Kolumbien kommt nicht zur Ruhe

Proteste in Kolumbien

von Michael Paetau

Wie ein Ende der seit mehr als zwei Monaten andauernden Unruhen aussehen könnte, wagt im Moment niemand in Kolumbien, vorherzusagen. Zwar waren die Gewerkschaften schon bereit, den von ihnen im April ausgerufenen Generalstreik zu beenden, nachdem Verhandlungen mit der Regierung erste Ergebnisse brachten. Aber dann zog sich die Regierung aus allen Gesprächen zurück, annullierte die bis dato erzielten Übereinkünfte und begann mit einer beispiellosen Militarisierung der Städte.

Dem Aufruf der Gewerkschaften zu einem „Paro Nacional“ hatten sich viele zivilgesellschaftliche Gruppen (Menschrechtsverteidiger*innen, Umweltaktivist*innen, Student*innen, Frauen-, und LGBTI-Gruppen sowie indigene und afrokolumbianische Gemeinden) angeschlossen. Der Protest richtete sich zunächst gegen einige von der Regierung geplante Gesetzesvorhaben, einer Steuerreform, einer Reform des Gesundheitssystems sowie einer Bildungsreform. All diese Reformen hatten ein gemeinsames Charakteristikum: die Erhöhung des privat zu entrichtenden Anteils für Leistungen, die ein Sozialstaat seinen Bürger*innen bieten sollte.

Die damit verbundene einseitige Belastung der ärmeren Bevölkerungsschichten zeigte sich besonders eklatant bei den Plänen zur Steuerreform. Eine Reform, die vor allem diejenigen Bereiche betrifft, denen sich – wie die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel – niemand entziehen kann, insbesondere nicht diejenigen, die nahezu ihr gesamtes Einkommen für Grundnahrungsmittel ausgeben müssen. Und diese Steuerreform sollte mitten in der Pandemie durchgesetzt werden, in einer Zeit also, in der großen Teilen der Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen entzogen worden war. Und auch die Gesundheitsreform sah eine verstärkte Selbstbeteiligung bei den von den Krankenkassen zu übernehmenden Krankheitskosten vor.

Der Friedensprozess
Eine weitere wichtige   Forderung der Protestierenden  an die Regierung Duque war, die Blockadehaltung bei der Umsetzung des 2016 vereinbarten Friedensprozesses aufzugeben. Das hoffnungsvolle und mit dem Nobelpreis geadelte Abkommen, das den Krieg zwischen der kolumbianischen Regierung und der seit einem halben Jahrhundert im Lande operierenden FARC-Guerilla beenden sollte, war unter der Regierung von Juan Manuel Santos,  des Vorgängers des gegenwärtig regierenden Präsidenten Iván Duque, unterzeichnet und von beiden Kammern des kolumbianischen Kongresses ratifiziert worden. In insgesamt 6 Abschnitten in einem fast 500 Seiten langen Dokument wurde nicht nur die Einstellung der Kampfhandlungen und die Wiedereingliederung der Ex-Kombattanten der FARC in die zivile Gesellschaft vereinbart, sondern gleichzeitig eine Reihe wichtiger Reformvorhaben. Darunter eine Landreform, die landlosen Bauern Zugang zu Land erleichtern und Vertriebenen die Rückkehr zu ihrem während des Gewaltkonfliktes geraubten Landes ermöglichen soll. Außerdem sollte ein effizienter Schutz der 59 einzigartigen Nationalparks und Biosphären-Reservate Kolumbiens gegen legale oder illegale Zerstörung durch extraktivistische Ausbeutung von Bodenschätzen (Kohle, Erdgas, Erdöl, Gold, Nickel, Smaragde u.a.m.) geschaffen werden.

Ein wichtiger Abschnitt des Friedensvertrages betrifft die politische Partizipation der Bürger*innen. Die bereits in der Verfassung garantierten Rechte für jegliche oppositionelle politische Betätigung wurden bekräftigt und die Entwicklung demokratischer Mechanismen zu einer umfassenden Bürgerbeteiligung angestrebt. Dazu gehören Maßnahmen zur Herstellung von gleichen Bedingungen aller Akteure und der Aufbau von effektiven Medien, um eine größtmögliche politische Partizipation in allen gesellschaftlichen Sektoren zu ermöglichen (u.a. Aufbau eines neuen TV-Kanals zur Verfügung von zivilgesellschaftlichen Gruppen). Unterzeichnet wurden auch Sicherheitsgarantien v.a. für besonders verletzliche Teile der Bevölkerung. Der Staat verpflichtete sich zu aktiven Maßnahmen zum Abbau von rassistischer und Geschlechter-Diskriminierung (z.B. LGTBI) sowie zur Förderung von Frauen in Bezug auf politische Teilhabe.

Die Regierung Duque blockiertee, behindert und verzögert seit ihrem Amtsantritt 2018 all diese Vereinbarungen massiv,, konnte aber die in der Bevölkerung entstandenen Hoffnungen nicht zerstören. Eine Vielzahl von Initiativen berufen sich seitdem auf den „Acuerdo“, fordern seine Umsetzung und setzen sich für seine Ziele ein. Viele dieser Aktivist*innen haben für ihr Engagement in den vergangenen vier Jahren mit ihrem Leben bezahlt. Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Angehörige der LGTBI-Bewegung sowie Führungspersonen indigener oder afrokolumbianischer Gemeinschaften wurden in den vergangenen Jahren wiederholt Opfer von gezielten Tötungen. Morddrohungen von paramilitärische Gruppen gegen Gewerkschaftsmitglieder sind an der Tagesordnung. Die NGO Indepaz (http://www.indepaz.org.co/)veröffentlichte auf ihrer Website (Stand 22. Juni 2021) 1.190 Tötungen seit 2017, darunter mehr als 200 Ex-Kombattanten der FARC. Allein für das Jahr 2021 werden bereits 59 ermordete zivilgesellschaftliche Aktivist*innen und 26 getötete Ex-Kombattanten der FARC ausgewiesen..

Freund-Feind-Dichotomie
Die kolumbianische Regierung wird im In- und Ausland der Untätigkeit gegenüber diesen Menschenrechtsverletzungen beschuldigt. Denn anstatt derartige Anschläge zu verurteilen und sich um Aufklärung zu bemühen, scheint die rechtskonservative Regierung verfassungsmäßig legitime Proteste und gewerkschaftliche Aktivitäten immer noch als eine Art von Subversion gegen die staatliche Ordnung zu betrachten. So wird eine Freund-Feind-Dichotomie propagiert, die dann leicht eine Spirale von gewaltvträchtigen Auseinandersetzungen in Gang setzen kann.

So wurde auch der ideologische Nährboden für die Gewaltexzesse der staatlichen Sicherheitskräfte im Rahmen des „Paro Nacional“ bereits weit im Vorfeld der Proteste bereitet. Wochenlange Panikmache in den Mainstream-Medien, lanciert vom ultrarechten „Centro Democratico“, der vor einer angeblichen „castro-chavistischen“ Machtübernahme warnte, versuchten die Proteste zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Unter Nutzung der Social-Media-Kanäle haben diese Kreise eine unverantwortliche Hysterie erzeugt, die an die dunkelsten Zeiten des kalten Krieges erinnert und welche letztlich die Voraussetzung für eine gewaltsame Intervention darstellte. „Unterstützen wir das Recht der Soldaten und Polizei, ihre Waffen zu benutzen, um ihre Integrität zu verteidigen und um Menschen und Eigentum zu schützen …“. Mit diesem Tweet — der mittlerweile gelöscht wurde — hat Alvaro Uribe, Expräsident und erklärter Gegner des Friedensprozesses gehörig Öl in die Flammen der ideologischen Auseinandersetzungen um den „Paro Nacional“ gegossen. Und diese Flammen loderten hoch. Bis zum 24. Juni wurden 75 getötete Personen gemeldet, mindestens 73 Personen haben Augenverletzungen durch Projektile der Sicherheitskräfte erlitten, 539 Personen werden vermisst.

Die Einstellung der regierenden Partei zu demokratischen Protesten zeigt einen deutlichen Mangel an Sensibilität für die Sorgen und Nöte der Bevölkerung. Die herrschende Elite ist nicht bereit, auch nur darüber zu verhandeln, einen Teil ihrer Privilegien im Sinne einer sozialstaatlichen Gesamtverantwortung abzugeben. Stattdessen wird mit brutaler Gewalt gegen jeden ernsthaften Versuch einer Veränderung der existierenden Machtverhältnisse vorgegangen. Begleitet wird dies von einer Propaganda, die suggeriert, dass jedes Zugeständnis an gewerkschaftliche und soziale Forderungen die Tür zum Kommunismus aufstößt und die Demokratie gefährdet. Unter solchen ideologischen Vorzeichen und der Delegitimierung sozialer Proteste, wird dann die staatliche Gewalt zum legitimen Mittel erklärt, die angeblich bedrohte Freiheit zu verteidigen.

Dass die Regierung eine gewaltsame Konfliktlösung anstrebt, zeigt die Entscheidung des Präsidenten, nicht mehr mit dem Streik-Komitee zu verhandeln und alle bisher von den Bürgermeister*innen und Gouverneuren des Landes getroffenen lokalen Vereinbarungen mit den Streikenden nicht anzuerkennen. Und dem Bürgermeister von Cali ist sogar per richterlichem Beschluss untersagt worden, weitere Verhandlungen mit den Protestierenden in seiner Stadt zu führen.

Angesichts der Proteste aus dem In- und Ausland hat die Regierung die Gesetzesvorhaben zur Steuerreform und zur Gesundheitsreform mittlerweile zurückgenommen und sogar eine Reform der Polizei angekündigt, die aber offensichtlich lediglich kosmetischer Art sein wird. Aber den Streikenden auf den Barrikaden, die jungen Leute der sogenannten „Primera Linea“ geht es mittlerweile schon nicht mehr um die Steuerreform, sondern um „Hunger und Würde“. Viele Interviews, in denen nach den Motiven der jungen Leute gefragt wurde, in den „Puntos de Resistencia“ auszuharren, obwohl das von den Gewerkschaften dominierte  Streikkomitee den Streik schon beenden wollte, dokumentieren die sozial-strukturelle Benachteiligung vieler Jugendlicher. Trotz einer Hochschulausbildung sehen sie so gut wie keine Chance auf einen ihren Lebensunterhalt sichernden Job. In Anbetracht einer politischen Klasse, deren Korruptionsbereitschaft in Kolumbien schon sprichwörtlich ist, die den staatlichen Haushalt als einen perfekten Selbstbedienungsladen anzusehen scheint, ist die Frustration groß. Kolumbien ist eines der Länder mit der größten Ungleichheit hinsichtlich der Einkommensverteilung, der Vermögensverteilung und ganz besonders der Landverteilung. Und die Armut ist nach offiziellen Daten der kolumbianischen Statistik-Behörde DANE seit Beginn der Corona-Pandemie auf 42,5 % gestiegen. Angesichts dieser Situation und der Untätigkeit der Staates gegenüber den Morden an Sozialaktivist*innen wundert es nicht, dass viele der jungen Leute auf den Barrikaden ausharren, auch wenn die gesellschaftliche Unterstützung für den Streik angesichts der Blockaden zu bröckeln beginnt.

Der kolumbianische Schriftsteller Julio César Londoño zieht in seiner Kolumne in der Tageszeitung „El Espectador“ am 19. Juni ein deprimierendes Fazit der Ereignisse: „Die kolumbianische Demokratie ist erbärmlich; in Bezug auf die Menschenrechte tritt das Land in den Klub der Schmach ein; die Dialoge werden durch den Mund der Waffen weitergehen und diese Regierung wird dafür in Erinnerung bleiben, dass sie eine große Chance für Veränderung und Reflexion ruiniert und in eine Blutorgie verwandelt hat, in eine Maschine, die das angeschlagene soziale Gefüge in Fetzen reißt.“

Dr. Michael Paetau ist Leiter des Zentrums für Studien über Wissenskulturen in Bonn und Bogotá in Kolumbien.

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Krisen und Kriege
Dr. Michael Paetau ist Leiter des Zentrums für Studien über Wissenskulturen in Bonn und Bogotá in Kolumbien.