende 2014 sollen die Sicherheitskräfte Afghanistans, die 200.000 Soldaten und die 160.000 Angehörigen der sogenannten Nationalen Polizei - in Wahrheit eine paramilitärische Truppe, viele Afghanen nennen sie Räuberbanden - jährlich mit vier Milliarden US $ finanziert werden. Dazu kommen noch weitere vier Milliarden an Wirtschaftshilfe. (9) Die Kabuler Administration wäre niemals in der Lage, solche horrenden Summen aufzubringen. Auch deswegen ist das billige Theater von Karzai unglaubwürdig und wird von niemandem ernst genommen. Im Gegensatz zu seiner Polemik gegen die USA rief Karzai bezeichnenderweise auf der Ratsversammlung „Loya Jirga“ am 20. November 2013 die von ihm bestellten Delegierten dazu auf, dem Abkommen zuzustimmen. Es gab sogar, wenn auch nur wenige, mutige Frauen wie Belquis Roshan und ihre zwei Kampfgefährtinnen, die eine Zustimmung zu dem Abkommen als Verrat bezeichneten und die Loya Jirga am 21. November 2013 aus Protest verließen.

Adieu Vaterland
Seit die NATO den Abzug von Kampftruppen angekündigt hat, verlassen täglich Millionen US-Dollar illegal das Land. Der Präsident der Zentralbank gab offiziell zu, dass 2011 über 4,6 Mrd. US-$ außer Landes gebracht worden seien, das entspricht dem Jahresbudget der Regierung. (10) Demgegenüber verschlechtert sich die Lage der Bevölkerung zusehends. Die Arbeitslosigkeit betrug schon 2006 mancherorts ca. 70% (11), vor allem in Osten und Süden sogar 90%. Dort sympathisierten bereits 80% der Menschen mit den Taliban. (12) Und 2010 wurde in einem Bericht der damaligen Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit festgestellt: „80 Prozent der Bevölkerung Afghanistans leben am Existenzminimum. Jedes Jahr drängen eine Million junger Leute auf den Arbeitsmarkt.“ (13) Noch weitere Tausende Afghanen, die als Putzkräfte, Fahrer, Türsteher, Köche oder Dolmetscher und Spione für die Besatzer gearbeitet haben, werden dazu kommen. Dadurch werden immer mehr Menschen in Armut und Elend versinken und die Kriminalität noch mehr zunehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Verzweifelten dann auch dem Widerstand anschließen. Ob es unter diesen Umständen zu einem „afghanischen Frühling“ kommen wird, muss sich erst in der Zukunft erweisen, obwohl die Voraussetzungen dafür gegeben wären.

Frauen bleiben auf der Strecke
Die afghanischen Frauen haben viele Feinde: Armut, alltägliche häusliche Gewalt und Entführungen. „Die Vergewaltigungsrate ist extrem angestiegen, was in der Geschichte unseres Landes völlig untypisch ist“ (14), sagte Zoya, eine Aktivistin von der maoistischen Frauenorganisation „Revolutionary Association of the Women of Afghanistan“ (RAWA). Da die Vergewaltiger keine nennenswerten Strafen zu befürchten haben, sind die Frauen vogelfrei. So hätte „Präsident Karzai die Vergewaltiger eines zwölfjährigen Mädchens begnadigt.“ (15) Hinzu kommt noch, dass Vergewaltigung als außerehelicher Geschlechtsverkehr gilt und die Frauen dafür sogar gesteinigt werden können.(16) Gegenüber Amnesty International äußerte ein internationaler Helfer: „Wenn eine Frau zur Zeit des Taliban-Regimes auf den Markt ging und auch nur einen Streifen Haut zeigte, wurde sie ausgepeitscht - heute wird sie vergewaltigt.“ (17) Es gibt zahlreiche verzweifelte Mädchen, die sich verstümmeln, um nicht an alte Männer verkauft zu werden. Nach dem Abzug der „internationalen Gemeinschaft“ wird sich die Lage der Frauen weiter dramatisch verschlechtern.

Krieg als Ressourcenschlucker
Die von der NATO weiterhin favorisierte „militärische Lösung“ kann es aus verschiedenen Gründen nicht geben. Der NATO-Einsatz ist ein gigantischer „Ressourcenschlucker“. Der Krieg kostet jede Woche 1,5 Mrd. US-$. Selbst offizielle Angaben bezifferten die Kriegskosten allein für die USA bis Ende 2011 mit 440 Mrd. US-$. Seit Beginn des „Abenteuers Afghanistan“ im Jahre 2001 hat die Bundesrepublik über 11 Mrd. € für diesen Krieg ausgegeben, über acht Mrd. € davon hat die Bundeswehr verpulvert. (18) Das Institut für Deutsche Wirtschaftsforschung (DIW) gab die jährliche Kosten schon 2010  mit 2,5 bis 3 Mrd. € an. (19) Einen einzigen Talib zu töten, kostet schon 100 Mio. US-$. (20) Mit einem Bruchteil dieses Geldes würde Afghanistan buchstäblich in eine blühende Landschaft verwandelt.

Die NATO geht, Korruption und Drogenwirtschaft bleiben
Seit dem Einmarsch der NATO-Truppen in Afghanistan ist „die produzierte Opium-Menge um das 40-fache gestiegen.“ (21) Die Regierung in Kabul ist korrupt und mit der Drogenmafia eng verflochten. Die Menschen verachten diese Regierung und die Besatzer wegen der andauernden nächtlichen Hausdurchsuchungen und der Angriffe durch die NATO. „Da ist es geradezu eine Unverschämtheit, wenn die USA nun vorschlagen, auch nach 2014 in Afghanistan Soldaten zu stationieren, um die Macht dieser Mafia-Regierung zu sichern“, schreibt die spanische Zeitung „Publico“ aus Madrid. (22)

Auf einer Konferenz in Tokio 2012 wurden Afghanistan für die nächsten vier Jahre insgesamt 16 Mrd. US-$ zugesagt. Als Gegenleistung hatte Präsident Karzai, dessen Land Korruptions-Vize-Weltmeister und Drogenweltmeister ist (23), die Bekämpfung der Korruption versprochen. (24) Karzai hat seit seiner Machtübernahme schon Vieles versprochen und nichts davon gehalten. Auch bei seinem Nachfolger kann sich daran wenig ändern. „Würden alle Korrupten vor Gericht gestellt, hätten wir praktisch keine Regierung mehr“, stellte am 9. Juli 2012 die Zeitung „Aschte Sob“ aus Kabul fest. Darüber hinaus hat Karzai 110 Warlords, Kriegsverbrecher und Heroinbarone als „Berater“ um sich versammelt, die auch unter seinem Nachfolger in Ehren und Ämtern bleiben werden. Jeder erhält monatlich 5.000 US-$ Gehalt. Viele von ihnen hatten im Jahr nicht einmal ein Gespräch mit Karzai. (25) Diese Warlords werden auch über 2014 hinaus Afghanistan erhalten bleiben. Hätten diese und weitere Personen aus der Entourage von Karzai serbische Pässe, wären sie schon längst ausnahmslos vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zitiert worden.

Die NATO-Kampftruppen werden gehen, ihre Hinterlassenschaft, nämlich die Korruption, die Prostitution, die Warlords, Drogenbarone und Kriegsverbrecher werden bleiben.

 

Anmerkungen
1 Vgl. Azam Ahmed: Afghan troops develop ‚addication to bases’, in: International Herald Tribune (IHT), 12.9.2013, S. 1 und 4.

2 Vgl. Taliban erobern Distrikt, DPA, 29.9.2013.

3 Böge, Friederike: Düsteres Szenario für Afghanistan, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 30.12.2013, S. 6.

4 Vollständiger Inhalt des strategischen Abkommens zwischen Afghanistan und Amerika, 8.5.2012 (in Dari).

5 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan über die bilaterale Zusammenarbeit, 16.5.2012.

6 Qarardade Hamkarihaie Amniati wa Defaei mian Jamhuri Islami Afghanistan wa Ayalate Motaheda Amrika, November 2013 (in Dari und Paschto).

7 Vgl. Immunität für US-Militär, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 19.11.2013, S. 13.

8 Vgl. Baraki, Matin: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1978, dargestellt anhand der wichtigsten entwicklungspolitischen Projekte der Bundesrepublik in Afghanistan. Frankfurt/M. 1996, S. 1.

9 Vgl. Nato fordert Entscheidung Karzais, in: FAZ, 4.12.2013, S. 5.

10 Vgl. Rühl, Lothar: Schlechte Vorzeichnen, in: FAZ, 23.4.2012, S. 8.

11 Lüders, Michael: Nur die Milliarden aus dem Ausland halten Karzai an der Macht, in: Frankfurter Rundschau (FR), 24.4.2006, S. 6.

12 Vgl. Möllhoff, Christine: „Westen hat in Afghanistan versagt“, in: FR, 14.9.2006, S. 6.

13 Schlüsselfaktor Wirtschaft. GTZ, Eschborn Mai 2010; Die Webseite der Die Bundesregierung Juli 2010

14 Zoya: Keine Frauenbefreiung im Schatten von Soldaten, in: Junge Welt, 20./21.9.2008, S. 3.

15 ebda

16 Vgl. Vogt, Heidi: Neuer Papiertiger?, in: Junge Welt, 23.10.2009, S. 15.

17 Haydt, Claudia: Eskalation Made in Germany, in: Ausdruck: das IMI-Magazin, Tübingen, Oktober 2009, S. 4.

18 Heilig, René: Mehr als ein Zwei-Büchsen-Bier-Problem, in: Neues Deutschland (ND), 31.12.2013.

19 Brück, Tilman: „Die Kosten des Afghanistan-Einsatzes müssen auf breiterer Basis berechnet werden“, in: Wochenbericht des DIW, Berlin, Nr. 21/2010, S: 12.

20 Vgl. Einen Taliban zu töten kostet 100 Millionen Dollar, in: www.AllesSchallundRauch, 4.10.2010.

21 Rehmsmeier, Andrea: Anwachsender Opium-Export aus Afghanistan, in: Deutschlandfunk, Eine Welt, 21.12.2013

22 Publico, Madrid vom 14.10.2013.

23 Vgl. Transparency International 2009, www.transparenscy.org/cpi.

24 Vgl. Spalinger, Andrea: Wirtschaftshilfe in Milliardenhöhe für Afghanistan, NZZ, 9.7.2012, S. 3; 16 Milliarden Dollar bis 2015 für Afghanistan, FAZ, 9.7.2012, S. 1.

25 www.afghanpaper.com, 27.4.1391 [18.7.2012].

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