Weg mit der Wehrpflicht

von Michael Behrendt Ralf Siemens

Die Wehrpflicht ist in Deutschland eine heilige Kuh. Nirgendwo sonst wird die Diskussion um die Wehrform von Streitkräften so ideologisch und zugleich oberflächlich geführt wie hierzulande. Die Wehrpflicht habe sich bewährt, gleichzeitig sichere sie die Verantwortung des einzelnen männlichen Bürgers für die Sicherheit des Landes, sie sei eine demokratische Errungenschaft, Ausdruck der gewachsenen Verteidigungskultur und letztlich sogar "unantastbar".

Die Wehrpflicht ist mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation in ihre größte Legitimationskrise geraten. In der BRD verteidigt eine große Koalition aus CDU/CSU, SPD und der obersten Führungsriege der Bundeswehr geradezu verbissen die Wehrpflicht, ohne glaubwürdige Begründungen für ihr Festhalten nennen zu können. Bundespräsident Roman Herzog räumte in seiner Rede vor den Kommandeuren der Bundeswehr im November 1995 allerdings ein: "Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, daß ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung müssen sicherheitspolitisch begründet werden können." Nur ist eine solche Begründung für die Notwendigkeit der Wehrpflicht gerade der Argumentation der Militärs nicht zu entnehmen. Deutschland, so ist in einschlägigen Papieren nachzulesen, ist militärisch nicht in seiner territorialen Integrität bedroht. Selbst vom ungünstigsten Szenario eines politischen und militärischen Wandels in Rußland ausgehend, rechnet die Bundeswehr mit einer Vorwarnzeit von mindestens einem Jahr.

Sachliche Überlegungen, orientiert an Fragen der militärischen Effizienz und einer Kosten-Nutzen-Analyse, haben in anderen westlichen Staaten zur Abschaffung oder zur Aufhebung der Wehrpflicht in Friedenszeiten geführt: Großbritannien, Kanada und die USA bereits zu Zeiten des Kalten Krieges; nach 1990 folgten Belgien und die Niederlande. In Frankreich und kürzlich auch in Spanien sind entsprechende Entscheidungen getroffen worden. Selbst Rußland will nach der Jahrtausendwende auf die Wehrpflicht verzichten.

Interessanterweise wird die Frage nach der verfassungsrechtlichen Stellung der Wehrpflicht in herrschenden Kreisen nicht aufgeworfen. Im Gegenteil: die Wehrpflicht sei sogar "unantastbar". Tatsächlich jedoch wird die Würde des Menschen, die es doch aus zentral verfassungsrechtlicher Sicht zu schützen gilt, durch die Wehrpflicht massiv angetastet und verletzt. Eingezwängt in ein strikt hierarchisch strukturiertes Militärsystem bleibt dem einzelnen Wehrpflichtigen nur das Ausführen von Befehlen, wird von ihm bedingungslos Todes- und Tötungsbereitschaft verlangt. Handelt er hingegen als eigenständiges Subjekt, sich selbst und nicht einem Vorgesetzten gegenüber verantwortlich, wird er mit disziplinarischen und strafrechtlichen Maßnahmen verfolgt. Das antidemokratische Ordnungssystem von Befehl und Gehorsam würdigt den Wehrpflichtigen zum bloßen Objekt militärischer Erfordernisse herab.

Die Institution Wehrpflicht ist keineswegs verfassungsrechtliches Gebot. Nach Artikel 12a des Grundgesetzes bleibt es dem Gesetzgeber überlassen, ob er Männer zu einem militärischen Dienst verpflichtet. Die Wehrpflicht hat lediglich eine einfach-gesetzliche Stellung; eine einfache gesetzgeberische Mehrheit genügt, die Wehrpflicht abzuschaffen.

Auch von kritischer Seite kommt häufig der Einwand, daß erst die Wehrpflicht eine gesellschaftliche Kontrolle der Streitkräfte garantiere. Dabei wird übersehen, daß die Bundeswehr bereits seit Jahren eine Freiwilligenarmee mit Wehrpflichtigenanhang ist. Nur vier von zehn Soldaten sind Grundwehrdienstleistende. Gerade in den für weltweite Interventionen vorgesehenen "Krisenreaktionskräften" sind ausschließlich freiwillig längerdienende Soldaten rekrutiert. Ein Spiegelbild der Gesellschaft sind die Streitkräfte ohnehin nicht (mehr). Wehrpflichtige mit militärkritischer Einstellung, überwiegend Abiturienten und Söhne aus bildungspriviligierten Schichten, verweigern den Kriegsdienst mit der Waffe. 160.569 Wehrpflichtige haben 1995 einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Ein weiterer Rekord, der die schwindende Akzeptanz des Wehrdienstes belegt. Etwa 38 % eines "kriegsverwendungsfähig" gemusterten Jahrganges stellt derzeit einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Umfragen zufolge wird die Wehrpflicht nur noch unter denen mehrheitlich bejaht, die aus dem Wehrdienstalter selbst herausgewachsen sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1977 in einer Entscheidung zur Wehrpflicht klargestellt, daß das Grundgesetz eine Gleichbehandlung aller Wehrpflichtigen verlange und der Wehrdienst, der Dienst an der Waffe in der Bundeswehr, die Regel, der Zivildienst die Ausnahme sein müsse. Aber das Gegenteil ist der Fall: Spätestens seit der Umstrukturierung der Bundeswehr und der Reduzierung der Personalstärke auf 338.000 Soldaten zur Gewinnung von finanziellen Ressourcen innerhalb des Verteidigungshaushalts - um damit neue Waffensysteme für die Interventionsfähigkeit zu beschaffen - wird deutlich, daß nicht mehr alle jungen Männer dienen können.

Mehrere zehntausend junge Männer können zu keinem Dienst herangezogen werden. Diese sind aufgrund gesetzlicher bzw. administrativer Bestimmungen von der Wehrpflicht befreit oder nicht "kriegsverwendungsfähig" gemustert.

Mit der letzten Dienstzeitverkürzung ab dem 1. Januar 1995 von zwölf auf zehn Monate Grundwehrdienst und von fünfzehn auf dreizehn Monate Zivildienst wurde die Dauer des Zivildienstes im Verhältnis zur Dauer des Wehrdienstes um fünf Prozent verlängert - eine weitere Ungerechtigkeit, die dennoch 160.000 Wehrpflichtige mit ihrer Antragstellung inkauf genommen haben. Ebenso gibt es für Zivildienstleistende kein Entfernungsgeld und nicht die Möglichkeit, nach Ableistung ihres Dienstes billige Wohnungen anzumieten, wie dies das Programm zur Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes für ehemalige Soldaten in Kasernen vorsieht.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß Kriegsdienstverweigerer von der Gesetzeslage her lediglich den Dienst an der Waffe verweigern können. Sprich: sie können zu jedem waffenlosen Kriegsdienst herangezogen werden. Ihren Einsatz beim militärischen Nachschub bis hin zur Verpflichtung zum Minenräumen hat Heiner Geissler schon Anfang der achtziger Jahre als damals für den Zivildienst zuständiger Bundesminister für denkbar gehalten. Bundesweit verweigern jährlich mehrere hundert Männer jeglichen Kriegsdienst. Wie oben erwähnt, ist auch der Zivildienst im Rahmen der Wehrpflicht und der zivil-militärischen Planung ein Kriegsdienst - nur ohne Waffen. Das Grundgesetz läßt aber nur die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe zu. Wer als Totalverweigerer jeden Kriegsdienst konsequent verweigert, kann mit bis zu 5 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Derart drakonische Strafen lassen sich zur Zeit jedoch nicht umsetzen. Der Mut zum Zivilen Ungehorsam wird in der Regel mit einer Vorstrafe zur Bewährung geahndet. In Berlin gehen Rechtsanwälte davon aus, daß jährlich knapp 200 junge Männer ihrer Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst nicht folgeleisten.

Die Wehrpflicht muß weg und die Einführung neuer Zwangsdienste (Allgemeine Dienstpflicht) muß verhindert werden! Was dann bliebe, wäre eine Freiwilligenarmee mit einem hohen Anteil an Berufssoldaten. Bis zum vollständigen Abbau der Bundeswehr bedarf sie einer grundlegenden Reform. Der Anteil der sich auf kurze Zeit verpflichtenden Soldaten muß so hoch wie möglich sein, die strikte Trennung der Dienstgradgruppen in Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften muß aufgehoben werden, die Einstellungsvoraussetzungen müssen sich auf die Prüfung politischer und demokratischer Kompetenzen ausweiten, Berufe müssen im zivilen Bereich erlernt werden und die Bundeswehr muß sich zivilen Kontrollinstanzen gegenüber öffnen. Gleichzeitig muß deutschen Interventionsgelüsten durch gleichzeitigen Umbau der Bundeswehr zur interventionsunfähigen Armee ein Riegel vorgeschoben werden. Statt Milliarden für High-Tech-Kriegsgeräte für weltweite Einsätze auszugeben, müssen nichtmilitärische Strukturen zur internationalen Kriegs- und Konfliktbewältigung entwickelt und gefördert werden. Die Forderung kann nur lauten: ersatzlose Abschaffung der Wehrpflicht. Eine einfache Mehrheit im Bundestag genügt, diese Forderung umzusetzen.

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Hintergrund
Michael Behrendt ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung.
Ralf Siemens ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung in Berlin. http://www.asfrab.de