ungehaltener Redebeitrag für den geplanten Ostermarsch in Aschaffenburg am 11. April 2020

 

Liebe Friedensaktivisten und –aktivistinnen!

Knapp eineinhalb Jahre nach der Großübung Trident Juncture wurde erneut ein gigantomanisches Manöver an der Ostflanke der NATO eingeleitet. Am 21. Februar meldete die Tagesschau in gewohnt seriösem Ton den Beginn der Militärübung Defender Europe 2020 mit sachlich-knapper Erläuterung:

„In Bremerhaven kamen vier US-Schiffe mit Panzern und Ähnlichem über den Atlantik. Auf dem Hamburger Flughafen trafen US-Truppenangehörige ein. Insgesamt sollen etwa 20.000 Soldaten testweise von den USA durch Deutschland nach Polen und in das Baltikum verlegt werden.“

Soweit die Meldung. Kein Wort darüber, dass diese Übung nur die Einleitung für das NATO-Manöver darstellte, das insgesamt 37.000 Soldaten umfassen und neben den USA noch 17 Partnerstaaten* einbeziehen sollte, einschließlich der Nicht-NATO-Staaten Finnland und Georgien. Kein Hinweis darauf, dass mit dem militärischen Vorrücken so nah an die russische Grenze Sinn und Buchstaben der wichtigsten Abkommen mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion verletzt würden, dass ein solches Manöver von Russland als Affront betrachtet werden muss, dass unser Land als zentrales Aufmarschgebiet für konventionelle Kriegsführung auf höchstem technologischem Niveau herhalten soll.

Dann wurde Corona virulent. Der Oberkommandierende wurde infiziert, das US-Manöver eingestellt, das Großmanöver gestrichen.

Jetzt bestimmt ein anderes Thema unsere Nachrichten auf allen Kanälen. Unter dem Druck weltweit grassierender Todesfälle und furchteinflößender Statistiken wird unsere Bevölkerung durch die Ausrichtung der Medien auf propagandistische Beeinflussung und durch Zwangsdrohungen ungekannten Bewegungseinschränkungen unterworfen. Selbst das Ausspionieren „uneinsichtiger“ Mitbürger über ihre Mobiltelefone wird in aller Öffentlichkeit propagiert. Grundrechtsbeschränkungen bringen demokratische und Freiheitsrechte ins Wanken. Rechtsextremisten fischen nach Anerkennung.

In Deutschland drängt uns währenddessen das Infektionsschutzgesetz in eine nie gekannte Isolation ab. Alten- und Pflegeheime, chronisch unterversorgt und mängelbehaftet, werden zu Internierungsstätten. Reha-Kliniken und ganze Krankenhaus-Abteilungen werden in Erwartung eines Ansturms von Covid19-Erkrankten geleert. Dem Gesundheitsbereich Deutschlands, bereits seit geraumer Zeit zugunsten privater Profite heruntergewirtschaftet, droht der Kollaps. Gefährliche Abhängigkeiten wurden geschaffen: Die Produktion von Medikamenten und medizinischer Ausrüstung wurde ins Ausland verlagert oder Betrieben in Billiglohnländern überlassen. Ärzte und Pfleger, auf Versorgung von Fallzahlen reduziert, haben bereits ihre Belastungsgrenze überschritten. Schon werden „Risikogruppen“ definiert, denen wegen fehlender Ausrüstung die rettende Beatmung versagt werden könnte. (Stichwort: Triage)* Konstruktionsfehler einer globalisierten Wirtschaft werden hier überdeutlich sichtbar.

Wesentliche Teile der Weltwirtschaft nähern sich dem Abgrund. In Deutschland droht einer Vielzahl von Klein- und Mittelbetrieben der Untergang. Sie sind Träger von 60 Prozent der Beschäftigten, doch die staatlichen Bonuszahlungen, die mit jeweils einigen tausend Euro der Rettung besonders kleiner Betriebe dienen sollen, sind gegenüber den Milliarden, die Großunternehmen bewilligt werden sollen, nichts als Augenwischerei.

Staatliche Freigabe von Kurzarbeit, Arbeitnehmer-Freistellungen oder anderen vorübergehenden Rettungsmaßnahmen geht ganz überwiegend zu Lasten der unteren und mittleren Einkommen. Das darf nicht hingenommen werden.

Im Nachbarland Frankreich gar beschwört Präsident Macron einen Krieg herauf, einen Gesundheitskrieg, der eine allgemeine Mobilisierung erfordere und in dem „alle Maßnahmen der Regierung und des Parlaments (…) nun auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet werden“ müssten. Angesichts vielfältiger Zusatzbefugnisse für Unternehmer ist das eine unverblümte Aufforderung an das Staatsvolk, selbst bei empfindlichen Einschnitten in Arbeitnehmerrechte stillzuhalten.

Solche martialischen Töne sind durchaus zum Nachdenken geeignet. Zum Beispiel darüber, dass wir bereits VOR dem Ausbruch der Pandemie am Rand einer weltweiten Finanzkrise standen. Einer Krise, die die Ereignisse von 2007/08 in den Schatten stellt. Da drängt sich die Frage auf: Welche mächtigen Allianzen in unserem globalen Wirtschaftssystem werden nun Mittel und Wege finden, die finanziellen Einbrüche, die augenblicklich für Millionen von Menschen verheerendes Unglück bedeuten, zu ihren Gunsten zu verkehren? **

Unser Ostermarsch ist der Pandemie zum Opfer gefallen. Aber wenn schon der Corona-Virus seine Aufmerksamkeit so stark auf sich zieht, sollten wir auch einen Blick nach draußen werfen. Zum Beispiel auf Gebiete, in denen aus Gründen machtpolitischer Einflussnahme Krisen hochgeschürt und am Laufen gehalten wurden.

UN-Generalsekretär António Guterres hat einen weltweiten Aufruf verfasst, angesichts der Corona-Pandemie alle Kampfhandlungen zu stoppen. Doch was kommt als Antwort? Nichts Gutes: Syrien und Iran unterliegen nach wie vor Sanktionen der westlichen Staaten. Sanktionen sind Krieg! Das Elend der geschundenen Bevölkerung, jetzt durch den Virus noch massiv verstärkt, schreit zum Himmel.

In den von der Türkei besetzten syrischen Gebieten werden Menschen gnadenlos als Schutzschilde für islamistische Militäreinheiten missbraucht.

Sie sind Geiseln von Terrorgruppen mit enger Verbindung zu den Nachfolgeorganisationen von Al-Kaida und IS, die von türkischen ebenso wie von britischen, US-amerikanischen und auch deutschen Militäreinheiten ausgebildet wurden und deren Unterstützung nie eingestellt wurde. Palästina in Gaza und Westbank ächzt unter einer israelischen Besatzungspolitik, die ihr nach dem Muster der Apartheid immer mehr die Luft zum Leben abwürgt. Dass ein im Bau befindliches Krankenhaus, in dem
Corona-Patienten hätten versorgt werden können, durch Militär zerstört wurde, ist sicherlich jedem fühlenden Wesen unbegreiflich und verstößt gegen elementare Menschenrechte.

Die Flüchtlingslager an der griechischen Grenze quellen über. Schon vor Monaten wurden alle Kapazitätsgrenzen für die Unterbringung der Geflohenen überschritten. Hunger, Durst, Frost, abartig schlechte hygienische Bedingungen mit allen  Folgekrankheiten und jetzt auch noch der eingeschleppte Virus bringen die Gefahr eines grausamen Todes mit sich. Die Rettung von Flüchtlingen, ob unterwegs oder in Lagern, wird nicht einmal mehr thematisiert, nicht einmal in den Städten, die sich als „Sicherer Hafen“ angeboten haben. Und dieser kleine Anteil von Kindern, deren Übersiedlung nach Europa von unseren führenden Politikern bereits zugesichert wurde, muss noch heute im Elend ausharren.

Und wir – mitten in der Festung der NATO?

Unser deutsches Vereidigungsministerium bereitet einen Ostereinkauf für den Krieg vor. Zwei Serien neuer Kampfbomber sollen in Auftrag gegeben werden, insgesamt 135 Kampfflugzeuge zu Beschaffungskosten von rund 33,5 Milliarden Euro (Berechnung des isw München). 90 dieser Kriegsjets sind Eurofighter, 45 sollen vom US-amerikanischen Rüstungskonzern Boeing geliefert werden. 15 davon, in der Version „Growler“, sind für den elektronischen Luftkampf bestimmt, und 30 sind in der ganz speziellen Version „Super-Hornet“ entwickelt, die sich als Nachfolger des Tornado als Atombombenträger bewähren sollen. Die „Super-Hornets“ wurden für den Transport und Abwurf der Atombomben konfiguriert, deren Sprengköpfe im rheinland-pfälzischen Büchel gelagert sind. Piloten des deutschen Luftgeschwaders 33 sollen sie zuverlässig zu den seit langem definierten Zielen bringen, die nach wie vor „im Feindesland“ Russland liegen.

Nach Ansicht von Fachleuten könnte der Zuschlag für Boeing zur Beschwichtigung der lautstarken Rufe aus den USA dienen, endlich 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausgaben zu reservieren. Von den Verwerfungen der Corona-Krise werde sich das Ministerium jedenfalls nicht beirren lassen, wurde verlautbart.

So bleibt in all dem Chaos der militärische „Flankenschutz“ funktionsfähig. Zudem sorgt die EU-Streitmacht PESCO an vielen Plätzen dieser Erde für eine Stabilisierung der globalen Machtverhältnisse: mit Schüren von Krisen, Kriegen oder Umstürzen. Auch das ungeachtet der Schäden an Mensch und Umwelt.

Die staatlichen Übereinkommen zwischen den USA und Russland, die die Menschheit vor der nuklearen Katastrophe bewahren sollten, befinden sich im freien Fall: Der INF-Vertrag zu Mittelstreckenraketen wurde von den USA und daraufhin auch von Russland gekündigt; der New Start-Vertrag zu Interkontinentalraketen läuft nur noch bis Februar 2021.

Und mit „Defender Europe 2020“ ist zwar ein Großmanöver ausgefallen, aber in zwei Jahren steht bereits das Nachfolgeprojekt an. Für uns soll das dennoch kein Grund sein, in Schockstarre zu verfallen.

Es gibt weiterhin viel zu tun. Bleibt dran, liebe Friedensfreunde!

 

Dorothea Litzba ist aktiv bei attac Aschaffenburg.

 

Anmerkungen:

*) Triage (von franz. trier: sortieren), ein aus der Militärmedizin stammendes Konzept, meint die Priorisierung dringend benötigter medizinischer Hilfsleistungen, ohne die schwerste Verletzungen bis hin zum Tod drohen.
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-triage-klinisch-ethische...

**) Die kanadische Umweltaktivistin Naomi Klein hat dazu schon 2007 in einer Buchveröffentlichung Überlegungen angestellt. Sie führte aus, wie Schocks wirtschaftlicher oder militärischer Art und Naturkatastrophen dazu genutzt werden können, über politischen Einfluss Privatisierungen gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen. Siehe: Naomi Klein: Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus; Aus dem Engl.; S. Fischer, Frankfurt am Main 2007

 

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