ungehaltener Redebeitrag für den geplanten Ostermarsch Rügen in Sassnitz am 11. April 2020

 

Liebe Freundinnen und Freunde, 

als ich vor 3 Jahren das 1. Mal am Osterspaziergang in Sassnitz auf der Insel Rügen teilnahm, wurde ich von 2 jungen Männern, die aus Afghanistan geflüchtet waren, begleitet. Der eine ist nach seiner Anerkennung als Flüchtling nach Schwerin gezogen. In der Landeshauptstadt geht er einer Arbeit nach, von der er gut leben kann und hat Kontakt zur afghanischen Community und deutschen Freunden. Der andere lebt immer noch in der Gemeinschaftsunterkunft in Bergen und arbeitet auf der Insel, weil sein Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Fleißig und zuverlässig verrichtet er schwere körperliche Arbeit in einer Eisenflechterei, bestreitet all seine Lebenshaltungskosten selbst. Weil er in der Sommerzeit sehr früh am Morgen von der Unterkunft abgeholt und zu den Baustellen gebracht wird, darf er bis auf Widerruf das Zimmer allein bewohnen. Das ist in heutiger Zeit und unter den Zwängen der Corona-Pandemie eine der wenigen Ausnahmen, denn ein Rechtsanspruch auf die Einzelunterbringung besteht nicht!

Etwa 100 Menschen leben derzeit im Ratskeller. Alleinstehende Personen sind per Gesetz gezwungen, mit anderen fremden Personen in Mehrbettzimmern in Bedarfsgemeinschaften zu leben. Nicht nur, dass ihnen dadurch seit diesem Jahr bis zu 50 € weniger im Monat zum Leben zur Verfügung stehen; sie haben aufgrund der räumlichen Enge auch Sorge, den Gesundheitsschutz in „Coronazeiten“ nicht einhalten zu können – das Abstandsgebot, das für alle gilt und lebenswichtig sein kann. Dies in jeder Situation möglichst sensibel durchzusetzen, ist für die Mitarbeiter der Malteser-Hilfswerke und des Sicherheitsdienstes in der Gemeinschaftsunterkunft nicht leicht – erst recht nicht, wenn neue Bewohner aus den beiden Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) des Landes dazukommen.

Im vergangenen Jahr stellten lt. Innenministerium des Landes insgesamt 2548 Menschen einen Asyl-Erstantrag in M-V. Sie kamen hauptsächlich aus Syrien, dem Iran und aus Afghanistan. Die häufigste Ursache für syrische Menschen, ihre Heimat zu verlassen, ist nach wie vor der internationale bewaffnete Konflikt, der den 9jährigen Krieg demokratischer Bewegungen gegen Diktator Assad in Syrien überlagert. Dieser Krieg hat sich durch das militärische Eingreifen der Türkei in den umkämpften Gebieten in der Provinz Idlib im Nordwesten des Landes weiter dramatisch zugespitzt. Hunderttausende von Menschen sind auf der Flucht und kommen zu den rund 3,4 Millionen syrischen Flüchtlingen hinzu, die im Nachbarland Türkei notdürftig versorgt werden. An internationalen Hilfsprojekten haben sich die europäischen Staaten beteiligt und der Türkei bis heute rund 4,7 Milliarden € im Rahmen des „EU-Türkei-Flüchtlings-deals“ innerhalb von 4 Jahren ausbezahlt. Beabsichtigt ist, dass möglichst wenige Kriegsflüchtlinge europäischen Boden betreten. Um Druck auf die EU auszuüben, hatte Präsident Erdogan vor 2 Monaten die Landesgrenzen öffnen lassen und tausende Flüchtlinge aus der Türkei unter falschen Versprechungen an die Grenze zu Griechenland geschickt. Dort wurden sie mit Wasserwerfern und Tränengas zurückgedrängt. Mindestens zwei Flüchtlinge starben unter ungeklärten Umständen durch Schüsse der Grenzpolizei. Das nenne ich einen Krieg gegen Schutzlose! Inzwischen hält Erdogan die Grenzen seines Landes wieder geschlossen – aus Angst vor der Verbreitung des Corona-Virus und weil abermals EU-Gelder in die Versorgung der Flüchtlinge geflossen sind. Die syrischen Truppen des Assad-Regimes haben mit Unterstützung des russischen Militärs weite Teile Syriens wieder unter Kontrolle und halten sich seit einigen Wochen, wie der Kriegsgegener Türkei, weitgehend an die Waffenruhe. Die Aussetzung der Kampfhandlungen stellt allerdings eine äußerst fragile Situation im militärischen Machtkampf der Großmächte und beteiligten regional agierenden Milizen dar. Eine politische Lösung des Konfliktes, die zu dauerhaftem Frieden und Stabilität führen würde, ist nicht in Sicht, sondern in den Hintergrund getreten angesichts der allgegenwärtigen Corona-Pandemie.

Zu einer Beendigung des Syrien-Krieges aktiv beizutragen, z. B. durch die Errichtung von Sicherheitszonen mit Nato-Mandat, konnte sich die Europäische Kommission nicht durchringen. Weder gibt es eine gemeinsame Friedenspolitik, noch eine abgestimmte, gerechte Verteilung der Schutzsuchenden innerhalb Europas. Stattdessen verelenden rund 43000 Menschen in den Hotspots auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Moria. NGOs wie Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen, Pro Asyl, Team Seebrücke u.v.a. berichten von unerträglicher Überfüllung der abgeriegelten  Lager, fehlender ärztlicher Versorgung, gewalttätigen Übergriffen rechtsradikaler Banden und totaler Entrechtung der Campbewohner. Monatelang wurden keine Asylanträge bearbeitet; teilweise wurden die Menschen ohne Verfahren wieder in die Herkunftsländer oder in die Türkei abgeschoben.

Daher fordern Menschenrechtsorganisationen seit Jahren die Schließung und Räumung der Lager auf den griechischen Inseln und die dezentrale Unterbringung auf dem Festland. Zur  Aufnahme von 1500 – 1600 unbegleiteten Minderjährigen, Schwerkranken, Schwangeren oder alleinerziehenden Müttern im Rahmen der EU kam es bisher nicht – auch weil sich die Bundesregierung weigerte. Indes hatten sich 140 Städte und Gemeinden dazu bereit erklärt, den am meisten Notleidenden Asyl zu gewähren. Hier steht Bundesrecht gegen Humanität und Menschenrechte - gerade in Zeiten der weltweiten Ausbreitung des Corona-Virus! Die zeitweilige Aussetzung von Abschiebungen in Länder des Dublin-III-Abkommens liegt derzeit an den Grenzschließungen innerhalb der EU. Für Staaten außerhalb Europas gilt das nicht immer. Nur bei strikter Weigerung dieser Staaten, ihre zur  Rückführung vorgesehenen Landsleute einreisen zu lassen und wenn die Bevölkerung von der Pandemie massiv betroffen ist, wäre es für Horst Seehofer ein akzeptabler Grund, davon abzusehen. Wenn es nach dem Bundesminister für Inneres, Heimat und Sport ginge, würden weiterhin zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan oder in den Iran durchgesetzt werden. Allein die Fluggesellschaften haben alle Personentransporte in diese Länder eingestellt. Auf diese Weise wurden am 28.3.2020 zwei allein reisende Frauen aus dem Iran vom Frankfurter Flughafenarrest doch noch in EAE gebracht, wo ihre Asylgesuche dann hoffentlich nach Würdigung der individuellen Fluchtgründe und nach geltendem Recht bearbeitet werden. Ich wünschte, die Bundesländer würden dem Beispiel der Thüringer Landesregierung folgen, die die Entscheidungen zum Asylrecht und zu Migrationsfragen den Grundsätzen der Menschenwürde und Humanität unterordnet. So haben sie in ihrem Koalitionsvertrag u.a. festgehalten, dass es prinzipiell keine Abschiebungen in unsichere Länder wie Afghanistan geben soll, keine „AnKer-Zentren errichtet werden und die Aufenthaltsdauer in den Aufnahmeeinrichtungen so kurz wie möglich sein soll.

Die monatelange Unterbringung von Menschen in sogenannten „AnkER-Zentren“ - in unserem Bundesland gibt es zwei davon – ist unter dem Aspekt der Einhaltung der Menschenrechte, des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der zivilgesellschaftlichen Kontrolle immer heftig umstritten. 

In der gegenwärtigen Pandemie ist die Durchsetzung des Gesundheitsschutzes von hunderten Menschen in diesen Einrichtungen  äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. 

Die Unterstützerinitiative „Pro Bleiberecht M-V“, der ich angehöre, hat daher eine Petition gestartet.

Wir fordern: „Schutz vor Corona – Recht auf Abstand für Flüchtlinge in M-V!“  

 „Asylsuchende aus Aufnahmeeinrichtungen in die Kommunen umziehen lassen! 
Corona-Risikogruppen in Wohnungen einziehen lassen!

Der gesellschaftliche Zusammenhalt wächst in Zeiten von Corona. Zusammenhalt und Solidarität - das muss für Alle gelten. Menschen in Flüchtlingsunterkünften dem Infektionsrisiko mit Corona auszusetzen, während alle denkbaren Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung ergriffen werden, ist rassistisch. Wir fordern von der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern (MV): Vernünftige Asylpolitik statt institutionellem Rassismus!“

Informationen zum detaillierten Inhalt und aktuellen Stand der Zahl der Unterschriften für die Petition sind auf der Facebook-Seite der Initiative zu finden.

https://www.facebook.com/bleiberecht.mv/

 

Andrea Sakowski ist ehrenamtliche Geflüchtetenunterstützerin auf der Insel Rügen, Mitglied der antirassistischen Initiative „Pro Bleiberecht M-V“ und des demokratischen Bündnisses „Rügen für alle – Gemeinsam gegen Rechts!“

 

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