Erich Fried – ein unbequemer Dichter

von Wolfgang Popp

Erich Fried, vor 90 Jahren (1921) in Wien geboren, war und ist einer der bedeutendsten Autoren, die der politischen Lyrik im Nachkriegsdeutschland zum Durchbruch verhalfen. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das faschistische Deutschland gelang dem verfolgten Juden als 17-Jährigem die Flucht nach London, wo er bis zu seinem Tod 1988 lebte. Er verstand sich zeitlebens als ein Schriftsteller, der gegen Faschismus, Rassismus, Unterdrückung und Vertreibung unschuldiger Menschen anschreibt. Er veröffentlichte, neben einigen Prosatexten, allein 37 Gedichtbände, deren zentrale Themen die Kritik am Vietnamkrieg, an der Palästinapolitik Israels und an den deutschen Zuständen der Adenauerzeit sind. Er trat bei unzähligen Friedens- und Protestveranstaltungen auf und geriet dadurch in den Ruf eines Unruhestifters und Störenfrieds.

Vietnam
Die Gedichtsammlung „und Vietnam und“  (1966) eröffnet er mit seinem wohl bekanntesten Gedicht  „Gründe“. Er zitiert landläufige, fadenscheinige „Gründe“, für das Augenschließen, die Distanzierung von politischem Handeln gegen den Vietnamkrieg, und stellt fest:

„Das sind Todesursachen/ zu schreiben auf unsere Gräber/ die nicht mehr/gegraben werden/ wenn das die Ursachen sind. (1)

Mit der Aussage, dass unsere Gräber nicht mehr gegraben werden, wenn unser Untätigsein die Ursache für das kriegerische Geschehen ist, geht Fried über die Beschreibung der nachweislichen Folgen des Vietnamkrieges hinaus und verweist auf die Tatsache, dass Krieg die gesamte Menschheit ausrotten kann. In diesem Sinne zielen die einzelnen Gedichte dieser Sammlung immer einerseits auf die Kritik des tatsächlich in Vietnam Geschehenden und andererseits auf dessen symbolischen, allgemein gültigen Charakter.

In dem Gedicht: „Was alles heißt“ entlarvt er im Vietnamkrieg von den US-Amerikanern verwendete Ausdrücke in ihrer Menschenverachtung. Und er charakterisiert zugleich die in allen Kriegen verwendeten häufig verharmlosenden oder verschleiernden Bezeichnungen von tödlichen und barbarischen Vorgängen:

„Bündel/ heißt eine Leiche/ in einer geflochtenen Matte// Ernte/ heißt eine Reihe von Bündeln/ in einem Feld…Befriedung eines Dorfes/ heißt nicht nur daß man/ verdächtige und denunzierte Bauern enthauptet/ Befriedung heißt auch/ daß man ihnen die Leber/ herausschneidet und in die Luft wirft/ Die Leber ist Sitz des Mutes.“ (2)

In dem Gedicht „Verhinderter Liebesdienst“ kritisiert er  eine Strategie, die auch in anderen bis heute aktuellen Kriegen immer wieder eingesetzt wird, bei der Bundeswehr neuerdings verharmlosend als „zivil-militärische Zusammenarbeit“ bezeichnet:

„Man griff nicht wahllos an/ man versuchte sogar/ vor dem Abwurf von Napalm und Bomben/ auf feindverseuchtes Gebiet/ Helfer zu schicken/ um kleine und größere Kinder/ herauszuholen/  In die Stadt und in Sicherheit…// Doch dieser Liebesdienst/ musste eingestellt werden/ weil die verhetzten Bauern/ die Kindereintreiber erschlugen/ und ihren eigenen Kindern/ nicht Leben und Sicherheit gönnten// So blieb den Bombenfliegern/ zuletzt keine Wahl. (3)

Peter Rühmkorf bringt die politische Bedeutung der Vietnam-Gedichte auf den Nenner: „Wo die Welt des Günter Grass ihre Grenzen hat …, beginnt die Wahrnehmungszone der Gedichte von Erich Fried…Hier, möchte man sagen, kann das … Landeskind zum zweiten Mal das Lesen lernen. Hier bekommt auch die Frage, was von Gedichten praktisch zu halten sei und was man mit ihnen anfangen könne, einen sehr plausiblen Sinn; weil sich jedes dieser Gedichte auf seine Art als Dechiffriergerät verwenden lässt, geeignet, herrschende Einwirkungsverfahren nachhaltig zu durchleuchten und mithin ein Stück verstellten Daseins zur Kenntlichkeit zu entwickeln.“ (4)

Israel
Die Gedichtsammlung Höre Israel (1972) löste in Israel und auch in der Bundesrepublik heftige Diskussionen aus, in denen Fried vor allem vorgeworfen wurde, sich als Jude nicht zum Staat Israel zu bekennen, jüdischen Selbsthass zu pflegen oder gar einem verborgenen Antisemitismus anzuhängen. In der Einleitung setzt er sich ausführlicher mit den Vorwürfen auseinander: „Seit dem Judenmord des Hitlerfaschismus hat in Westeuropa ein begreifliches kollektives Schuldgefühl oft dazu geführt, dass man sich jede Kritik an Juden verbietet, wobei man noch dazu Juden und Zionisten meist kurzerhand gleichsetzt. Ich aber empfinde außer Solidarität mit allen unschuldig Verfolgten und Benachteiligten auch etwas wie Mitverantwortlichkeit für das, was Juden in Israel den Palästinensern und anderen Arabern tun; auch für das, was sie in aller Stille jenen Juden antun, die dagegen kämpfen und protestieren … Mein Wirkungsbereich ist durch meine deutsche Muttersprache bestimmt, aber das Schicksal der Juden ist mir keineswegs gleichgültig. Ich hoffe sogar, auch ohne jüdisches Volksbewusstsein oder israelisches Nationalgefühl, sozusagen nebenher, ein besserer Jude zu sein als jene Chauvinisten und Zionisten, die, was immer ihre Absicht sein mag, in Wirklichkeit ihr Volk immer tiefer in eine Lage hineintreiben, die schließlich zu einer Katastrophe für die Juden im heutigen Israel führen könnte. Auch dagegen möchten – durch Warnung vor dem Irrweg und durch allerlei Informationen – diese Gedichte kämpfen.“ (5)

Die Irrwege spricht er dann im Gedicht Höre Israel sehr konkret an:

„…ich spreche als einer von euch/ der auch Irrwege kennt// In den Gaskammern und in den Öfen/ wo eure Familien vergingen/ wurden auch meine Verwandten/ vergast und verbrannt// Seither kämpfe ich gegen das/ was dahin geführt hat/ gegen die Mächte/ die Hitler zur Macht verhalfen// Sie sind noch nicht verschwunden/ von dieser Erde/ und was tut ihr?/...Ich wollte nicht/ daß ihr im Meer ertrinkt/ aber auch nicht dass andere durch euch/ in der Wüste verdursten// Als ihr verfolgt wurdet/ war ich einer von euch/ Wie kann ich das bleiben/ Wenn ihr Verfolger seid? (6)

Seine Klage über Israels Politik gipfelt vielleicht im Gedicht Eure Toten. Er wirft Israel seinen manipulativen Umgang  mit dem Holocaust vor und setzt die Opfer des Holocaust mit den palästinensischen Opfern der israelischen Politik gleich: ein Tabubruch sondergleichen, der ihm aggressive Reaktionen sowohl aus Israel als auch aus jüdischen Organisationen und Gruppierungen in aller Welt einbringt: Aus der Sicht der Palästinenser spricht er die Juden Israels an:

„…eure toten Eltern und Großeltern/ eure toten Brüder und Schwestern/ auf die ihr euch immer beruft/ eure Toten die euer Trumpf sind/ eure Toten für die ihr euch Geld bezahlen laßt/ als Wiedergutmachung/ sie sind nicht mehr eure Toten/ Ihr habt eure Toten verloren/ denn eure Toten/ das waren die Opfer der Mörder/ die Gerechten die Unterdrückten…Jetzt aber seid ihr Machtanbeter und Mörder geworden/ und werft Bomben auf eure Opfer wenn sie sich wehren/ Ihr vertreibt die Machtlosen aus ihren niederen Hütten/ Ihr kommt rasselnd in rasenden Panzern/ Ihr laßt das Sprühgift/ aus euren Flugzeugen regnen/ nieder auf unsere Felder/ und euer Napalm auf unsere Frauen und Kinder…Eure Toten sind nun zu Gast bei unseren Toten. (7)

Deutschland
Die Gedichtsammlung So kam ich unter die Deutschen (1977) bezieht sich auf einen Satz des romantischen Dichters Friedrich Hölderlin, in dem er seine Enttäuschung über die damaligen Zustände formuliert. Fried schreibt im Vorwort: „Nicht Deutschenhass hat Hölderlins Feder geführt, aber sein Kummer über sorglich gehütete Unfreiheit, über unmenschliche Verhaltensweisen und Zustände, der ihn veranlasste, sein geliebtes Land so bitter anzuklagen, … ist vielleicht nicht ganz unähnlich meinen Empfindungen, die mich dazu brachten, diese Gedichte zu schreiben.“ Und er fährt fort: „Aber ich kann nie aufhören, an die Menschen zu denken, die in diesen letzten zwei Jahrzehnten an der deutschen Demokratie verzweifelten und die unter Polizistenkugeln oder hinter Kerkermauern an den deutschen Verhältnissen gestorben sind oder jetzt langsam sterben. Ich kann nie aufhören, an die Menschen in Deutschland und in aller Welt zu denken, die jetzt anfangen, die Entwicklung dieses Staates, in dem man sagt ‚Wir sind wieder wer’ mit wachsender Angst zu sehen, Angst um Leben und Freiheit der Menschen in Deutschland, aber auch Angst vor dem, was dieser Staat vielleicht eines Tages Menschen in anderen Ländern antun könnte, nicht nur in Europa, über das er wieder einmal die Vorherrschaft anstrebt.“ (8) Sätze aus dem Jahr 1977, die heute so schrecklich gültig sind wie damals.

So geht Fried z.B. der Frage nach, wieso es so wenig Protest gegenüber der offensichtlichen politischen Gewalt im Staat gibt. Im Gedicht „Angst“ thematisiert er die Angst vieler davor, gegen die Polizeigewalt zu protestieren  als gespaltenes Verhalten von unsicheren Befürwortern und verunsicherten Gegnern:

„Man muss Angst haben/ dass die Angst/ der einen/ schon heut dazu beiträgt/ dass die anderen/ noch mehr Gründe haben/ zur Angst. (9)

Im Gedicht Rechtfertigung schließlich bringt Fried die Zustände im Deutschland der 60er/70er Jahre noch einmal auf einen zynischen Nenner,  indem er mit dem Gegensatz „Volk der Dichter und Denker“ versus „Volk der Richter und Henker“ spielt und zu dem satirischen Schluss kommt:

„Aber die Henker/ wenn man sie Henker nennt/ werden nachweisen/ daß es sie gar nicht gibt// denn es gibt keine Todesstrafe/ sondern es gibt nur/ Pflichterfüllung/ durch aufopfernde Beamte/ und hartes Durchgreifen/ und Notwehr/ und Sicherung/ und Vorbeugung durch den/ gezielten Gebrauch der Waffe“. (10)

Erich Fried – ein unbequemer Dichter, dessen Gedichte nach wie vor gültiger Ausdruck der Hoffnung auf Frieden, Ende der Unterdrückung und auf Gerechtigkeit in der Welt sind!  

 

Anmerkungen
1) Erich Fried: und Vietnam und, Berlin 1966, S. 11

2) ebd. S. 14

3) ebd. S. 18

4) Gerhard Lampe: „Ich will mich erinnern an alles, was man vergißt“ Erich Fried, Biographie und Werk. Köln 1989, S. 127

5) Erich Fried: Höre Israel. Gedichte gegen das Unrecht. Neu Isenburg 2001, S. 12

6) ebd. S. 65

7) ebd. S. 138

8) Erich Fried. So kam ich unter die Deutschen.  Hamburg 1977, S. 27

9) ebd. S. 41

10) ebd. S. 87

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Prof. em. Dr. Wolfgang Popp, Literaturwissenschaftler im Ruhestand, vertritt das Forschungs- und Lehrgebiet Friedenserziehung an der Universität Siegen.