Redebeitrag für den Ostermarsch in Würzburg am 8. April 2023

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Ausgrenzen ist Blei, Reden ist Gold

Vom 21. bis 24. Februar fand die diesjährige OSZE-Wintertagung in Wien statt. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine waren zum ersten Mal wieder russische und belarussische Abgeordnete zugelassen. Ein Teilnehmer berichtet: „In den vorangegangenen Parlamentarischen Versammlungen in Birmingham und in Warschau haben ihnen Großbritannien und Polen statutenwidrig und unter Missachtung der historischen Rolle der OSZE die Visa verweigert. ...
… Die Wortbeiträge der russischen und belarussischen Delegationen wurden an das Ende der Tagung gelegt. Die Hälfte der Anwesenden verließ den Saal, als sie das Wort ergriffen, und ein echter Dialog kam so nicht zustande. Die Debatten waren geprägt von eskalierender Rhetorik.“
[Quelle: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-3-vom-6-m%C3%A4rz-2023.html#article_1487]

Mit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wurden auch russische Kulturschaffende vom internationalen Kulturbetrieb ausgeschlossen wie auch Sportlerinnen und Sportler von Wettkämpfen. Jugendaustausch, Partnerschaftsprojekte, all das kommt mit den russischen Parias nicht mehr in Frage. Russinnen und Russen im Ausland sehen sich Misstrauen und offenen Anfeindungen ausgesetzt.
Waren dies je auch Bürgerinnen und Bürger all jener Staaten, welche die nicht minder furchtbaren Kriege in Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan, in Libyen zu verantworten haben?
Der emeritierte Professor für Philosophie Reinhard Hesse, u. a. auch ehemaliger OSZE-Wahlbeobachter, berichtet von seiner Reise nach Kaliningrad unter der Überschrift „Philosophie und Wissenschaft als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?“ Hier ein Auszug aus seinem Reisebericht, veröffentlicht im Januar 2023:  
„Mitte September habe ich als Tourist in Königsberg das Grab Kants besucht und einen Abstecher zum Kant-Institut an der „Baltischen Kant-Universität Kaliningrad“ gemacht, um mich dort für den alle fünf Jahre stattfindenden internationalen Kant-Kongress im April 2024, also zum 300. Geburtstag Kants, registrieren zu lassen.
In diesem Zusammenhang erfuhr ich, dass deutscherseits als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine die Mitwirkung bei der Vorbereitung des Kongresses eingestellt worden sei. Es herrsche Funkstille.
Ich muss gestehen, ich war bestürzt. Was hat Kants Philosophie mit dem Ukrainekonflikt zu tun?, fragte ich mich.
Und auch: Wie sollen sich diejenigen russischen Philosophen fühlen, die die gegenwärtige russische Politik selbst ablehnen? Warum bricht man den Kontakt mit ihnen ab? Erst in der persönlichen Begegnung mit den Betroffenen wurde mir wirklich klar, was der Kontaktabbruch konkret bedeutet.
Wurden die philosophischen Kontakte mit anderen Ländern ebenfalls eingestellt, wenn deren Regierungen gegen das Völkerrecht verstießen? Hat man Yale und Harvard boykottiert, weil Amerika Jugoslawien oder den Irak (und etliche andere Staaten) völkerrechtswidrig angegriffen und dort hunderttausende ziviler Opfer verursacht hat?
Wäre es nicht vernünftiger, gerade jetzt das Gegenteil zu machen: Intensivierung des Kontakts, Verbreiterung des Austausches, Vertiefung des Gesprächs?
Ist denn die Wissenschaft – um das bekannte Clausewitz-Wort zu variieren – eine Art Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?
Eine „Gegenseite“, einen „Feind“, gibt es in ihr nicht. Es gibt nur Diskussionspartner. Diese können verschiedener Meinung sein und gegeneinander argumentieren. Aber indem sie gegeneinander argumentieren, anerkennen sie notwendigerweise ihre Argumentationspartner als Gleiche.
Sollte man nicht diese „Friedenslogik“ der „Kriegslogik“ entgegensetzen?
Gibt es denn etwas Wichtigeres als das Gespräch, als die gemeinsame, auf Gegenargumente hörende Suche nach der Wahrheit und nach dem richtigen Weg? Und gilt das nicht gerade in Kriegszeiten?
Wie kann man sich noch auf Kant berufen, wenn man das vergisst?
Es kann doch nicht ohne Belang sein, wenn das aller elementarste, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch allgemein menschliche Grundprinzip zivilisierten Lebens – nämlich, dass man miteinander redet – missachtet wird. Ja, wenn offen dazu aufgerufen wird, es zu missachten!
Denn wenn man sich zu diesem Niedrigsten hinreißen lässt, bleibt konsequenterweise am Ende wirklich nur noch die Gewalt, der Krieg. Der Kontaktabbruch ist dann der erste Schritt dazu.
Meinem Großvater Heinrich Hesse wurde erklärt, es sei für einen Deutschen ungehörig, sich mit Franzosen einzulassen, er sei dann ein Französling. Dann wurde er in den Krieg geschickt, um möglichst viele dieser Leute, mit denen es keinen Sinn hat zu sprechen, abzumurksen.

Meinem Vater Heinz Hesse wurde erklärt, es sei für einen Deutschen ungehörig, sich mit Juden einzulassen, er sei dann ein Jüdling. Dann wurde er in einen noch größer angelegten Krieg geschickt, in dem es nicht zuletzt darum ging, möglichst viele dieser Leute, mit denen es sich nicht gehört zu sprechen, abzumurksen.
Ihrem Enkel bzw. Sohn Reinhard wird nun bedeutet, es sei ungehörig für ihn als deutschen Wissenschaftler, sich mit Russen einzulassen, er sei dann Russlandversteher o.ä. Mit diesen Leuten spreche man nicht.
Nicht der Gesprächsabbruch, sondern im Gegenteil die Gesprächsintensivierung ist der Weg, den zivilisierte Menschen in Konfliktsituationen wählen müssen, wollen sie nicht sich selbst diskreditieren.
Darum müssen wir kämpfen – nicht nur, weil wir das, kantisch gesprochen, unserer Würde als Vernunftwesen schuldig sind, sondern auch, um in der konkret gegebenen historischen Situation Entwicklungen zu stoppen, die zu Katastrophen führen.“
[Quelle. https://www.nachdenkseiten.de/?p=92578#more-92578]

In Umkehrung des altbekannten Sprichworts „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ steht dieser Ostermarsch-Beitrag unter der Überschrift „Ausgrenzen ist Blei, Reden ist Gold“.
Denn wir haben keine Zeit mehr für Systemkriege und für den humanitären, ökologischen und ökonomischen Wahnsinn eines alles dominierenden Rüstungswettlaufs. Wir müssen die in Panzer, Raketen und Atomsprengköpfe gegossenen archaischen Feindseligkeiten und die destruktive Herrschaftslogik endlich überwinden! Es gilt, mit Professor Hesse gesprochen, vorbehaltlos willens zu sein, miteinander zu reden und an einem Strang zu ziehen, um unseres gemeinsamen planetaren Überlebens willen.

 

 

Eva Peteler, Florakreis Würzburg