Von den Anfängen

Vom „Arabischen Frühling“ zum Krieg

von Christine Schweitzer

Das Jahr 2011 war das Jahr der sog. „Arabellion“ – den für die meisten BeobachterInnen wie für viele BürgerInnen überraschenden, im Dezember 2010 nach dem öffentlichen Selbstmord eines verzweifelten Gemüsehändlers in Tunesien beginnenden Aufständen gegen die autokratischen Regimes in einer Reihe arabischer Staaten.

In Tunesien und Ägypten führten die zivilen, gewaltarmen Aufstände zu einem schnellen Sturz der Regierungen. In Libyen entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in den schließlich mehrere westliche Länder mit Bombardierungen eingriffen und der zum Sturz und Tod von Staatschef Muammar al-Gaddafi führte. In etlichen anderen Ländern – Algerien, Bahrain, Dschibuti, Irak, Jemen, Jordanien, Kuwait, Marokko, Mauretanien, Oman, Saudi-Arabien und Sudan - scheiterten die Proteste zumindest vorläufig an der harschen Unterdrückung durch die jeweiligen Regierungen.

Syrien vor dem Krieg
Syrien hatte vor dem Krieg rund 22,5 Millionen EinwohnerInnen. Drei Viertel der Bevölkerung gehören dem sunnitischen Islam an; die Regierung wird aber vorwiegend von der ungefähr 10% der Bevölkerung umfassenden schiitischen Gruppe der Alawiten gestellt. Christen mach(t)en ebenfalls 10% der Bevölkerung aus. Ethnisch sind rund 90% der Bevölkerung AraberInnen und 9% KurdInnenen. Historisch gehörte Syrien zum Osmanischen Reich; nach dem Ersten Weltkrieg wurde Frankreich die Verwaltung der Region übertragen. 1946 wurde Syrien unabhängig. 1958 bis 1961 schloss es sich mit dem von Nasser regierten Ägypten zusammen; ein Militärputsch beendete dieses panarabische Experiment. Seit 1963 regiert in Syrien die Baath-Partei; wirkliche Oppositionsparteien wurden nie zugelassen. Die Verfassung von 1973 bezeichnet Syrien als sozialistische Volksrepublik mit Präsidialsystem. Der gegenwärtige Präsident Baschar al-Assad ist der Sohn von Hafiz al-Assad, der von 1971 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Präsident Syriens war. Ähnlich wie bei Hussein in Irak und Gaddafi in Libyen stützt sich seine Macht auf seinen aus einem Dorf (Qardaha) stammenden Familienverband.

International war (und ist) Syrien Mitglied der Bewegung der blockfreien Staaten, die allerdings seit Ende des Kalten Kriegs stark an Bedeutung verloren hat. Es war schon vor dem Krieg mit Russland und China befreundet, die sich schon in früheren internationalen Auseinandersetzungen (etwa nach der vermutlich von Syrien aus betriebenen Ermordung des libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Hariri) auf die Seite Syriens stellten. Russlands Handelsinteressen betreffen sowohl Rüstungsexport wie Erdöl – zusammen machten die Verträge 2011 einen Wert von 700 Millionen USD pro Jahr aus. Außerdem ist Tartus die einzige russische Marinebasis am Mittelmeer.

Auch der Iran unterstützt das Regime. Die USA ordneten Syrien zusammen mit Kuba und Libyen 2002 der „Achse des Bösen“ zu und beschuldigten die Länder, Massenvernichtungswaffen herzustellen. Daraus speisen sich die Spekulationen mancher Linker, dass der Aufstand in Syrien, oder gar alle Aufstände von 2011, von der CIA betrieben worden seien. (1) Doch handfeste Belege jenseits der Tatsache, dass Oppositionsgruppen in Syrien mindestens bis 2010 Gelder (insgesamt 6 Mio USD) aus den USA erhalten haben, gibt es dafür nicht. Diese Gruppen waren aber nicht der Kern des Aufstands, der sich 2011 entwickelte, noch berücksichtigen diese Spekulationen die unzähligen Länder, in denen ebenfalls Oppositionsgruppen Finanzierung aus dem Ausland erhalten. Finanzielle Unterstützung, so zeigen vergleichende Studien, mögen hilfreich sein, ausreichend für die Entstehung und das Gelingen von Aufständen ist sie in aller Regel nicht. (2).

Im Nahostkonflikt war und ist Syrien als einer der Gegner Israels positioniert. Im Sechstagekrieg 1967 besetzte Israel die zu Syrien gehörenden Golanhöhen, von denen aus es immer wieder zu Beschuss israelischen Territoriums gekommen war. 1976 beginnende, langjährige Militärpräsenz in Libanon musste Syrien 2005 nach der bis heute offiziell ungeklärten Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafik Hariri beenden. Syrien hat Israel bis heute nicht anerkannt. Friedensgespräche scheiterten 2008 am Gaza-Konflikt. Damaskus war der Sitz der Exilregierung der Hamas, die aber jetzt das Land verlassen und sich auf die Seite der Opposition gestellt hat. Israel hatte vor 2011 zweimal  Militärschläge auf Einrichtungen in Syrien durchgeführt: 2003 auf ein Ausbildungslager für Terroristen und 2007 auf eine angebliche Atomanlage. Im aktuellen Krieg  hat Israel etliche Male mit Bombardierungen eingegriffen, wobei  Ziel vorrangig die libanesische Hizbollah war, die die Regierung Assad unterstützt. Der Anti-IS-Koalition gehört Israel nicht an.

Der Aufstand
Kurz nach Beginn der Aufstände in Tunesien und Ägypten kam es auch in Syrien zu einzelnen Protesten, die aber zunächst wenig Widerhall fanden. Der März 2011 gilt vielen BeobachterInnen als der eigentliche Beginn der Unruhen, als in Dar‘a, einer im Süden Syriens gelegenen Stadt, eine Demonstration nach dem Freitagsgebet am 18. März von der Polizei unter Beschuss genommen wurde. Der Protest war durch die Verhaftung und mutmaßliche Folterung von 15 Schülern ausgelöst worden, die einen Slogan der arabischen Aufstände in den anderen Ländern an eine Häuserwand gemalt hatten. Während der Bestattung von vier Opfern am nächsten Tag kam es zu neuer Gewalt von Regierungsseite. Ab dem Zeitpunkt begannen Hunderttausende, regelmäßig auf die Straße zu gehen. Schwerpunkte der Proteste waren Baniyas, Homs, Hama und Vororte von Damaskus, aber es gab keine Region Syriens, wo keine Proteste stattfinden. (3) Die Regierung verfolgte anfänglich die Strategie, durch hartes Durchgreifen gekoppelt mit politischen Konzessionen der Lage Herr zu werden. So trat am 29. März 2011 die Regierung unter Ministerpräsident Muhammad Nadschi al-Utri zurück, und am 21. April hob Assad den seit 1963 in Kraft befindlichen Ausnahmezustand auf. Im Mai und Juni wurden zwei Amnestien für politische Gefangene  erlassen; im Januar 2012 folgte eine dritte. Im Juni/Juli 2011 kündigte die Regierung einen „Nationalen Dialog“ an, der von der Opposition jedoch als ‚Showveranstaltung‘ abgelehnt wurde.

Die politische Landschaft der Aufständischen war vielfältig – von jungen, westlich orientierten Studierenden bis zu Angehörigen der Muslimbrüderschaft reichte das Spektrum. Sogar Angehörige der Minderheit der Alawiten, deren Ränge Assad entstammt, waren unter den WiderständlerInnen zu finden. (4) Sehr schnell bildeten sich in nahezu jeder syrischen Stadt lokale Bürgerkomitees – rund 300 wurden 2011 gezählt. Sie waren die Hauptträger der zivilen Demonstrationen. Die Zusammensetzung der Komitees war dabei regional sehr unterschiedlich. Es waren alle gesellschaftlichen Schichten, alle Religionsgemeinschaften und Ethnien, Männer wie Frauen vertreten. Es gab eher religiöse und eher säkulare Komitees, solche, in denen vor allem junge Menschen vertreten waren und solche, in denen sich bestimmte Berufsgruppen zusammen gefunden hatten (etwa AnwältInnen).

Auch wenn es von Anfang an, wenngleich wohl nur vereinzelt, gewaltsame Akte auch aus den Demonstrationen heraus gab, wollten die Komitees keinen Bürgerkrieg. Die Local Coordination Commitees schrieben in einer Erklärung 2011:

„Eine Militarisierung der Revolution würde die Unterstützung und Beteiligung an der Revolution durch das Volk minimieren. ... Militarisierung würde die Revolution in eine Arena tragen, wo das Regime einen deutlichen Vorteil hat und die moralische Überlegenheit erodieren, die die Revolution seit ihren Anfängen charakterisiert hat.“ (5)

Die Militarisierung nahm ihren Lauf
Der erste Schritt zum Bürgerkrieg war unzweifelhaft die massive Gewalt, mit der das Assad-Regime  die Proteste zu unterdrücken suchte. Der zweite war die Gründung der Freien Syrische Armee (FSA). Sie entstand im August 2011 und rekrutierte sich in erster Linie aus desertierten Soldaten der syrischen Armee. Sie war anfänglich vor allem in der nordwestlichen Provinz Idlib, um die zentralen Städte Homs und Hama und um Damaskus herum aktiv. Ihre Aufgabe sah sie zunächst vorrangig im „Schutz“ der zivilen Demonstrationen. Anscheinend stammte die Mehrzahl ihrer Ausrüstung von der Armee – dadurch, dass die Deserteure ihre Waffen mitbrachten oder, gerüchteweise, auch, dass sie der Armee abgekauft wurden. (6) Es gab von Anfang an auch Informationen über Waffenhilfe aus der Türkei und dem Irak , und diese Nachbarländer (Türkei, Libanon, Jordanien) wurden als Rückzugsgebiete genutzt.

Im Laufe des Jahres 2012 entwickelte sich dann ein Bild, das durch eine Vielzahl von bewaffneten Gruppen geprägt war, die alle gegen das Assad-Regime, aber auch schon bald gegeneinander kämpften. Viele von ihnen entstanden durch Abspaltung einzelner Brigaden von der FSA; andere wurden aus dem Ausland initiiert, zumeist aus anderen arabischen Ländern, wie z.B. die Al Nusra-Front (jetzt: Dschabhat Fatah asch-Scham), die als al-Qaida im Irak entstand und ab Anfang 2012 einzelne Anschläge in Syrien beging.

Die Kurden in Nordsyrien,die sich anfänglich zurückhaltend verhalten hatten, begannen Mitte 2012 mit ihrem Aufstand. Die Regierungstruppen zogen sich nach kurzen Auseinandersetzungen zurück. Seitdem betreiben die Partei der Demokratischen Union (PYD) und der Kurdische Nationalrat eine Politik der Selbstverwaltung der nördlichen Gebiete im Sinne der Konföderalismus-Ideen des PKK-Führers Öcalan. Rojava besteht aus drei Provinzen, die allerdings durch einen Korridor voneinander getrennt sind. Im März 2016 wurde die „Autonome Föderation Rojava“ ausgerufen

Dem Assad-Regimes standen bald und stehen bis heute ebenfalls verschiedene Milizen, so auch die libanesische Hizbollah, zur Seite. Zwischenzeitlich wurde die Zahl bewaffneter Gruppen in Syrien auf rund 1.000 geschätzt; heute geht man von über 250 aus.

 

Anmerkungen
1 Zum Beispiel: http://www.globalresearch.ca/timeline-of-cia-interventions-in-syria/5479875

http://www.csmonitor.com/World/terrorism-security/2011/0418/Cables-revea...

2 Siehe Jörgen Johansen, Externe Unterstützung für gewaltfreie Revolutionen - Eine Analyse. Hrsg. Bund für Soziale Verteidigung, HuD Nr. 53, Februar 2017.

3 Die Syrische Gewaltfreie Bewegung, eine 2011 gegründete Gruppe, produzierte mit letztem Stand von 2013 eine Karte, in der die verschiedenen Formen des Widerstands eingetragen wurden: http://alharak.org/nonviolence_map/en/

4 BBC: http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-13855203;
Erklärung von Alawiten aus Homs Anfang Februar 2012: http://www.lccsyria.org/category/statements

5 Khalil Habash, Protecting Syria’s Revolt from Military Intervention. http://english.al-akhbar.com/content/protecting-syria%E2%80%99s-revolt-m....

6 http://www.aljazeera.com/video/middleeast/2012/01/20121993012520680.html. Der Preis eines Gewehres soll bei 2.000 USD, der von Munition bei 2 USD liegen.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.