Belgrad im Februar 2000

"Es ist schwer, im Krieg anständig zu bleiben"

von Jan Brauns
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Im Februar 2000 fuhren wir vom DFG-VK Bildungswerk NRW nach Belgrad, um Menschen aus Friedensgruppen zu treffen und über deren Leben, Alltag und Arbeit zu sprechen. Im August 1999, kurz nach dem Ende der Bombardierungen, war ich das letzte Mal dort gewesen. Wie würde es nun, im Winter, sein? Welche Ausmaße würde das Leid angesichts der Zerstörung von Infrastruktur, Nahrungsmittelproduktion und Arbeitsstätten nun haben? Und über mögliche Kooperationen wollten wir sprechen.

Freitag, 04.02.2000
Wir flogen nach Budapest, da aufgrund des Embargos der Direktflug nach Belgrad noch nicht möglich war. Mit einem Mini-Bus ging es weiter Richtung Jugoslwien. Im Dunkeln erkennen wir knapp die Donau während der Überquerung der wiederhergestellten Autobahnbrücke bei Novi Sad. Der Lichtschein Belgrads kommt auf uns zu. Am Straßenrand immer wieder Verkäufer, die Kanister oder Flaschen mit Benzin mit einer Taschenlampe anleuchten.

Unser Gastgeber kommt geradevom Internationalen Kinofestival heim. Der Arzt Vuk Stambolovic ist in der IPPNW-Gruppe aktiv. Früher eine Abteilung der offiziellen Ärzte-Vereinigung, wollen sie sich nun als Organisation registrieren lassen, um unabhängig agieren zu können. Sie engagieren sich für Flüchtlinge, für Alte, für Roma, für die Arbeit an psychologischen und psychiatrischen Folgen der Kriege und für gesellschaftliche und politische Aspekte der Medizin.

Samstag, 05.02.2000
In seiner zynischen Artmeint Vuk nach dem Frühstück: Nicht die Bomben der NATO, sondern Milosevic hätte das Land seit langem ruiniert. Durch die Bomben hätten mehr Leute in Serbien die Chance erhalten, aus ihrem Nichtwissenwollen aufzuwachen. So dächten denn auch manche, dass der Krieg 1999 und nicht acht Jahre zuvor begonnen hätte.

Wir machen uns auf zu einem ersten Gang durch die Stadt. Die "Nemanjina" hinunter zur "Kneza Milosa", wo an allen vier Ecken der Kreuzung Ruinen stehen. Der riesige Neubau von Verteidigungsministerium und Generalstab steht als Betonskelett. Die historischen Gebäude von Parlament und Regierung werden bereits restauriert; das Gerüst an einem wird gerade abgebaut. Davor eine überdimensionale Reklametafel "Sony 2000" mit dem Bild einer hypermodernen Stadt. Wir gehen weiter zum Bahnhof und zum zentralen Busbahnhof; dichtes Gedränge herrscht hier; zwischen dem Kommen und Gehen einige wenige sehr, sehr ärmliche Bettler. Von der Stari Savski Most,der Alten Sava-Brücke, machen wir Fotos über die Stadt und scherzen, dass die hinüberfahrenden Straßenbahnen die Brücke sicher in ebenso bedrohliche Schwingungen versetzen wie in der Nähe einschlagende Bomben. Den Berg hoch zur Innenstadt Stari Grad kommen wir über einen drängend vollen Wochenmarkt. Obst, Gemüse, Südfrüchte, Fleisch zu etwa dem halben deutschen Preis - bei im Schnitt 100,- DM Monatslohn oder Rente. In der Fußgängerzone mit ihren Westwarengeschäften ist an diesem sonnigwarmen Samstagmittag dasselbe Gedränge wie im letzen Sommer. Wie wohl in jedem Sommer. Vor dem Café, in dem wir kurz einkehren, ist einer der vielen fliegenden Stände. Ein Ensemble fotografieren wir: Rasta-Strickmütze + Milosevic-Biografie + Porno-Zeitschrift + Oppositionszeitschrift VREME. Wir essen ein Sandvic und stellen schnell fest, dass ein lokales Pljeskavica-Brötchen sicher schmackhafter und sättigender gewesen wäre. Überall in der Fußgängerzone kleine und kleinste Stände, an denen Bücher, Zeitschriften, Postkarten, Blümchen oder Kleinigkeiten aus eigenem Anbau verkauft werden. Auffallend viele der VerkäuferInnen lesen dicke Bücher.

Um 15 Uhr treffen wir die Gruppe ZDRAVO DA STE - HALLO NACHBAR in deren Büro in der Altstadt. Neben psychologischen Gruppenworkshops zur Traumabewältigung leisten die über 200 ehrenamtlichen MitarbeiterInnen konkrete alltägliche und soziale Hilfe in unzähligen Gruppenunterkünften in 18 Städten; jüngste Projekte helfen mit Krediten oder Zuschüssen dabei, Flüchtlingen die Selbständigkeit oder Selbstversorgung zu ermöglichen. Zdravo da ste ist als unabhängige NGO staatlich registriert.

Wir erzählen von unserer Antikriegsarbeit, von politischer Öffentlichkeitsarbeit und von Aktionen in Deutschland. Sie schätzen diese Arbeit und den Kontakt zu Gruppen wie uns. Sie denken, dass unser Ansatz wichtig ist, - auch wenn sie für sich einen anderen gewählt haben.

Als wir unsere Ideeeiner Studienreise nach Belgrad im Mai 2000 vorstellen, überlegen sie, was sie davon haben könnten: Abbau von Vorurteilen und Feindbilder ist auf beiden Seiten nötig. Vielleicht könnte ein von beiden Seiten zu diesem Thema gestalteter Workshop integriert werden.

Wir sprachen über die soziale und politische Situation im Land: Die Zerstörungen der Infrastruktur, der Industrie und der Lebensmittelproduktion ließen schon im Sommer absehen, dass es besonders im Winter hart werdenwürde. Als im Januar die Temperaturen über eine Woche lang weit unter Null lagen, gab es immer wieder längere Stromausfälle. Zwar arbeiten wohl einige der Heizkraftwerke wieder - augenscheinlich für uns z.B. in Novi Beograd oder Novi Sad -aber viele heizten mit Strom; und der sei knapp, obwohl die Industrie ja kaum welchen verbrauche, besser gesagt verbrauchen könne. Brot und Milch seien über Tage gar nicht zu bekommen. Die Ernte habe nicht eingefahren werden können, der Viehbestand sei dezimiert, die Verarbeitung behindert. Alles wird beständig teurer; aber das kennen sie seit 10 Jahren.

Am schwersten hätten es die Flüchtlinge in den Gemeinschaftsunterkünften. Strom, Heizung und Wasserversorgung seien miserabel. Die etwa 500.000 Kosovo-Flüchtlinge wären zudem von einigen Hilfsprogrammen ausgeschlossen, weil sie "nur" als IDP - Internal Displaced Persons gälten. Offiziell gehöre das Kosovo ja weiter zu Jugoslawien, auch wenn es faktisch keine Rückkehr geben wird.

An den Spielen der Kinder wäre zu sehen, wie sehr die Bombardierung sie immer noch beschäftige. Cruise Missiles, Tomahawk Raketen und Bunker kämen darin immer wieder und regelmäßig vor. Die materiellen Kriegsschäden und die sozialen und psychischen Kriegsfolgen wären ständig präsent. In Schulen würden z.T. Programme und Workshops zur Aufarbeitung angeboten; Zdravo da ste leistet hier Hilfestellungen.

Sonntag, 06.02.2000
Wir besuchen ZENE U CRNOM - FRAUENIN SCHWARZ. Zwei Frauen aus Nish berichten, dass die Stadt im Süden Serbiens während des NATO-Angriffs täglich bombardiert wurde. Sie sei eine der am stärksten betroffenen Städte. Das Hauptquartier der Armee sei damals von Belgrad dorthin verlegt gewesen - sicher ein Grund für die Stärke der Einsätze. Heute sei die Versorgung mit allem zum Leben Nötigen sehr schlecht - viel schlechter als in der Hauptstadt Belgrad. Nish ist - wie die meisten größeren Städte im Land - von derOpposition regiert. Als im Herbst die EU im Rahmen ihres Ansatzes "Energie für Demokratie" Öl dorthin liefern wollte und es zu längerem Streit zwischen der EU und Jugoslawien darüber kam, gab es just in dieser Zeit kein Öl in Nish, sodass die Fernheizung nicht funktionierte; davor und danach gab es solche Probleme nie.

Sorgen macht allen die Situation in Montenegro. Die Abspaltungstendenzen und Schritte wie die Einführung der D-Mark als Zahlungsmittel würden von Belgrad äußerst kritisch beäugt. Inzwischen würden alle Transporte zwischen Serbien und Montenegro an der offiziell nicht existierenden Grenze kontrolliert. Es sei müßig zu spekulieren, wie die Abspaltung von statten ginge: im Einvernehmen, mit Krieg oder Bürgerkrieg, mit erneuter Bombardierung seitens der NATO - alles sei möglich.

Montag, 07.02.2000
Wir treffen uns dann vormittags mit YUCOM - KOMITEE JUGOSLAWISCHER ANWÄLTE FÜR MENSCHENRECHTE. Die Gruppe arbeitet in AGs zu den Themen "Frauen und Menschenrechte", "Folter" und "Kriegsdienstverweigerung" und gibt uns einige ihrer bislang veröffentlichten Broschüren mit.

Sehr am Herzen liegt YUCOM zur Zeit die Situation der SerbInnen im Kosovo. Nachdem man sich über Jahre für die Rechte der AlbanerInnen engagiert habe, müsse man nun leider gegen die Verfolgung und Unterdrückung der anderen Seite einstehen.

YUCOM arbeitet im Lande selber mit Seminaren, runden Tischen und ExpertInnengesprächen. Sie organisieren konkrete rechtliche Hilfe für Betroffene und Verfolgte. Sie machen Öffentlichkeitsarbeit in oppositionellen Zeitschriften und Medien. Die Gruppe tritt an uns mit mehreren Projekten heran:
 

  • Informations- und Soliarbeit für die 300 - 500.000ins Ausland geflüchteten Deserteure.
  • Übersetzung der YUCOM-Broschüre zur Kriegsdienstverweigerung ins Englische.
     

Wir schlugen vor, über die Rundreise eines YUCOM-Vertreters nach Deutschland nachzudenken.

Später treffen wir einen Mann ausKraljevo, der von Gerüchten berichtet, dass die Armee nach Kosovo zurückgehen werde. Verstärkte Einberufungen sollen damit im Zusammenhang stehen. Aber dies ist wohl eher Durchhaltepropaganda als Realität. Er selber, erzählt er, sei letztes Jahr als Sanitäter eingesetzt gewesen. Er redet über grausame Verletzungen, die er sah und behandelte; - dabei lacht er viel und hysterisch - beschreibt dabei sehr genau immer neue Verletzungen. Wir redeten darüber, dass im Krieg das Normale unnormal, das Grausame normal würde; und wie schwer und wichtig es sei, nach dem Krieg die alten Maßstäbe wieder zu erlangen. Er sagt, er habe später tagelang geweint, als er dann nach dem Krieg zu sich gekommen sei. Im Krieg anständig zu bleiben sei schwer und gelänge nur wenigen. So habe er sich geweigert, Erschossene mit Benzin zu übergießen und zu verbrennen; aber sofort war einer zur Stelle, der es tat.

Dienstag, 08.02.2000
Morgens verabschieden wir uns von unseremGastgeber. Im Mai kommen wir wieder, sagen wir ihm und allen beim Abschied; und alle antworten, dass sie uns gerne erwarten.
 

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Krisen und Kriege
Jan Brauns ist Mitarbeiter des DFG-VK Bildungswerks NRW e.V., Dortmund.