20 Kinder aus dem ehemaligen sowjetischen Atomtestgebiet zu Besuch in Göttingen

"Von uns redet niemand"

von Dr. Peter MöllerHeidi Decker
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Seit 1949 sind in Semipalatinsk/Kasachstan vom sowjetischen Militär 467 Atombomben gezündet worden, über 120 davon überirdisch. Auch durch Freisetzung radioaktiver Gase aus unterirdischen Tests ist eine Region extrem radioaktiv verseucht worden, in der über 500.000 Men­schen leben und sich ernähren. Um sich den Bedingungen eines Atom­waffenkrieges anzunähern, sind trotz der bekannten Gefahren über Jahrzehnte hinweg keine Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung getroffen worden. Noch heute liegen für weite Gebiete keine detaillier­ten Messungen vor, die über Art und Ausmaß der Verseuchung und mögliche Schutzmaßnahmen der dort lebenden Menschen Auskunft ge­ben.

Die Folge sind eine Schwächung des Immunsystemes bei nahezu jeder zwei­ten Person, eine Steigerung der Kinder­sterblichkeit im ersten Lebensjahr von 50 % und eine dramatische Zunahme von Krebserkrankungen. Allgemein­biologisch werden die Veränderungen in der natürlichen Immunität und die er­höhte Sterblichkeit an Krebserkrankun­gen als Anzeichen einer beschleunigten Alterung angesehen, die bei den strah­lenexponierten Menschen als Spätfolge nach der Bestrahlungsexposition auftritt.

Während Tschernobyl seit Jahren im Blickpunkt der Welt steht, erfahren die Menschen von Semipalatinsk mit einer vielfach höheren Strahlenexposition bisher kaum Beachtung. Die lokale An­tiatombewegung Nevada-Semipalatinsk, die mit Beendigung der Nukleartests in Semipalatinsk 1990 ihren bisher größten Erfolg erzielte, bemüht sich, die drama­tische Situation einer breiteren Öffent­lichkeit bekannt zu machen und den Ausbau einer verbesserten medizini­schen Versorgung in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus aller Welt vor­anzutreiben. Begleitend dazu wurden erstmals im letzten Jahr abwehrge­schwächte Kinder aus besonders bela­steten Regionen zu einem Erholungs­aufenthalt nach Deutschland geschickt. Ermutigt von den positiven Erfahrungen entschloss sich unsere Göttinger IPPNW-Regionalgruppe, 20 Kinder mit zwei Betreuern für drei Wochen nach Göttingen einzuladen.

Die 8- bis 12jährigen Jungen und Mäd­chen kamen aus Kainar und Snaminka, ca. 50 km vom Atomtestgebiet entfernt. Sie stammten aus großen Familien mit häufig mehr als 10 Kindern, wobei viele von schwerkranken Geschwistern bzw. frühen Todesfällen in den Familien beichteten. Insbesondere in ländlichen Regionen sind die Lebensbedingungen (Dorfbrunnen, keine Toiletten im Haus) sowie die ärztliche Versorgung (nächster Zahnarzt 200 km) unzurei­chend.

Die Unterbringung hier erfolgte zu zweit in Gastfamilien, wobei die sprachlichen Schwierigkeiten durch Übersetzungshilfen und nonverbale Kommunikation gut gemeistert werden konnten. Obwohl wir bewusst auf eine eingehende körperliche Diagnostik ver­zichteten, waren mehrere ärztliche und insbesondere zahnärztliche Behandlun­gen unumgänglich gewesen. Insgesamt war schon durch eine ausgewogenere, vitaminreichere Ernährung und Bewe­gung in unbelasteter Umgebung eine Verbesserung ihres Allgemeinzustandes offensichtlich. Anfängliches Heimweh wurde durch regelmäßige gemeinsame Treffen und Unternehmungen wie Frei­badbesuche, Ausflüge in die Umgebung und gemeinsame Feste mit Kinder- und Schulgruppen rasch überwunden. Dem befürchteten "Kulturschock" begegneten die Kinder mit Neugier und kindlichem Interesse. Enorm wichtig war dabei der einfühlsame und herzliche Umgang in­nerhalb der Gastfamilien, die Anpas­sungsschwierigkeiten und Missgeschicke gut zu überspielen wussten. So flossen beim Abschied auf beiden Seiten einige Tränen.

Dies bestätigte uns in unserem Entschluss, diese Aktion im nächsten Jahr zu wiederholen und andere Gruppen zur Nachahmung zu ermutigen. Um die per­sönlichen Kontakte zu vertiefen, planen wir u.a. im Herbst d.J. den Heimatort der Kinder zu besuchen und beim Aus­bau der dortigen Poliklinik und Aus­stattung mit dringend benötigten Medi­kamenten und medizinischem Gerät im Rahmen unserer Möglichkeiten zu hel­fen. Wer sich in diesem Rahmen aktiv bzw. finanziell mit engagieren möchte oder ähnliche Projekte plant, möge sich zur besseren Koordinierung unter unten genannten Kontaktadressen mit uns in Verbindung setzen.

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Dr. Peter Möller ist Mitglied der Göttinger Ärzte-IPPNW Gruppe Göttingen.
Heidi Decker ist Mitglied der Göttinger Ärzte-IPPNW Gruppe Göttingen.