Kritische Anmerkungen

Lediglich eine Utopie?

von Christoph Neeb
Schwerpunkt
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„Sicherheit neu denken“ ist der Versuch, die Begriffe „Sicherheit“ und „Verantwortung“ politisch zurückzugewinnen für eine Friedenspolitik. Es gibt dazu eine grundlegende Erzählung, die hier als „Positivszenario“ bezeichnet wird, auf mich aber eher wie eine Utopie wirkt.

Utopien sind in der Regel von statischem Denken und, wenn es keine Dystopien sind, von Wunschdenken geprägt und sie problematisieren sehr wenig. All das finde ich in dem Text „Sicherheit neu denken“.

Es steht fraglos viel Richtiges in dem Text: die treffende Kritik an der gescheiterten und nur unzureichend evaluierten „militärgestützten Sicherheitspolitik“ (S. 6 f., S. 16 f.), die scheinbar erlösende Funktion von Gewalt (S. 105 f.), der Verweis auf die Untersuchung von Chenoweth und Stephan 2011, nach der gewaltfreier Widerstand doppelt so erfolgreich ist wie ein bewaffneter Aufstand (S. 19, 23 f., 76), die Unterscheidung von polizeilicher und militärischer Gewalt und die Kritik an der zunehmenden Vermischung beider (S. 50, 71, 108), die berechtigte Kritik an einem Denken, nach der Bedrohungen angeblich immer von außen kommen (S. 22, 58 f.).

Jedoch treffe ich vielfach zugleich auf Wunschdenken: fortbestehende Mitgliedschaft in der NATO bei gleichzeitiger kompletter Abrüstung (S. 65), die OSZE als alleiniges Sicherheitssystem in Europa, aber trotzdem besteht die NATO fort (S. 61), Plädoyer für ein Desertec 2.0 ohne ein Wort dazu, woran das erste Desertec gescheitert ist (S. 42, 45 f), die Verleihung eines „Zivil-Logos“ an Firmen, obwohl Rüstung lukrativer sein wird, als jedes Logo (S. 118), George W. Bush und Tony Blair vor Gericht, eine sehr kurze Beschreibung der möglichen Reaktionen auf Abrüstung und Rüstungskonversion, welche die Entschlossenheit der Befürworter der bisherigen „militärischen Sicherheitspolitik“ enorm unterschätzt.

Obwohl zukunftsgerichtet gemeint, sind Utopien häufig rückwärtsgewandt. Auch dies findet sich hier. „Sicherheit neu denken“ beschreibt eine Welt, die mehr an die 1980er oder 1990er Jahre erinnert, als Deutschland und Russland im weltweiten Vergleich wirtschaftlich und demografisch noch bedeutender waren als heute.

Es findet sich im gesamten Text „China“ nicht ein einziges Mal, „USA“ findet sich in dem Positivszenario sechs Mal, aber fast immer nur vergangenheitsbezogen, „Frankreich“ ebenfalls sechs Mal, „Russland“ 34 Mal. Es war jedoch vor zehn Jahren längst absehbar, dass vor allem die USA und China für die weitere Entwicklung entscheidend sein werden.

Den ganzen Text durchzieht eine Beschreibung Deutschlands, das agiert, fördert, zahlt. Der Gedanke, dass es vielleicht das Beste wäre, andere Länder einfach in Ruhe zu lassen, findet sich nur in Bezug auf die EU-Agrarsubventionen. Auch durchzieht den Text ein bemerkenswertes Vertrauen in die Wirksamkeit und Heilsamkeit staatlichen Handelns.

Es hat mich zudem bereits 2018 erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit hier vorausgesetzt wird, dass Deutschland auch in zehn oder zwanzig Jahren noch so dominant und wohlhabend sein wird, dass es Milliarden Euro im In- und Ausland wird einsetzen können. Dies wäre auch ohne Coronakrise nicht sicher.
Gerade jetzt, 2020, erleben wir wieder einmal, dass die Welt nicht statisch ist und Entwicklungen nicht linear verlaufen, sondern in plötzlichen dynamischen Entwicklungen, in Umbrüchen, in exponentiellen Verläufen.

Wir sind als Menschen nach wie vor nicht in der Lage, Dynamiken und exponentielle Verläufe intuitiv zu erfassen. Gerade jetzt im Zusammenhang mit Covid-19 hat dies wieder überall auf der Welt zu Fehlentscheidungen geführt. Die Entwicklungen, die zu der Welt von heute geführt haben, erscheinen uns als konsequent und wir vergessen, wie unerwartet und ungeheuerlich sie für die damaligen Menschen waren.

Die Szenariotechnik ist in der Regel ein Versuch, mit Hilfe von kreativem Denken und Vorstellungskraft das zunächst unerwartete gedanklich vorwegzunehmen, um dann Strategien zu entwickeln, wie man darauf reagieren könnte. Man gewinnt auf diese Weise Handlungsanweisungen, Problemlösungen in Bezug auf Klima, Pandemien, Wirtschaft, Hunger, Migration etc., ist von einer Utopie bzw. einem Idealzustand jedoch weit entfernt.

Der Text „Sicherheit neu denken“ zielt jedoch auf einen Idealzustand. Derartiges utopisches Denken entzieht sich mit Recht der Problematisierung und der Auseinandersetzung mit den Umbrüchen und Dynamiken der realen Welt. Ein solches Denken braucht die Szenariotechnik eigentlich nicht und auch keine Negativszenarien. So gewinnt man jedoch keine Handlungsanweisungen, jedenfalls keine, die vor der komplexen Realität Bestand haben, das zeigen uns die Probleme des Jahres 2020 wieder deutlich.

So sehe ich uns mit „Sicherheit neu denken“ in einem Dilemma: Realistische Szenarien bringen uns dem Idealzustand nur wenig näher, eine Beschreibung des Idealzustands lässt uns jedoch ohne tragfähige Handlungsanweisungen zurück.

All das Richtige, das dort steht, ist es wert, festgehalten und weiterentwickelt zu werden. Wir sollten uns jedoch auch mit den Warnungen von heute befassen.

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