Gegen das gewollte Sterbenlassen auf dem Mittelmeer

Alarmphone

von Britta Rabe
Schwerpunkt
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Nach dem Ende der Operation „Mare Nostrum“, dem einjährigen Seenotrettungsprogamm Italiens, das im Oktober 2013 nach zwei großen Schiffsunglücken vor Libyen vorübergehend aktiv war, begannen wir als Watch the Med Alarmphone unsere Arbeit. Unabhängig davon entstand eine weitere zivilgesellschaftliche Antwort: Die zivile Seenotrettung. Ihre Schiffe waren bald einem ständigen staatlichen Druck ausgesetzt, denn die europäische Lösung auf Migration heißt nicht Seenotrettung, sondern Abwehr. Die Diffamierung als „Schlepper“ und die darauf folgende Festsetzung und Kriminalisierung der „Iuventa“, des Schiffes der Organisation „Jugend rettet“, waren der Beginn einer bis heute andauernden Welle von Behinderungen der NGO-Schiffe. Ihre Blockade verläuft aktuell subtiler mithilfe administrativer Anordnungen.

2020 lagen die Schiffe der zivilen Seenotrettung die meiste Zeit in europäischen Häfen fest. Rund 3.700 Menschen wurden von der zivilen Rettungsflotte gerettet, von insgesamt über 27.000 Menschen, die im vergangenen Jahr die Flucht aus Libyen versuchten. Mit rund 10.000 von ihnen auf 172 Booten war das Alarmphone in Kontakt.

Boat-People werden im Bereich der 170 km weiten libyschen Such- und Rettungs-Zone (SAR-Zone) entweder gar nicht gerettet – obwohl das Gebiet zum internationalen Gewässer zählt und die Intervention der Küstenwachen Maltas und Italiens rechtlich möglich wäre – oder sie werden von den Menschenjägern der so genannten Libyschen Küstenwache nach Libyen geschafft. Zurück in ein Kriegsgebiet und in die Folterlager, denen die Menschen entkommen wollen. „Pushbacks“ nach Libyen sind für EU-Staaten illegal, ebenso die indirekten „Pullbacks“ mithilfe der sogenannten Libyschen Küstenwache. Doch allein 2020 wurden mit 11.891 gewaltsamen Rückführungen nach Libyen Fakten geschaffen, rechtliche Konsequenzen sind die Ausnahme. Das Aufspüren von Booten ist dabei nicht dem Zufall überlassen, dies besorgt Frontex per Luftaufklärung. Von ihren Patrouillenflügen vor der libyschen Küste meldet sie Boote auf dem Weg Richtung Norden. Diese sollen möglichst schon vor Erreichen der Maltesischen SAR-Zone abgefangen werden, so lauten die Übereinkommen zwischen Malta, Italien und Libyen. Doch selbst wenn Boat-People die „Europäische Rettungszone“ erreichen, bedeutet dies keine Sicherheit: Wir konnten bereits mehrere Fälle von illegalen Rückführungen aus der Maltesischen SAR-Zone nach Libyen nachweisen.

Die Libysche Küstenwache hält für die EU Flüchtende ab, von ihr ist aber keine Rettung zu erwarten. Immer wieder geraten Menschen direkt vor der Küste Libyens in akute Seenot. Schaffen sie es nicht, aus eigener Kraft zurück an die Küste oder von lokalen Fischern gerettet zu werden, droht das Ertrinken. Die sogenannte Libysche Küstenwache ist in Notfällen entweder gar nicht erreichbar, sie kommt Stunden zu spät oder gar nicht. Dies war etwa am 9. Februar 2020 der Fall. Wir erhielten einen Notruf von einem Boot nahe der Libyschen Küste. Im Hintergrund waren panische Stimmen zu hören. Der Kontakt zum Boot brach ab. Wir verständigten die Küstenwachen und machten auf den Ernst der Lage aufmerksam. Die sog. Libysche Küstenwache erwiderte, sie werde nicht retten, da die Detention Center voll seien. Italien und Malta erklärten sich wie üblich für nicht zuständig. Tage später erhielten wir die ersten Gesuche nach Vermissten. Verwandte sprachen übereinstimmend von einem schwarzen Schlauchboot, das am frühen Morgen des 9. Februar vom libyschen Garabulli losgefahren war. Wir haben das Unglück rekonstruiert und eine Liste von 62 Vermissten erstellt. Niemand von ihnen ist bislang wieder aufgetaucht. Wir werden ihre Namen nicht vergessen.

Die für die SAR-Zone Maltas zuständigen Armed Forces of Malta sind nicht besser: Die dortige Leitstelle RCC Malta organisiert heimlich illegale Pushbacks durch die sogenannte Libysche Küstenwache oder chartert private Schiffe, wie wir Ostern 2020 erleben mussten. Mit dieser Strategie reduzierte Malta die Ankünfte von Flüchtenden im vergangenen Jahr von 1699 im ersten Halbjahr auf 582 Menschen im zweiten Halbjahr. Kein Schiff der zivilen Rettungsflotte erhielt 2020 zudem die Erlaubnis, Gerettete in Malta an Land zu lassen. Auch der Frachter Maersk Etienne mit 27 Geretteten an Bord wartete im Sommer 38 Tage vergeblich auf Einlass. Erst die „Mare Jonio“ der NGO „Mediterranea Saving Humans“ setzte dem Warten ein Ende, nahm die Geflüchteten auf und brachte sie nach Sizilien.

Wir erfahren von unterlassener Hilfeleistung und anderen kriminellen Akten der Küstenwachen inzwischen recht häufig. Betroffene melden sich bei uns, um detailliert zu berichten, was ihnen während der erzwungenen Rückkehr nach Libyen oder der Angriffe der europäischen Küstenwachen widerfahren ist. Wir sind dankbar über das Vertrauen, das uns die Menschen entgegenbringen und tragen ihre Berichte zusammen, recherchieren und veröffentlichen diese Verbrechen, von denen sonst niemand erfahren würde.

Menschen sollten nicht gezwungen sein, das Meer in überfüllten und unsicheren Booten zu überqueren, um sich in Sicherheit zu bringen. Nur legale Fluchtwege sind die Alternative. Bis dahin werden wir als Alarmphone weitermachen – Seite an Seite mit unseren Freund*innen der zivilen Seenotrettung.

Das Watch the Med Alarmphone ist ein transnationales Netzwerk von rund 150 Aktivist*innen, verteilt über 12 Länder. Wir betreiben das Alarmphone seit Herbst 2014 ehrenamtlich als Telefonhotline für Geflüchtete in Seenot auf dem gesamten Mittelmeer, vornehmlich auf den Hauptrouten Marokko - Spanien, Türkei - Griechenland und Libyen - Italien/Malta. Das Telefon ist rund um die Uhr, sieben Tage die Woche besetzt. Wir empfangen Notrufe und üben Druck auf die zuständigen Küstenwachen aus; wir dienen als Verstärker für die Stimmen derjenigen, die in Europa nichts zählen: den Menschen auf der Flucht.

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Britta Rabe arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie.