Kurzbericht der Irakkonferenz vom 8. bis 10. März 2008 in Berlin

"Alternativen zu Besatzung und Krieg"

von Joachim Guillard
Initiativen
Initiativen
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Trotz des Streiks der Berliner Verkehrsbetriebe fanden am Freitag etwa 300 und am Samstag rund 400 Teilnehmer den Weg ins Audimax der Humboldt-Universität, um sich über die Situation im Irak zu informieren und über Alternativen zu Krieg und Besatzung zu diskutieren. Über 100 AktivistInnen berieten im Anschluss am Sonntag in den vier Projektgruppen im Haus der Demokratie konkrete Möglichkeiten der Solidarität mit der irakischen Bevölkerung und des Engagements gegen den Krieg.

Die Konferenz selbst hielt, was das Programm versprach. Die Referentinnen und Referenten, die meisten aus dem Irak oder aus den USA, berichteten in eindrucksvollen Vorträgen über die grauenhafte Situation der Menschen im Zweistromland: Das Leben ist geprägt durch alltägliche Gewalt, zum einen durch die Besatzungstruppen selbst, zum anderen durch die Ergebnisse einer Politik des "teile und herrsche", die ethnische und religiöse Spaltungen planvoll zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft einsetzt.

Die Frage nach der tatsächlichen Zahl der Opfer ist politisch von höchster Brisanz, wie Roberts die Reaktionen von Politik und Medien zeigten. Zuletzt wurden ihnen eine von der WHO unterstützte Studie der irakischen Regierung entgegengestellt, die die Zahl der Opfer ebenfalls durch eine repräsentative Befragung vor Ort geschätzt hat. Mit 150.000 kam sie nur auf ein Viertel der 600.000 Gewaltopfer, die die zweite Lancet-Studie für diesen Zeitraum ermittelt hatte. Ansonsten ergab die WHO-Studie jedoch, so Roberts, eine ähnliche hohe Zunahme der Todesfälle allgemein. Offensichtlich liegt der Unterschied nur in der Einteilung der Todesfälle - für ihn sind jedoch alle, die ohne den Krieg noch leben könnten, Opfer.

Die Studie des britischen Institut Open Research Business wiederum, die die Zahl der bis Ende letzten Jahres getöteten Iraker auf ca. eine Million schätzt, stimmt, auf den selben Zeitraum bezogen, völlig mit der Lancet-Studie überein.

Besonders mitreisend war die irakisch-amerikanischen Ärztin Dahlia Wasfi, deren mit Bildern untermauerter Beitrag die katastrophalen Lebensbedingungen und die Verbrechen der Besatzer sehr eindrücklich beschrieb.

Beindruckend war auch die irakische Frauenrechtlerin Haifa Zangana, die in sehr ruhigem Ton die Auswirkungen der Besatzung auf die Situation der Frauen schilderte. Bei der Aufzählung der Arten von Gewalt, denen sich die Frauen nun ausgesetzt sehen, erwähnte sie selbstverständlich auch die Verfolgung von Frauen durch islamistische Milizen aufgrund "unislamischen" Verhaltens. An erster Stelle ihrer Liste stehen jedoch die Gewalttaten der Besatzungstruppen und ihrer irakischen Verbündeten selbst. Die größte Gefahr für alle Irakerinnen und Iraker seien Todesschüsse an Checkpoints und bei Razzien, Luftangriffe und Vergeltungsaktion nach Angriffen des Widerstands. Hinzu kommen willkürliche Gefangennahme und Misshandlungen, Folter und Mord. Die Schilderungen des US-amerikanischen Irakveteranen Clifton Hicks untermauerten dies eindrucksvoll.

Die irakischen Frauen riefen die Teilnehmer auf, sich entschieden für einen sofortigen Abzug der Besatzer einzusetzen. Sie sollten auf niemand hören, so Haifa Zangana, der ihnen einreden will, dass die Iraker sich dann gegenseitig umbringen würden. Wir sollten den USA nicht gestatten, die Fortsetzung der Besatzung nun ausgerechnet mit dem Chaos zu rechtfertigen, das sie selbst geschaffen haben. Wie es im Irak weiterginge, sei nicht mehr "the white mans burden" - die Last des weißen Mannes.

Pläne zum Aufbau eines stabilen und demokratischen Iraks wurden u.a. von Dr. Khair El-Din Haseeb vorgestellt, dem Schirmheer einer breiten nationalen Initiative zur Beendigung der Besatzung. Im Rahmen dieser Initiative haben über 100 Vertreter verschiedenster Organisationen und gesellschaftlicher Schichten sehr detaillierte Pläne ausgearbeitet, bis hin zu Entwürfen einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes.

Der US-amerikanische Politikveteran William R. Polk, US-Sicherheitsberater unter John F. Kennedy, schloss sich den Ausführungen "seines Freundes" Dr. Haseeb weitgehend an, konzentrierte sich jedoch darauf, wie man eine Änderung der US-Politik erreichen könne. Wichtig sei es, klar zu machen, dass auch 160.000 schwer bewaffnete ausländische Soldaten und 40.000 private Söldner nicht ausreichen, um das "Chaos zu stoppen" - aus dem einfachen Grund, dass die Mehrheit der Bevölkerung die geschaffene soziale Ordnung nicht akzeptiere. Es müsste den Iraker daher ermöglicht werden, ihre "eigene Gesellschaft wieder aufzubauen."

Polk plädiert dafür, neutrale "multinationaler Stabilisierungskräfte" aufzustellen - ausgewählt von den Irakern, aber bezahlt von den USA - die nach dem Rückzug der Besatzungstruppen solange für Sicherheit sorgen, bis wieder effektive nationale und lokale Polizeikräfte aufgebaut sind.

Das zentrale Argument, die amerikanische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit eines Kurswechsels zu überzeugen, seien die Kosten. Die von ihm skizzierten, bereits sorgfältig durchgerechneten Vorschläge würden zwar stolze 12 Mrd. Dollar kosten. Die USA würden dadurch jedoch gut 400 bis 500 Mrd. Dollar in den nächsten Jahren sparen, von den Zehntausenden vermeidbarer Todesopfer ganz zu schweigen.

Der Frage, inwiefern es sich bei der Präsenz der US-amerikanischen Truppen, völkerrechtlich noch um eine Besatzung handelt, ging der Völkerrechtsexperte Prof. Norman Paech nach. Formaljuristisch gesehen spricht vieles dagegen: eine UN-Resolution hat die Besatzung formal für beendet erklärt, eine neue Verfassung wurde verabschiedet und eine Regierung gewählt, die wiederum die "Multinationalen Streitkräfte" offiziell zum Bleiben aufforderte. Da die US-geführten ausländischen Truppen jedoch eindeutig die Kontrolle im Lande ausüben und die irakische Regierung gar nicht die Macht hätte, ihren Abzug zu fordern, dauere die Besatzung de facto an. Da der Krieg völkerrechtswidrig war, ist es auch die Besatzung. Sie ist, so Paech, durch die Illegalität des Krieges "quasi infiziert". Damit, so eine wichtige Folgerung daraus, ist auch die deutsche Unterstützung der Besatzungspolitik, u.a. durch die Bereitstellung deutschen Territoriums für Kriegführung und Nachschub, illegal.
 

Ausgabe

Rubrik

Initiativen
Joachim Guillard ist im Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg aktiv. Er ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher.