Redebeitrag für die Antikriegstagsveranstaltung am 1. September 2023 in Kassel

 

- Es gilt das gesprochene Wort! -
- Sperrfrist: 1.9.2023, Redebeginn: 17 Uhr -

 

Gedenkt der Opfer, tut Werke des Friedens!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,

Gedenkt der Opfer! Tut Werke des Friedens! Das ist für mich die Überschrift über den Antikriegstag – heute, 84 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des 2. Weltkrieges.

Diese beiden Sätze stehen auf einem grauen Granitstein auf dem Kirchhof in Dittershausen, wenige Kilometer von hier. Der erste erinnert uns an die Menschen, die im Krieg getötet wurden; in deren Leib und Seele sich die Kriege eingefressen hatten; an die, die nach dem Krieg in ihren Familien gefehlt haben: Väter, Mütter, Kinder, Großeltern, Geschwister. Kein Heldengedenken mehr! Zu groß war das Erschrecken über das Leid, das dieser Krieg über die Menschen gebracht hat; über die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Irrwege, die Deutschland und viele Deutsche gegangen waren; über die Bombennacht hier in Kassel im Oktober vor 80 Jahren. Nie wieder Krieg!

Ende 1964 wurde der Stein aufgestellt. Er steht damit auch für einen Aufbruch Richtung Versöhnung und zivile Konfliktlösungen: Tut Werke des Friedens! 1970 fällt Bundeskanzler Willy Brandt am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie. Viele setzen sich damals in Bewegung: sie wollen eine Zeitenwende im Ringen um Frieden, um weltweite Gerechtigkeit und bald auch schon um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.

Manche sagen: Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist diese Zeit zu Ende, die Frieden durch Verständigung und Abrüstung suchte. Wer genau hinschaut, wird sich vor Schwarz-Weiß Zeichnungen hüten. Denn auch nach 1945 ging es weiter um Macht und militärische Stärke, nur dass die Kriege nun überwiegend in Asien und Afrika geführt wurden. Und ab den 1990er Jahren verloren viele Staaten wieder das Interesse an einer regelbasierten Weltordnung, an einem Ausgleich durch internationale Organisationen und an Abrüstung. In Davos und München trafen sich die Mächtigen; sie vertrauten darauf, dass die unsichtbare Hand des Marktes auch in der Außen- und Sicherheitspolitik den Weg in die Zukunft bahnen werde – und wenn nicht, dann griff man eben auf militärische Mittel zurück. Spätestens seit der Jahrtausendwende galten Kriege wieder als legitimes Mittel der Politik. Die Ausgaben für Rüstung und Militär stiegen ins Unermessliche. Die Opfer gerieten aus dem Blick!

Gedenkt der Opfer und lasst sie zu Wort kommen! Auch jetzt in dem russischen Krieg gegen die Ukraine! Die Zahlen sind erschreckend! Und hinter jeder Zahl steckt eine Person und ihre Geschichte: Die Familie auf der Flucht, der Vater gefallen: wie sollen wir weiterleben? Das Entsetzen über Kriegsverbrechen und die Erfahrung, dass die eigenen Angehörigen in Russland den Erzählungen nicht glauben. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die verfolgt werden. Soldaten, die nicht wissen, wie sie wieder ins zivile Leben zurückkehren: „Du kannst das nicht verstehen, wenn du es nicht gerochen hast, das Geräusch nicht im Ohr hast, das Gefühl, was es bedeutet, jemanden zu töten.“(1)

Schärft euren Blick für die Opfer! Dann kommen auch die ökologischen Folgen der Kriege in den Blick: die Tiere, die sterben; die Schäden, die jede abgefeuerte Munition dem Klima zufügt. Dann sehen wir die Menschen, die im globalen Süden ihre Nahrungsmittel und ihre Energie nicht mehr bezahlen können. Wir erleben, wie bei Sozialleistungen oder bei Freiwilligendiensten gespart wird, um die Mittel für das Militär zu erhöhen. Im Jemen wird im Schatten des Krieges gegen die Ukraine jetzt noch leichter Krieg geführt wird, weil keiner mehr hinschaut. Autoritäre Herrscher treten die Menschenrechte in ihrem Machtbereich noch skrupelloser mit Füßen, weil sie (politisch und ökonomisch) umworben werden.

Jedes Opfer ist eines zu viel! Deshalb der zweite Satz: Tut Werke des Friedens!

1. Die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zeigen: ein gerechter und nachhaltiger Frieden wird nicht militärisch errungen. Wichtiger sind Strategien, die die Feindseligkeiten unterbrechen und Zwischenräume für Verhandlungen entdecken; zivile Konfliktlösungen, die den Hass nicht weiter schüren, die den Feinden ihre Menschlichkeit nicht absprechen.

Zurzeit sind unsere politischen Debatten in einer Logik der Eskalation gefangen, wie auf einer steilen Rutschbahn: immer mehr und bessere Waffen bis zum Sieg – auch wenn viele wissen, dass das unrealistisch ist. Wenn die eine Seite Streubomben benutzt, sieht sich die andere auch dazu berechtigt, auch wenn diese Waffen international geächtet sind.

Wir müssen runter von dieser Rutschbahn! Wir müssen den Menschen in der Ukraine gegen den brutalen Überfall Russlands beistehen; Gewalt, Krieg und Menschenverachtung dürfen sich nicht lohnen! Aber wir dürfen uns auch nicht von der Kriegslogik mitreißen lassen, sondern müssen alles dafür tun, dass der Krieg möglichst schnell durch Verhandlungen begrenzt und beendet wird.

2. Wir brauchen eine internationale Ordnung, die Menschen, Menschengruppen und Staaten verlässlich vor gewaltsamen Übergriffen schützt und Rechtsbrüche der Stärkeren nicht akzeptiert. Ob in Ruanda, in Srebrenica, im Jemen oder in der Ukraine, wir brauchen eine internationale Ordnung, die die entsprechenden politischen, rechtlichen, und ja auch die militärischen Mittel zur Verfügung hat, um dem Einhalt zu gebieten.

Schon jetzt kann die Staatengemeinschaft Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich verfolgen; aber nicht nur die drei Großen: China, Russland und USA weigern sich noch immer, sich den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofes zu unterwerfen.

Entscheidend ist eine Neuordnung der Macht in der UNO: Der Vorschlag Lichtensteins, dass nach jedem Veto im Sicherheitsrat darüber eine Debatte in der Vollversammlung der UN geführt werden muss, ist ein erster Schritt. Dass eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung ein Veto des Sicherheitsrates überstimmen kann, wäre ein wichtiger zweiter; er hätte zu einer klaren Verurteilung Russlands geführt.(2) Ein dritter Vorschlag: Wer militärische Gewalt einsetzt, ohne dass dies durch die UN-Vollversammlung legitimiert ist, dessen Stimmrecht im Sicherheitsrat ruht.(3) Wir werden das Völkerrecht und die Menschenrechte langfristig nur sichern und Verstöße begrenzen, wenn die Vereinten Nationen in diesem Geist gestärkt werden.

3. Keines der Probleme, die die Welt derzeit bewegen, lässt sich militärisch lösen: Klimawandel, Migration, soziale Ungleichheit, …. Wir brauchen eine Weltinnenpolitik mit einem langen Atem, einem weiten Horizont und vor allem dem Mut, einen gerechten Frieden zu wagen. Wie stellen wir uns das Miteinander mit Russland in Europa in fünf, zehn oder dreißig Jahren vor? Wie mit China oder Indien? Wir brauchen dazu breite politische, kontroverse Debatten, unter uns, national und international. Wenn die Militärstrategen vorhersagen, dass es in den kommenden 10-15 Jahren einen Krieg im Indopazifik geben wird, dann heißt: Tut Werke des Friedens! Deutschland darf keine U-Boote an Indien verkaufen, an eine Atommacht, die aufrüstet, weil sie sich sowohl mit China wie mit Pakistan in massiven Konflikten befindet.

Wir brauchen starke, plurale Zivilgesellschaften (4), die eine zivile Bearbeitung von Konflikten einüben und sie in ihre jeweiligen Länder hineintragen. Wir brauchen die vielen jungen und immer häufiger auch älteren Menschen, die sich mit „weltwärts“ oder anderen Freiwilligendiensten auf den Weg in die Welt und in ihre sozialen und ökologischen Konflikte machen, um etwas für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun. Sie setzen Hoffnungszeichen für das Überleben unseres Planeten.

Wir müssen uns vernetzen, national und international: Friedensbewegung und Klimabewegung, Parteien, Gewerkschaften und Umweltverbände, Menschrechts- und Eine Welt Gruppen. Wir brauchen international abgesprochene Aktionen gegen Krieg und Rüstung. Nur gemeinsam werden wir die Kraft haben, uns den Autokratien weltweit entgegenzustellen, die ihre Einflusssphären untereinander aufteilen und in ihrem jeweiligen Machtbereich die Rechte von Frauen, von Andersdenkenden, von Verwundbaren und Minderheiten bestreiten und mit Gewalt ihr Recht durchsetzen.

Vielleicht hätten wir, statt schnell alle Städtepartnerschaften mit Russland auszusetzen, gerade den Kontakt halten sollen: den Partnerinnen und Partnern deutlich sagen, dass dieser Krieg Unrecht und völkerrechtswidrig ist, aber doch reden – und die Menschen stärken, die sich in Russland gegen den Krieg wehren! Das Ehepaar, das an den Dorfladen geschrieben hat: „Verzeih uns, Ukraine!“ „Der Mann wurde für sechseinhalb Jahre eingesperrt, die Frau für sieben.“ (5) Was ändert sich an unserem Handeln, wenn wir hören, dass der Krieg die Menschen in Russland spaltet, bis tief hinein in die Familien?

Wer den Krieg überwinden und militärische Gewalt eindämmen will, muss heraus aus der Logik, die nur Freund oder Feind kennt. Muss nach zivilen Lösungen für Konflikte suchen, muss bereit sein zur Begegnung, auch mit denen, die andere Interessen haben, selbst mit den Feinden.

Gedenkt der Opfer! Tut Werke des Friedens! Das ist der Auftrag des Antikriegstages!

Vielen Dank.

 

Jochen Cornelius-Bundschuh ist ev. Theologe und ehem. Landesbischof der Ev. Landeskirche in Baden (EKiB).

 

Anmerkungen:

  • (1) “You can’t understand because you haven’t smelled it, heard the sounds, the feeling of what it’s like to kill someone,” one said. NYT, 16.8.2023 (Übersetzung, jcb)
  • (2) Vgl. die Schweizer Motion (NZZ vom 9.3.2023): „Die Motion sah vor, dass der Bundesrat die Weitergabe von Kriegsmaterial hätte ermöglichen können, wenn eine von zwei neu eingebrachten Bedingungen erfüllt wären: Entweder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen würde in einer Resolution einen militärischen Angriff (wie jenen der Russen) als «Widerspruch zum völkerrechtlichen Gewaltverbot» deklarieren. Oder aber eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung der Vereinten Nationen würde einen «Verstoss gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot» feststellen.“
  • (3) Das hätte im Irakkrieg auch die USA und Großbritannien betroffen.
  • (4) Vgl. den seit 2018 jährlich von Brot für die Welt mit Partnern herausgegebenen „Atlas der Zivilgesellschaft“, der die Bedrohungen und Einschränkungen des civic space eindrücklich dokumentiert. Ziel 16 der SDGs heißt: „Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.“
  • (5) SZ vom 26./27.8.2023, 13.