Neuer Ost-West-Konflikt?

Eskalation im „Baltikum“ friedenslogisch begegnen

von Hanne-Margret Birckenbach

Die Konflikte zwischen den baltischen Staaten, EU und NATO einerseits und Russland andererseits haben eine lange Geschichte. Sie handelt von jahrzehntelangen Gewalterfahrungen, von der Auflösung der Sowjetunion und dem Übergang der baltischen Staaten in den Westen, von Energieversorgung, Staatsbürgerschafts- und Sprachpolitik, von Verarmung und sozialen Spaltungen. Einige Streitpunkte spielen auch im Fall des Ukrainekonfliktes eine Rolle. Grundlegend anders ist, dass die baltischen Staaten Mitglied der EU und der NATO und dass deren Mitglieder zum Beistand verpflichtet sind. Diese Tatsache hat nicht bewirkt, dass die baltischen Staaten sich weniger bedroht sehen. Die Konfliktintensität schwankt, hat aber im Zuge der Militärintervention Russlands in der Ukraine und der darauf folgenden westlichen Sanktionspolitik zugenommen. So stehen sich heute auf beiden Seiten Militärformationen gegenüber, ohne dass verifizierbare Vereinbarungen, Transparenz der Manöver oder ein nennenswerter persönlicher Austausch die Aufrüstung der Region hemmen.

Die Konfliktanalyse ist strittig.

  • Die baltischen Staaten sehen sich in der Defensive gegen ein seit jeher übermächtiges Russland, das die russischsprachige Bevölkerung mobilisieren, irreguläre Kräfte einsickern lassen und mit einer Intervention regulärer Truppen drohen kann. Sie haben auch eine tiefe Skepsis gegenüber einer deutsch-russischen Kooperation, halten Frieden mit Russland für unmöglich und verlangen Sicherheitsgarantien vor Russland.
  • Russland sieht sich in der Defensive gegen jede weitere Ausweitung von NATO-Aktivitäten an seiner Westgrenze und die Aushöhlung von Absprachen. Es zeigt sich entschlossen, nichts mehr hinzunehmen, was im eigenen Land als Demütigung und Verletzung seiner Interessen wahrgenommen werden kann.
  • Die NATO- und EU-Staaten sehen sich unter dem Druck, das Völkerrecht und Prinzipien europäischer Sicherheit zu verteidigen, sowie den baltischen Staaten Schutz vor russischen Übergriffen zu versprechen, unabhängig davon, für wie wahrscheinlich sie territoriale Übergriffe halten und wie sie die Möglichkeiten bewerten, Übergriffe militärisch abzuwehren. Sie nutzen Militärübungen, um Einigkeit zu demonstrieren. Ihr direktes Interesse an einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Region ist nachrangig.

Die Parteien haben einiges gemeinsam: Alle rüsten weiter auf, halten die eigene Sicht für zutreffend, die der anderen Seite nicht und erwarten Parteilichkeit zu ihren Gunsten. Alle sehen sich als Opfer, in der Defensive und zur Aufrüstung gezwungen. Alle setzen auf die gleiche Strategie der Abschreckung. Alle fürchten die jeweils andere Seite mehr als sich selbst und ignorieren die Warnungen vor einer unbeabsichtigten Eskalation. Sie erwarten von den eigenen Rüstungs- und Militäraktivitäten einen Sicherheits- und Stabilitätsgewinn und gehen davon aus, die davon ausgelöste Dynamik kontrollieren zu können. Der Glaube an Alternativlosigkeit bedient vor allem die Interessen von Militär und Rüstungsindustrie, lähmt außenpolitische Initiativen, beherrscht die Gedanken- und Gefühlswelt der öffentlichen Meinung und ist längst pathologisch. Dieter Senghaas hat mit dem Begriff „organisierte Friedlosigkeit“ darauf hingewiesen, wie schwer es selbst friedensorientierten Kräften fällt, Auswege zu denken.

Schritte zur Deeskalation: Gewaltprävention ernst nehmen
Deeskalation ist unwahrscheinlich, solange sich jede Partei im Recht sieht und erwartet, die andere möge diese Sicht übernehmen und ihren Irrtum einsehen. Perspektiven werden erst dann erkennbar, wenn die Parteien den Blick auf sich selbst lenken, die eigenen, teils autistischen Anteile an der Konfliktdynamik ins Blickfeld rücken und wenn sie kommunizieren, wie sie diese einzuhegen gedenken. Das gilt für Russland, die baltischen Staaten und den Westen gleichermaßen. Russland könnte sich fragen, warum einige seiner Nachbarn bereit sind, die Beziehungen zu kappen, um NATO- und EU-Mitglieder zu werden. Estland und Lettland könnten sich fragen, warum Russland die russischsprachige Minderheit instrumentalisieren kann. Die NATO-Staaten könnten sich fragen, wie sie mit dem Duktus der Überlegenheit, mit Selbstüberschätzung, Arroganz und Unkenntnis dazu beigetragen haben, dass Russland aus der „Europäischen Sicherheitsordnung“ ausgebrochen ist.

Deutschland hat einen großen Vorteil. Eine militärische Gefahr für seine eigene Existenz besteht nur dann, wenn es die Verpflichtung zur Solidarität mit den baltischen Staaten nicht anders als militärisch und in Gegnerschaft zu Russland wahrzunehmen weiß, und wenn Deeskalation misslingt.

1. Sich zu erkennen geben: Krieg aus Versehen kann man durch Kommunikation vorbeugen. Flugmanöver ohne eingeschaltete Transponder, die Position und Kennung übermitteln, können sofort, einseitig und ohne Risiko beendet werden. Deutschland kann seine weitere Beteiligung an Flugmanövern mit der Botschaft verknüpfen, dass es erkannt werden will. Es würde damit signalisieren, dass es eine Deeskalation wünscht, die niemandem schadet. Selbst wenn Russland diese Botschaft nicht erwidert, wäre das Risiko gemindert.

2. Zeichen durch Selbstbeschränkung setzen: Risikomindernd wäre es, Militärmanöver auf Übungen mit Defensivwaffen zu beschränken und auf Ziviles Peacekeeping zu setzten. Akut hält Deutschland zu letzterem aber keine Kapazitäten bereit. Möglich wäre es aber, die Diskussion der  1990er Jahre über Defensivverteidigung wieder zu beleben, mit dem Aufbau von Kapazitäten für Ziviles Peacekeeping zu beginnen und auf diese Weise Deeskalationsmöglichkeiten sichtbar zu machen.

3. Den Blick auf die Menschen richten: Gewaltbereitschaft lässt sich einhegen, wenn man aufhört, die Ost-West-Grenzen in Nordosteuropa als Strich auf der Landkarte zu denken und bewusst macht: Es ist ein Sozialraum, in dem Menschen leben. Oft haben sie Angehörige auf der jeweils anderen Seite. Die Militarisierung macht sie zu Gefangenen einer Politik, auf die sie keinen Einfluss haben. Fluglärm, die Vertiefung der ethnopolitischen und sozialen Spaltungen und eine gigantische Fehlleitung von Ressourcen belasten die Lebenswirklichkeit. In Litauen und Lettland stiegen die Verteidigungsausgaben 2016 um 36 % bzw. 42 %. Estland hat 2016 mit 2,2 % des BIP die in der NATO geforderten 2% übertroffen. Grenzregionen veröden. Investitionen bleiben aus. Verkehrsverbindungen wie die zwischen Tallinn und St. Petersburg sind unterbrochen, Fabrikhallen in Narva stehen leer, junge Leute wandern ab. Zurück bleiben enttäuschte Menschen, die auf die Zeit in der Sowjetunion nostalgisch zurückblicken.

4. Auswege aus der Angst öffnen: Das Wohlergehen der BürgerInnen auf der russischen Seite ist in Deutschland kein Thema. Hier zählt allein die Angst baltischer BürgerInnen vor Russland. Diese Angst dominiert das nationale Selbstverständnis in den baltischen Staaten. Sie kann sich auf gewaltige Unrechtserfahrungen unter sowjetischer Herrschaft stützen und bewirkt, dass die Mehrheit der wahlberechtigten BürgerInnen die Militarisierung unterstützt. Die Angst ist chronisch, das heißt, sie existiert unabhängig von einer tatsächlichen Gefahr. Die russische Politik kann ebenfalls auf ein prägendes Narrativ, die chronische Einkreisungsangst, setzen. Friedenspolitik muss chronische Angst ernstnehmen, darf allerdings nicht dazu beitragen, sie zu schüren oder gar zu instrumentalisieren. Vielmehr geht es darum, Auswege aus Angst und politischer Angstverwertung zu suchen sowie die Artikulation von Bedürfnisse und Interessen zu ermöglichen. Gelegenheiten zu schaffen, bei denen Menschen einander begegnen und miteinander reden, ist dabei das A&O.

5. Entkopplung vom Ukraine-Konflikt: Die deutsche Außenpolitik betrachtet den Ukrainekonflikt als vorrangig. Sie hofft, Russland durch die Kombination von Druck und Dialogbereitschaft in diesem eskalierten Konflikt zu Veränderungen zu bewegen, die in der Folge auch eine Entspannung an der russisch-baltischen Grenze nach sich ziehen würden. Solange im Ukrainekonflikt keine grundsätzlichen Fortschritte erzielt werden, ist Deeskalation an der baltisch-russischen Grenze blockiert. Aus friedenlogischer Sicht gilt es demgegenüber die Möglichkeit zu prüfen, ob und wie in den baltisch-russischen Grenzregionen eine Trendwende erreichbar ist, die dann auch Teil der Lösung des Ukraine-Konfliktes werden kann.

Einen friedenspolitischen Rahmen für konstruktive Konfliktbearbeitung schaffen
Die baltischen Grenzregionen galten in den 1990er Jahren als beispielhaft für die Erfolgsaussichten präventiver Diplomatie. Mit ihrer Mitgliedschaft in der EU und in der NATO sind diese Bemühungen gegen das Interesse Russlands auf Drängen Estlands und Lettlands eingestellt worden, die darin eine unberechtigte Einmischung sahen. Für neue Ansätze zur Rüstungskontrolle und konstruktiver Konfliktbearbeitung in den baltisch-russischen Regionen fehlt heute ein glaubwürdiger friedenspolitischer Rahmen.

6. Bewährtes fehlerfreundlich begutachten und zeitgemäß korrigieren: Der politische Wille zur Deeskalation und Konfliktbearbeitung kann an Methoden anknüpfen, die einmal funktioniert haben, muss sie aber an die veränderte Akteurskonstellation anpassen. Die Blöcke sind zerfallen, die Blockfreien haben ihre Vermittlungsrolle und die USA ihr Interesse an Europa verloren. Die Absicht, zur alten OSZE zurückzukehren, greift auch deshalb zu kurz, weil die vereinbarten Regeln und Mechanismen sich als nicht ausreichend erwiesen haben. Das zeigt nicht allein die gewalttätige Intervention Russlands in die Ukraine, sondern beispielsweise auch die Weigerung der baltischen Staaten, dem KSE-Vertrag beizutreten, die Staatsbürgerschaftskonflikte in Estland und Lettland zu lösen sowie die anhaltenden Bestrebungen zur Osterweiterung der Aktionsfelder von NATO und EU. Deutschland könnte eine Bestandsaufnahme veranlassen und im Dialog ermitteln, wo die Schwachstellen lagen und Korrekturen anschieben.

7. Versicherheitlichung zurückbauen: Der alte OSZE-Prozess war stets eine Angelegenheit zwischen den Hauptstädten, kannte keine Mechanismen zur regionalen und lokalen Verankerung grenzüberschreitender Kooperation und beachtete nicht, dass internationaler Konfliktbearbeitung auf pluralistisches, thematisch breit gefächertes und zivilgesellschaftliches Engagement angewiesen ist. Auch die OSZE erlag dem Trend, alle Politikfelder sicherheitspolitischen Erwägungen unterzuordnen und die Freiräume anderer Akteure einzuengen, unabhängig von Sicherheitsfragen friedenspolitisch zu agieren. Diese Einschränkung betrifft namentlich den Europarat, seinen Kongress der Gemeinden und Regionen sowie den Ostseerat. Deutschland könnte jetzt dazu beitragen, diese kooperativen Strukturen wieder  aufzuwerten und ihre Freiheitsräume zu erweitern.

8. Europäische Konfliktlinien neu wahrnehmen und anerkennen: Im Juni 2017 ist es der Bundesregierung nach zähem Ringen doch noch gelungen, friedenspolitische Leitlinien zu verabschieden. Darin verpflichtet sie sich, die Fähigkeiten zur Mediation auszubauen, sie finanziell und konzeptionell zu unterstützen, eine ressortübergreifende Strategie zur Vergangenheitsarbeit zu entwickeln sowie die Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Akteuren im Bereich der Friedensförderung zu intensivieren und zu erweitern. Das ist ein positives Versprechen – wenngleich bislang ohne Angaben über das Budget. Abgesehen vom Ukrainekonflikt bleibt allerdings der gesamte europäische Konfliktraum tabu. Dementgegen gilt es anzuerkennen, dass gerade an der russisch-baltischen Grenze eine neue Praxis Ziviler Konfliktbearbeitung notwendig ist, damit Solidarität mit und unter den Menschen friedensfördernd gelingen kann. Es geht um eine Verständigung über Tatsachen und die Möglichkeiten, legitime Interessen aller Parteien zu wahren, um die Erkundung der Lebenswirklichkeit an den EU- und NATO-Grenzen mit Russland und ergebnisoffene Formate zur Klärung und Entflechtung von Themenfeldern zu ermöglichen. Das sind vergleichsweise niedrigschwellige Aktivitäten, die durch eine neue Ausweitung zivilgesellschaftlicher Kontakte zwischen Städten, Vereinigungen und Friedensdiensten gefördert werden können.

9. Entpolarisieren und Verbindungen knüpfen: Angesichts des Misstrauens auf allen Seiten gilt es, Vertrauen in einen dialogischen Prozess zu schaffen, der gewährleistet, dass alle Seiten mit ihren Interessen gehört und dass ihre Interessen friedensverträglich aufeinander abgestimmt werden können. Mit dem Ausbau seiner Kapazitäten zur Unterstützung von Mediation geht Deutschland einen richtigen Weg. Generell gilt es aus der Forderungsrhetorik aus- und in einen Prozess der Interessenentwicklung einzusteigen. So ist die Forderung an Russland, seinen Nachbarn zu signalisieren, dass es auf Interventionen unter dem Vorwand, „Landsleute zu schützen“, verzichtet, richtig, aber unzureichend, solange Russland nicht darlegen kann, welche Unterstützung es braucht, um seine bisherige Position verändern zu können. Auch wenn es dazu bereit wäre, würde ihm nicht geglaubt. Folglich wäre ebenfalls zu erarbeiten, welche Unterstützung die baltischen Staaten brauchen, um ein solches „Signal“ aus Russland hören, anerkennen und es kooperativ beantworten zu können. Die vielfach abgegebene Erklärung einiger NATO-Staaten, dass sie am Ziel einer kooperativen Sicherheitsordnung mit Russland festhalten, braucht den offenen Austausch mit Russland, um zu erfahren, unter welchen Bedingungen es einer solchen Erklärung glauben kann und den Mut, kooperative Sicherheit konkret neu zu denken und sich bewähren zu lassen. Die baltisch-russische Grenze erstreckt sich über 917 km. Ein europäischer Friedensmarsch würde diesem Anliegen zumindest große Aufmerksamkeit verschaffen.

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