Die Rückkehr der Taliban und die epochale Niederlage der USA

Afghanistan heute

von Matin Baraki
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Die Taliban sitzen seit dem 15.8.2021 wieder im Präsidentenpalast der afghanischen Hauptstadt Kabul. „Der Krieg ist zu Ende“, verkündete unmittelbar danach der Taliban-Sprecher Sabihulla Mujahed und damit die Geburtsstunde des Islamischen Emirats Afghanistan (IEA). Der mit einem US-Pass ausgestattete Präsident Aschraf Ghani flüchtete mit seiner Entourage und über 100 Millionen US-Dollar (1) im Gepäck mit einem US-Hubschrauber nach Usbekistan. Die Machtübernahme der Taliban ist die größte epochale Niederlage der USA nach ihrem Desaster in Vietnam 1975. Bevor die US-Soldateska am 30.8. den Kabuler Flughafen verlies, zerstörte sie 20 Flugzeuge, technische Einrichtungen und Gebäude; außerdem wurden weitere 46 Kampfjets und 40 Hubschrauber nach Tadschikistan und Usbekistan verlegt.

In den letzten Stunden vor ihrer Flucht hat die US-Armee auf einen Verdacht hin mittels einer Drohne eine Rakete auf ein Fahrzeug gefeuert. Der US-Generalstabschef Mark Milley bezeichnete den Angriff als „gerechten Schlag“, als Reaktion auf das angebliche Selbstmordattentat eines Terroristen vom „Islamischen Staat Khorasan“ (IS-K) am 26.8.2021, wobei 13 US-Soldaten getötet worden waren. Die Recherche der Journalisten ergab aber, dass der Fahrer des Wagens zu den Mitarbeitern einer Hilfsorganisation gehörte. Bei dem US-Angriff wurde er mitsamt von neun Mitgliedern seiner Familie, darunter sieben Kinder getötet. Trotz zwanzig Jahre Krieg, Besatzung und unter Einsatz von unzähligen von afghanischen und US-Spionen ist es den Vereinigten Staaten nicht gelungen, „die Guten von den Bösen zu unterscheiden.“ (2) Da die afghanischen Opfer statistisch nicht erfasst wurden, weiß man über die Opferzahl nichts Genaues. Neuesten Angaben zufolge haben 240. 000 Menschen am Hindukusch ihr Leben verloren. (3)

Warum hat die ANA sich kampflos ergeben?
Seit dem 6.8.2021, als die Taliban immer weiter vorgerückt waren, haben sich sowohl die Afghanische National Armee (ANA) als auch die neu gebildeten Volksmilizen zur Bekämpfung der Taliban zum größten Teil widerstandslos ergeben. Vielerorts hatten die bedrängten ANA-Soldaten verzweifelte Hilferufe nach Kabul geschickt, jedoch ohne Erfolg. Zum Teil gingen ihnen sogar die Lebensmittel aus. Es gab auch mancherorts zwischen den Feldkommandeuren der Taliban sowie den vernachlässigten, dem Regime und den USA kritisch und misstrauisch stehenden ANA-Offizieren, Absprachen.

Die NATO prahlte damit, 350.000 Sicherheitskräfte bestens ausgebildet und ausgerüstet zu haben. Nach Angaben des letzten afghanischen Finanzministers Khalid Payenda hatten in der ANA tatsächlich „nicht einmal 50.000 Mann“ (4) gedient. Afghanistan hatte keine National- sondern eher eine Geisterarmee.

Der Verteidigungsminister, der als Chef einer Entführungsindustrie bekannte Mohammad Qasim Fahim und seine Generäle haben die Zahl der Soldaten „mindestens sechsmal höher angegeben“ (ebda), als es in der Realität der Fall war, um das Geld, das für ihren Sold und Unterhalt von den westlichen Ländern bezahlt wurde, in ihre eigene Tasche zu stecken, berichtete Khalid Payenda der BBC am 10.11.2021.

Die Soldaten der ANA sahen nicht mehr ein, sich für ein Regime, das sich von einer rabiaten Räuberbande in nichts unterschied, das seit Ende 2001 vom Ausland eingesetzt und gesteuert wurde, ihr Leben zu opfern. „Afghanistan sei Geisel einer von der Mafia kontrollierten Gruppe von Politikern, die sich an den wertvollen internationalen Hilfszahlungen bereicherten, die eigentlich das Leben der Menschen verbessern sollten“ (5), schrieb Abdul Qadeer Fitrat, Präsident der afghanischen Zentralbank, in seinen Memoiren.

Neo-Taliban?
Ideologisch betrachtet, unterscheiden sich die alten und die Neo-Taliban in nichts voneinander. Ihre Ideologie basiert auf dem islamischen Fundamentalismus, beeinflusst von konservativen islamischen Strömungen aus Pakistan und den arabischen Scheichtümern, besonders vom saudi-arabischen Wahhabismus. In ihrem Rechtsverständnis berufen sie sich auf die „Scharia“, sie basiere auf dem heiligen Koran. Daraus leiten die muslimischen Geistlichen ihren göttlichen Ursprung ab. Sie ist jedoch dort nicht erklärt. Daher lässt er einen großen Spielraum für Interpretationen und Anwendungsmöglichkeiten für drastische Strafmaßnahmen, wie Auspeitschen oder Händeabhacken bis zu Steinigungen.

Politisch zu beurteilen sind jedoch die Neo-Taliban und nicht jene von 1996 oder 2001. Damals wurde die ungebildete Masse der Kämpfer der Taliban von wenig gebildeten Dorfgeistlichen angeführt. Die jetzige Generation der Taliban hat in pakistanischen Koranschulen ihre ideologische sowie eine militärische Ausbildung durchlaufen. Sie sind im Kampf aufgewachsen und haben einen langen und bitteren Lernprozess hinter sich. Die derzeitigen Führer sind meistens Absolventen der pakistanischen theologischen Hochschulen. Sie sprechen mehrere Sprachen, darunter Paschto, Dari, Urdu und teils auch Englisch. Die Taliban beherrschen inzwischen nicht nur den militärischen Kampf und Strategie, sondern auch Diplomatie und Politik. Sie haben im Februar 2020 in der katarischen Hauptstadt Doha bei Verhandlungen den US-Diplomaten Zalmay Khalilzad über den Tisch gezogen und die USA vertraglich dazu verpflichtet, ihre Armee aus Afghanistan abzuziehen.

Frauenpolitik der Taliban
Als sie am 8.8.2021 Kunduz eingenommen hatten, teilten mir Frauen von dort mit, dass man ihnen nichts angetan hätte. Nach der Einnahme der Stadt Kabul am 15.8. kontrollierten die Talibandie Autos und gaben den Fahrern einen Passierschein, wenn sie keine Waffen gefunden hatten. Die Geschäfte wurden kurz danach teilweise wieder geöffnet, die fliegenden Händler waren auf dem Basar und die Frauen waren beim Einkaufen zu sehen, zum Teil verschleiert, aber auch unverschleiert, wie ich am 16.8.2021 im afghanischen TV sehen konnte.

Die Taliban wissen, dass es in Afghanistan immer noch ausgebildete Frauen gibt, die nicht Kollaborateurinnen waren, die das Land nicht verlassen haben oder von den NATO-Ländern nicht ausgeflogen werden konnten oder wollten. Am 28.8.2021 gaben die Taliban eine Meldung heraus, in der sie alle Frauen, die im Gesundheitswesen tätig waren, aufforderten, zur Arbeit zu erscheinen, berichtete der Deutschlandfunk. Sie würden Mädchen und jungen Frauen erlauben, Schulen und Universitäten zu besuchen sowie arbeiten zu dürfen, jedoch unter Achtung der islamischen Regeln. Eine Koedukation lehnte der kommissarische Minister für Hochschulwesen, Abdul Baqi Haqqani, als unislamisch ab. Am 31.1.2022 haben die Hochschulen in den warmen und am 26.2.2022 in den kalten Provinzen ihren Betrieb für Männer und Frauen aufgenommen. Wie Minister Haqqani angekündigt hatte, wurde die zuvor übliche Koedukation an den Universitäten aufgehoben. Vormittags besuchen die Studentinnen und nachmittags die Studenten die Universitäten.

Das Verhalten der Taliban im Umgang mit Frauen ist widersprüchlich, durch patriarchalische Vorstellungen und von Stammessitten geprägt und historisch gewachsen sowie gesellschaftlich begründet.

Der religiöse Führer der Taliban, Maulawi Hibatullah Achundsadah, verkündete am 3.12.2021 einen Erlass, in dem er die Geistlichkeit und die Stammesführer aufforderte, sich für die Verwirklichung der Rechte von Frauen einzusetzen und von allen Ministerien und der Talibanorganisation verlangte, sich für die Umsetzung des Erlasses einzusetzen. (6) Das Ministerium für die Ordnung, die Tugend und die Verhinderung des Lasters verbreitete in Kabul Plakate mit verschleierten Frauengesichtern, die als Vorschlag an die afghanischen Frauen gerichtet wären. Man zwinge jedoch keine Frauen zum Tragen der Burka. „Wir ermutigen unsere Frauen nur dazu“ (7), sagte ein Ministerialbeamter. Die wahren Hintergründe dieses sanften Drucks erkannten die afghanischen Frauen und haben sich dagegen gewehrt. Am 11.1.2022 protestierten junge Afghaninnen unverschleiert in Kabul und skandierten: „Schleier ist weder islamisch noch afghanisch“.

Taliban wollen Zusammenarbeit
Schon vor der Einnahme Kabuls am 15.8. haben Delegationen der Taliban in Moskau, Teheran und Peking Gespräche geführt. Sie ließen verlautbaren, dass von afghanischem Boden keine Gefahr für die Nachbarn ausgehen werde. Sie strebten nach internationaler Anerkennung und allseitiger Zusammenarbeit, auch mit den USA und der BRD. „Deutschland ist willkommen“, sagte Mujahed am 5.9.2021 gegenüber der „Welt am Sonntag“. Die Taliban wünschen sich von Deutschland und anderen Ländern finanzielle Unterstützung, humanitäre Hilfe und Zusammenarbeit auf den Gebieten Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft. (8)

Seit ihrer Machtübernahme haben weitere Taliban-Delegationen in Moskau, Teheran und Peking Gespräche geführt und an den Afghanistan-Konferenzen in Delhi, Islamabad und Doha teilgenommen. Seit dem 23.1.2022 hielt sich eine 15-köpfige Delegation des IEA unter der Leitung des kommissarischen Außenministers Amir Chan Muttaqi bei einer dreitägigen Afghanistan-Konferenz in Oslo auf. Es wurden mit Diplomat*innen aus den USA, Großbritannien, Deutschalnds, der UNO sowie mit Expert*innen, Vertreter*innen von Hilfsorganisationen, der afghanischen Zivilgesellschaft und Frauen Gespräche geführt. (9)

Taliban: Fundis und Realos
Die Taliban sind keine homogene Gruppe. Es gibt nicht die Taliban. Die Bewegung besteht zumindest in der Führungsebene aus Fundis und Realos. Deren geistlicher Führer Mawlawi Heibatullah Achundsada ist ein Fundi, während der Leiter des politischen Büros der Taliban in Katar und Verhandlungsführer bei den US-Abzugsgesprächen mit dem US-Vertreter Zalmay Khalilzad, Mullah Abdul Ghani Baradar, ein Realo ist.

Mullah Mohammad Hassan, der „als Mann Pakistans“ (10) bezeichnet wird, wurde kommissarischer Regierungschef. Zu seinem Stellvertreter wurde Baradar ernannt. Dieser galt als aussichtsreicher Kandidat für den künftigen Regierungschef. Aber am Vorabend der Regierungsbildung kam Faiz Hameed, Chef des pakistanischen Geheimdienstes (ISI), nach Kabul und verhinderte seine Wahl.

Wenn die Afghanen „Glück“ haben, werden sie ein islamisches Regime wie in Iran bekommen. Haben sie jedoch Pech, könnte ein Regime nach saudi-arabischem Muster entstehen.

Da die USA nun vertrieben sind, die korrupte Administration kapituliert hat, besteht  Hoffnung für friedliche Verhältnisse am Hindukusch. Das ist auch das A und O dessen, was sich die absolute Mehrheit der Afghan*innen wünscht. Nach vierzig Jahren Bürgerkrieg und zwanzig Jahren NATO-Krieg sehnen sich die afghanischen Völker nur noch nach Frieden! Um diesen Wunsch Realität werden zu lassen, müssen die fünf Prinzipien des Völkerrechts auch und gerade jetzt am Hindukusch respektiert werden. Eines dieser Prinzipien lautet: „Keine Einmischung in innere Angelegenheiten des Anderen.“ (11) Afghanistan muss endlich zur Ruhe kommen, und die Völker dieses geschundenen Landes müssen über ihr Schicksal selbst bestimmen. Es wird kein demokratisches und fortschrittliches Afghanistan sein, aber das ist die Angelegenheit der Menschen am Hindukusch.

Die entscheidende Frage ist, ob es eine Alternative zu den Taliban gibt? Wir müssen ganz nüchtern feststellen, dass die Vorgänger-Regierungen von den Linken über die islamistischen Mudjahedin, bis zu den von den USA eingesetzten bürgerlichen Amerika- und Euro-Afghanen versagt haben. Ob es uns gefällt oder nicht, die Taliban sind Realität. Sie müssen in die regionalen und internationalen, politischen wie ökonomischen Strukturen integriert und durch entwicklungspolitische Zusammenarbeit zu Kompromissen und Reformen gedrängt werden. Eine demokratische Alternative zu den Taliban ist zurzeit nicht in Sicht. Würden auch sie scheitern, wäre der Weg für den Islamischen Staat (IS) und seinen Verbündeten Al-Qaida bereitet. Das wäre wiederum ein Alibiargument für einen erneuten US-NATO-Krieg gegen Afghanistan.

Anmerkungen
1 Vgl. Wahab, Zaher im Gespräch mit Rüdiger Göbel: „Die Sanktionen gegen Afghanistan sind Völkermord in Zeitlupe“, NachDenkenSeiten, 12.1.2022. https://www.nachdenkseiten.de/?p=79641.
2 Whitlock, Craig: Die Afghanistan Papers – Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg, Berlin, 2021, S. 356.
3 Wenger, Natalie u.a. in: NZZ-Online, 19.08.2021
4 Armee der „Geistersoldaten“?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 11.11.2021, S. 6.
5 Fitrat, Abdul Qadeer: The Tragedy of Kabul Bank, New York 2018, zitiert nach: Whitlock, Craig: Die Afghanistan Papers, a.a.O., S. 254
6 Erlass des Talibanführers bezüglich der Frauenrechte: Frauen sind nicht Ware, sie sind freie und echte Menschen, Kabul, 12. Qaus 1400 [3.12.2021] BBC-Farsi, London
7 Avenarius, Tomas: Als wäre nichts gewesen, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 8.2.2022, S. 3.
8 Vgl. Afghanistan: Taliban wollen offizielle diplomatische Beziehung mit Deutschland, in: Welt am Sonntag, 5.9.2021.
9 Vgl. Avenarius, Tomas/Strittmatter, Kai: Taliban in Oslo, in: SZ, 24.1.2022, S. 9.
10 Haneke, Alexander: Ein Mann Pakistans?, in: FAZ, 9.9.2021, S. 8
11 Handbuch der Verträge 1871-1964, Berlin 1968, S. 558

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