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Die OSZE und Konflikte in Europas Nachbarschaft

von Christian Nünlist

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist aus ihrem 15-jährigen Dornröschenschlaf erwacht. Die Ukraine-Krise, in der die OSZE seit 2014 eine wichtige Rolle im Konfliktmanagement zwischen Russland und dem Westen spielt, hat der Organisation zu ihrer alten Daseinsberechtigung verholfen: Wie im Helsinki-Prozess während des Kalten Krieges ist die OSZE auch heute wieder ein dringend benötigtes Dialogforum, um unter den 57 Mitgliedstaaten trotz unterschiedlicher Werte, Interessen und historischer Erfahrungen einen Modus vivendi für ein friedliches Zusammenleben in Europa auszuhandeln.

Seit Januar 2016 liegt der OSZE-Vorsitz in deutschen Händen. Deutschland ist seit der Umwandlung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in die OSZE der mit Abstand mächtigste Vorsitzstaat. Die Erwartungen an Berlin sind entsprechend hoch. Die deutsche Regierung wird jedoch den fundamentalen geo-strategischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen nicht in einem Jahr lösen können. Aber Berlin könnte mit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte verloren gegangenes Vertrauen wieder herstellen und in der OSZE konstruktiven Dialog ermöglichen. Dialog bedeutet nicht Übereinkunft. Deutschland sollte selbstbewusst die Universalität der OSZE-Prinzipien betonen, die von Ost und West zwischen 1972 und 2010 ausgehandelt und kodifiziert worden sind. Diese Prinzipien sind nicht verhandelbar, auch wenn Russland sie vorsätzlich gebrochen hat.

Die KSZE/OSZE im Wandel, 1972-2016
Die OSZE ist ein Kind des Kalten Krieges: Von 1972 bis 1975 hatten 35 Staaten, darunter alle NATO und Warschauer-Pakt-Staaten sowie Neutrale und Blockfreie, in Helsinki und Genf an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gemeinsame Prinzipien für ein friedliches Zusammenleben ausgehandelt. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki von 1975 gilt bis heute als „OSZE-Bibel“. 1990 wurden die Prinzipien in der „Charta von Paris“ an die neue Zeit angepasst.

Um den neuen Herausforderungen europäischer Sicherheit zu begegnen, erfolgte 1995 der Übergang von der KSZE, einem Dialogforum zwischen den Machtblöcken, zu einer festen Organisation mit neuem Namen: OSZE. Mit gestärkten Strukturen setzte sich die OSZE fortan mit unabhängigen Institutionen, Feldmissionen und Werkzeugen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Vertrauensbildung ein. Zudem engagierte sie sich im Bereich Konfliktprävention und Wiederaufbau nach Kriegen. Sie definierte kooperative Sicherheit breit und umfassend und schloss neben politisch-militärischen auch ökonomische, umweltpolitische und menschenrechtliche Aspekte ein.

Doch schon seit Ende der 1990er Jahren versank die OSZE in der Irrelevanz. EU, NATO und Europarat wurden verstärkt in vielen traditionellen OSZE-Bereichen aktiv. Die OSZE besetzte deshalb Nischen wie Mediation, Polizeireform, Korruptionsbekämpfung, Menschenhandel und Schutz der Medienfreiheit. Das Jahresbudget der OSZE ging von EUR 202,7 Mio. im Jahr 2000 auf EUR 141,1 Mio. im Jahr 2015 zurück. Die Organisation schaffte es praktisch nur noch mit ihren WahlbeobachterInnen und MenschenrechtsaktivistInnen in die Schlagzeilen. Die OSZE litt auch zunehmend darunter, dass einzelne Staaten (darunter sowohl Russland als auch die USA) mit ihrem Veto die inklusive, auf dem Konsensprinzip basierende Organisation nach Lust und Laune blockieren konnten.

In der Ukraine-Krise bewies die OSZE zuletzt aber wieder eine erstaunliche Agilität. Unter Schweizer Vorsitz schaffte sie es 2014 zurück ins Rampenlicht der internationalen Politik und spielte mit innovativen Ideen und Instrumenten eine nützliche Rolle, auch wenn Russland fundamentale OSZE-Prinzipien fortlaufend brach. Die Schweizer Diplomatie reagierte im Rückblick sehr gut auf die überraschende russische Annexion der Krim und das rasche Abgleiten der Ostukraine in einen Bürgerkrieg. Als OSZE-Vorsitzender nahm sich der Schweizer Außenminister Didier Burkhalter mit großem Engagement des geostrategischen Konflikts zwischen Russland und dem Westen an. Dabei spielte er in Absprache mit Schlüsselakteuren, darunter Kiew, Berlin, Paris, Washington und Moskau, die Konfliktmanagement-Instrumente der OSZE voll aus. Innerhalb weniger Monate erzielte der Schweizer Vorsitz beachtliche Erfolge: Erstmals seit über zehn Jahren brachte die OSZE im März 2014 eine große Feldmission auf den Weg. Verifikationsmissionen im Rahmen von OSZE-Rüstungskontrollmaßnahmen demonstrierten den Wert militärischer Transparenz und Vertrauens- und Sicherheitsbildender Maßnahmen (VSBMs). Innovativ war auch die Etablierung internationaler Kontaktgruppen, die in Genf, Berlin und Minsk den Dialog zwischen Russland und der Ukraine sowie den pro-russischen Separatisten in der Ostukraine förderten und die (vorerst brüchigen) Minsker Waffenstillstandsabkommen aushandelten.

Auf Umwegen zurück zur kooperativen Sicherheit in Europa?
Dass die OSZE in der Ukraine-Krise seit 2014 eine Schlüsselrolle bei der politischen Vermittlung und im internationalen Konfliktmanagement spielt, ist alles andere als selbstverständlich. Dies zeigt ein Vergleich mit dem Georgien-Krieg von 2008. Damals riss die EU unter französischer Präsidentschaft das internationale Krisenmanagement an sich. Präsident Nicolas Sarkozy handelte einen Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien aus. Die OSZE-Mission in Georgien musste Ende 2008 auf russischen Druck aus dem Land abziehen. Der Georgien-Krieg stürzte die OSZE in eine schwere Identitätskrise und markierte einen vorläufigen Höhepunkt in der seit 1999 wachsenden Entfremdung Russlands von der OSZE, nachdem Putin die Organisation bereits 2007 als ein „vulgäres Instrument“ bezeichnet hatte, mit dem auf Kosten Russlands westliche Interessen vorangetrieben würden.

Sein Nachfolger Dmitri Medwedew formulierte die russische Kritik an der OSZE 2008 etwas diplomatischer. Er schlug einen neuen Sicherheitsvertrag vor, einen Nichtaggressionspakt, der neben dem Gewaltverzicht auch das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit und die Fortführung der Abrüstung betonen würde. Die OSZE nahm den Ball dankbar auf. Dass es gelang, Medwedews Kritik an der OSZE 2009 in einen OSZE-internen Reformprozess zu überführen, an dem sich auch Russland aktiv beteiligte, war ein Erfolg des griechischen OSZE-Vorsitzes. Die Entspannung der US-russischen Beziehungen unter Barack Obama färbte ebenfalls positiv auf die OSZE ab. Im Dezember 2010 fand erstmals seit elf Jahren wieder ein OSZE-Gipfeltreffen statt. Die politische Erklärung von Astana definierte als Ziel die „Vision einer freien, demokratischen, gemeinsamen und unteilbaren euroatlantischen und eurasischen Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok“.

Ein Aktionsplan mit konkreten Schritten, wie diese Vision in die Realität umgesetzt werden sollte, scheiterte jedoch an den Langzeitkonflikten in Georgien und Moldawien. Ende 2012 wurde der Reformprozess in „Helsinki+40“Prozess umgetauft. Die Aussicht auf einen OSZE-Gipfel im Jahr 2015 zum 40. Jahrestag der Helsinki-Schlussakte sollte die OSZE-Staaten unter Druck setzen, ein neues politisches Grundsatzdokument auszuhandeln. Jedoch gelangen unter serbischem Vorsitz 2013 kaum Fortschritte. Die Ukraine-Krise nahm der Debatte den letzten Schwung – weil die politischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen trotz des starken Engagements der OSZE in diesem Konflikt auch auf die Organisation abfärbten. An den OSZE-Ministerräten in Basel (2014) und Belgrad (2015) kaschierten dürre Erklärungen den langsamen Tod des „Helsinki+40“Reformprozesses. Statt eines Gipfels fand im Sommer 2015 nur ein informelles Außenministertreffen zum Gedenken an Helsinki statt.

Erkenntnisse aus der Ukraine-Krise für die Zukunft der OSZE
Mehr Erfolg hatte die Idee des Schweizer OSZE-Vorsitzes, ein „Panel of Eminent Persons on European Security as a Common Project“ unter Leitung des deutschen Botschafters Wolfgang Ischinger über die Folgen der Ukraine-Krise für die OSZE und die europäische Sicherheitsordnung nachdenken zu lassen.

Der von Putin bestimmte russische Vertreter Sergei Karaganow stimmte mit vielen Formulierungen des Zwischenberichts vom Juni 2015 nicht überein und äußerte als einziger der 15 Experten seine abweichende Meinung zum Ursprung und Verlauf der Ukraine-Krise in sechs Fußnoten. Diese zeigten, wie stark politisierte Meinungen in das Panel einflossen. Karaganow beharrte unter anderem auf der offiziellen russischen Lesart, wonach es keine russische militärische Annexion der Krim gegeben, sondern es sich um eine Wiedervereinigung der Krim mit Russland auf friedlichem Weg gehandelt habe. Im Schlussbericht des Panels mit dem Titel „Back to Diplomacy“ vom November 2015 gab es keine russischen Fußnoten mehr, dafür einen lesenswerten „Letter of Disagreement“ von Karaganow. Darin bezeichnet der Russe die Logik des Berichts und seine Empfehlungen als „westlich und rückwärtsgewandt“. Er kritisiert, dass viele der „unrealistischen und kontraproduktiven Empfehlungen“ nur darauf abzielten, eine militärisch-politische Konfrontation „sicherer“ zu gestalten, nicht aber sie zu verhindern. Der Schlussbericht verwendet viele Seiten für die Beschreibung dreier unterschiedlicher Narrative über die Evolution europäischer Sicherheit seit 1990.

Während die sich diametral widersprechenden russischen und westlichen Perspektiven hinlänglich bekannt sind, ist der Einbezug einer dritten Sichtweise der Staaten im „Zwischeneuropa“ (Georgien, Ukraine, Moldawien) innovativ und bereichernd. Der Bericht erkennt damit an, dass heute kein Rückfall in die Bipolarität des Kalten Krieges droht und dass Lösungsansätze aus dieser Zeit zwingend an die neue Zeit angepasst und die Interessen der Staaten zwischen Russland und der EU berücksichtigen müssen. Von den konkreten Empfehlungen für die OSZE, wie ein Wiederbeleben der schwer beschädigten kooperativen Sicherheit erfolgen könnte, überzeugen vor allem die Vorschläge im Rüstungskontrollbereich. Allerdings hat Russland wiederholt klar gemacht, dass bis 2020 die Modernisierung seiner Streitkräfte Priorität und es deshalb in den nächsten Jahren kein Interesse an Rüstungskontrolle hat. Jenseits der innovativen dritten „Zwischeneuropa“-Narrative und der Rüstungskontrolle bleibt der Bericht weitgehend vage und enthält kaum neue Ideen.

Erschienen in: SEF Global Governance Spotlight 1/2016, Stiftung Entwicklung und Frieden, http://konfliktbearbeitung.net/sites/default/files/ggs_2016-01_de.pdf Der Beitrag wurde von der Redaktion gekürzt.

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